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1. Aufgaben und Rechtsstellung der Jugendgerichtshilfe

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Der Gesetzgeber weist der Jugendgerichtshilfe (JGH) „bei der Verwirklichung des Erziehungsgedankens im JGG eine Schlüsselrolle“ zu[46]. § 38 II S. 1, 2 JGG beschreibt die allgemeine Aufgabe der JGH folgendermaßen: „Die Vertreter der Jugendgerichtshilfe bringen die erzieherischen, sozialen und sonstigen im Hinblick auf die Ziele und Aufgaben der Jugendhilfe bedeutsamen Gesichtspunkte im Verfahren vor den Jugendgerichten zur Geltung.“ In diesem Zusammenhang „äußern (sie) sich zu einer möglichen besonderen Schutzbedürftigkeit sowie zu den Maßnahmen, die zu ergreifen sind“. Anknüpfend an diese allgemeine Aufgabenbeschreibung werden aber noch weitere, schärfer konturierte Anforderungen an die JGH gestellt:

Die JGH soll nach Maßgabe des § 38 II S. 2, III JGG das Gericht und auch die sonstigen Ermittlungsbehörden „durch Erforschung der Persönlichkeit, der Entwicklung und des familiären, sozialen und wirtschaftlichen Hintergrundes des Jugendlichen“ unterstützen. Über das Ergebnis der Nachforschungen ist „zeitnah“, möglichst noch vor der Entscheidung über eine Anklage zu berichten; eine Ausnahme hierzu gibt § 46a JGG (= Ermittlungshilfe).
Die JGH soll den Jugendlichen überwachen; dies gilt gem. § 38 V S. 1 – 2 JGG speziell für die Erfüllung der Auflagen und Weisungen (= Überwachungsfunktion).
Die JGH soll zugleich dem Jugendlichen helfen; gem. § 38 V S. 3 JGG werden im Zweifel Jugendgerichtshelfer als Betreuungshelfer (§ 10 I S. 3 Nr 5 JGG) eingesetzt; gem. § 38 V S. 4 – 5 JGG arbeitet die JGH mit der Bewährungshilfe zusammen und sie kümmert sich bei jugendlichen Häftlingen um Wiedereingliederungshilfe (= erzieherische Fürsorge und Betreuung).

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Eine demgegenüber ernüchternde Bestandsaufnahme der Funktionen der JGH in der Praxis gibt Hauber: „Was übrig bleibt von Jugendgerichtshilfe ist also eine Gutachtertätigkeit für Normalfälle (…), eine Sammlung und Weitergabe persönlicher Daten des Probanden und schließlich die Nachbetreuung, welche angesichts der hohen Fallzahlen der Praxis weitgehend vernachlässigt wird“[47]. Freilich blieben für diese Stellungnahme einige durch das 1. JGGÄndG von 1990 hinzutretende Dimensionen noch unberücksichtigt, nämlich die durch den Siegeszug des „formlosen Erziehungsverfahrens“ der §§ 45, 47 JGG (sog. Diversion; vgl Rn 172 ff) verstärkten Aufgaben und gestalterischen Möglichkeiten der JGH sowie die auf die JGH sich auswirkende Ergänzung des Weisungskataloges des § 10 I JGG (vgl dort Nr 5, 6 u. 7).

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Die Jugendgerichtshilfe wird gem. § 38 I JGG von den Jugendämtern im Zusammenwirken mit den Vereinigungen für Jugendhilfe ausgeübt. Das Jugendamt kann die JGH auf freie Vereinigungen der Jugendhilfe übertragen, behält aber die Verantwortung für sachgemäße Erledigung (vgl §§ 52, 76 SGB VIII). Im Vergleich mit der Erwachsenen-Gerichtshilfe, die ihre Tätigkeit ganz nach Weisung und Belieben der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts gestaltet (vgl dazu § 160 III S. 2 und § 463d StPO), hat die JGH eine starke Stellung[48]. Dies ist im Rahmen eines erziehungsorientierten Täterstrafrechts mit seinen besonderen Anforderungen an die Persönlichkeitserforschung (vgl § 43 JGG) auch nahe liegend.

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Stark ausgeprägt sind die Informations- und Beteiligungsrechte der JGH gegenüber der Justiz. Da zum Zwecke der Betreuung des Jugendlichen und zur Verfahrensbeschleunigung die Heranziehung der JGH bereits in einem frühen Stadium des Verfahrens empfehlenswert erscheint, gibt § 38 VI S. 1 JGG vor, dass diese Heranziehung nicht etwa im Belieben von Staatsanwaltschaft oder Gericht liegt: „Im gesamten Verfahren gegen einen Jugendlichen ist die Jugendgerichtshilfe heranzuziehen. Dies soll so früh wie möglich geschehen[49]. § 70 II S. 1 JGG verpflichtet zur Unterrichtung der JGH „spätestens zum Zeitpunkt der Ladung des Jugendlichen zu seiner ersten Vernehmung als Beschuldigter“. Bei einer ersten Beschuldigtenvernehmung ohne Ladung ist die JGH gem. § 70 II S. 2 JGG unverzüglich nach der Vernehmung zu unterrichten. Gem. § 38 VI S. 2 JGG sind vor der Erteilung von Weisungen (§ 10 JGG) die Vertreter der Jugendgerichtshilfe stets zu hören. Gem. § 50 III JGG sind dem Vertreter der JGH Ort und Zeit der Hauptverhandlung mitzuteilen, und ihm ist auf Verlangen das Wort zu erteilen.

Wird die JGH nicht herangezogen, liegt bereits darin ein Verfahrensverstoß, auf dem regelmäßig das Urteil iSv § 337 StPO beruht, da ohne die Mitwirkung der JGH nicht gesichert erscheint, dass ein vollständiges Bild von der Persönlichkeit des Täters, seiner Entwicklung und seiner Umwelt entsteht; dieses ist jedenfalls für die Sanktionsentscheidung von grundlegender Bedeutung[50]. Zumeist wird zugleich die Aufklärungspflicht iSv § 244 II StPO, § 43 JGG verletzt sein[51].

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Allerdings bestand nach herkömmlicher hM grundsätzlich keine Pflicht der JGH zur Teilnahme an der Hauptverhandlung; eine solche wurde weder aus § 38 JGG noch aus § 50 III JGG abgeleitet[52]. Immerhin dann, wenn eine Entscheidung ohne JGH-Beteiligung gegen § 244 II StPO verstoßen würde, sah eine Mindermeinung die JGH nach vorliegender Aufforderung durch den Jugendrichter verpflichtet, an der Hauptverhandlung teilzunehmen[53]. Durch das „Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren“ vom Dezember 2019 wurde diese recht problematische Unsicherheit nun geklärt. § 38 IV S. 1 JGG gibt eine Teilnahmepflicht der JGH vor: „Ein Vertreter der Jugendgerichtshilfe nimmt an der Hauptverhandlung teil“. Erscheint kein Vertreter der rechtzeitig herangezogenen JGH in der Hauptverhandlung, kann das Gericht gem. § 38 IV S. 3 JGG dem Jugendamt auferlegen, die dadurch entstehenden Kosten zu ersetzen. Allerdings kann das Gericht gem. § 38 VII S. 1 JGG von vorneherein die Teilnahmepflicht suspendieren, „soweit dies auf Grund der Umstände des Falles gerechtfertigt und mit dem Wohl des Jugendlichen vereinbar ist“. Das Gesetz verweist hierbei insbesondere auf Fälle von zu erwartender „Diversion“, dh wenn das Verfahren ohne Anklageerhebung abgeschlossen werden dürfte (§ 38 VII S. 3 JGG). In diesen Fällen der Nichtteilnahme kann ein schriftlicher Bericht der JGH in der Hauptverhandlung verlesen werden (§ 50 III S. 3 JGG).

Zum Rechtsfehler des Tatrichters ist das Durchführen des Verfahrens trotz Nicht-Teilnahme der JGH schon bisher geworden, wenn § 244 II StPO verletzt wurde. Wenn also erkennbar war, dass die JGH eigentlich Gründe gehabt hätte, an der Hauptverhandlung teilzunehmen, um entscheidungserhebliche Befunde vorzutragen, liegt ein Revisionsgrund iSv § 337 StPO vor[54].

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Erstaunlich ist, in welch großem Umfang die JGH in der Praxis letztlich auf eine Beteiligung an Jugendverfahren verzichtet hat[55]. Eine ältere Untersuchung wies nach, dass in rund 20 % der Verfahren gegen Jugendliche weder ein schriftlicher Bericht noch eine Teilnahme der JGH in der Hauptverhandlung vorlag[56]. Eine umfangreichere Aktenanalyse zu klassischer Massendelinquenz hat ergeben, dass eine erkennbare JGH-Teilnahme gar in 51,1 % der Fälle fehlte[57]. Maßgeblich für dieses Beteiligungsdefizit sind die begrenzten Ressourcen der JGH, die zu einer Beschränkung auf Fälle zwingt, bei denen die JGH Wirknotwendigkeit und -möglichkeiten sieht[58]. Die neue Rechtslage mit der grundsätzlichen Teilnahmepflicht der JGH setzt einen nicht unerheblichen Zuwachs an personellen Ressourcen bei den Jugendämtern voraus[59].

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Das Ergebnis ihrer Erhebungen fasst die JGH regelmäßig in einem schriftlichen Ermittlungsbericht zusammen[60]. Im Urteil verwertet werden darf aber gem. § 261 StPO nur das, was Gegenstand der Verhandlung war; dies geschieht durch Vorhalt, durch Vernehmung des JGH-Vertreters als Zeuge oder durch sonstige Beweiserhebungen nach den Regeln der StPO[61]. Der Jugendgerichtshelfer hat kein Zeugnisverweigerungsrecht (etwa gem. § 53 StPO). Denn die JGH unterstützt gem. § 38 II S. 2 JGG die beteiligten Behörden bei deren Entscheidungsfindung. Diese Funktion ist als vorrangig anzusehen und schließt es aus, mit dem Beschuldigten zu paktieren und in diesem Sinne das Gericht durch Vorenthalten von wesentlichen Informationen zu manipulieren. Allerdings findet die Aussagepflicht eine Grenze im Sozialdatenschutz des SGB VIII, soweit es um Daten aus der Jugendhilfefunktion des Jugendamtes geht[62]. Überdies besteht ein Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der seitens des Beschuldigten gegenüber dem Jugendgerichtshelfer getätigten Aussagen, wenn dieser den Probanden vor dessen Einlassungen nicht darüber belehrt hatte, dass er als Jugendgerichtshelfer kein Zeugnisverweigerungsrecht besitzt[63]. Die Befragung von Auskunftspersonen durch den Jugendgerichtshelfer ist als „Vernehmung“ iSv § 250 StPO anzusehen, weshalb bei einer (möglichen) späteren Zeugnisverweigerung von Angehörigen deren Angaben auch nicht durch den Bericht der JGH in die Hauptverhandlung eingebracht und verwertet werden dürfen[64]. Eine Verweigerung der gem. § 54 I StPO erforderlichen Aussagegenehmigung durch den Dienstvorgesetzten des Jugendgerichtshelfers dürfte bereits angesicht der gesetzlich definierten Aufgaben der JGH kaum jemals vertretbar erscheinen; überdies spricht dagegen, dass der Schutzzweck des § 54 StPO auf Kollektivinteressen ausgerichtet ist, nicht aber auf Individualinteressen etwa eines Bewährungshilfe-Probanden[65].

Die Regelungen des § 38 JGG gelten gem. § 107 JGG auch für Heranwachsende[66].

Jugendstrafrecht

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