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c) Einzelfragen der Reifebeurteilung in der Praxis

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Der BGH hat ua folgende Konstellationen für die Bejahung von § 105 I Nr 1 JGG für erheblich gehalten: – Der Angeklagte hatte „früh das Elternhaus verlassen, ein aussteigerähnliches Leben geführt und sehr bald mit dem Drogenkonsum begonnen“[31]. – Der Angeklagte befand sich „nach seiner Einreise nach Deutschland in einer Situation weitgehender sozialer Entwurzelung“[32]. – Versagen im schulischen, beruflichen und sozialen Bereich mit nachfolgend angepasstem und zukunftsorientiertem Verhalten im Strafvollzug als Zeichen einer noch bestehenden Formbarkeit des in Krisensituationen jedoch labilen, nämlich nach der Entlassung wieder in Kriminalität abgeglittenen, Heranwachsenden[33].

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In Fällen, in denen der Heranwachsende noch einem Jugendlichen gleichsteht, gleichwohl aber seine Persönlichkeitsentwicklung bereits abgeschlossen ist, bejaht die Rechtsprechung die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht[34]. Voraussetzung für diese Verneinung von § 105 I Nr 1 JGG ist die Prognose, dass der Heranwachsende über die bereits erreichte Entwicklungsstufe nicht hinaus gelangen werde, was das „noch“ im Gesetzestext aber für die Anwendung von Jugendstrafrecht voraussetze[35]. Es seien die Rechtsfolgen des Jugendstrafrechts auf den unfertigen, noch formbaren Menschen zugeschnitten. In diesem Sinne hatte der BGH bei einem Heranwachsenden, der wegen leichten Schwachsinns und Willensschwäche die erreichte Entwicklungsstufe laut Sachverständigengutachten nicht überschreiten werde, Erwachsenenstrafrecht angewendet[36]. In einer neueren Entscheidung[37] bestätigt der BGH diese Linie:

Fall 2:

Ein schon als Jugendlicher vielfach auffällig gewordener Heranwachsender tötete einen ihm völlig unbekannten Passanten mit mehreren Messerstichen. Der Täter wollte sich nach einem Streit mit dem Vater seiner damaligen Freundin abreagieren und irgendein Menschenleben vernichten. – Zur Frage der Anwendung von Jugendstrafrecht führte der BGH aus:

„Ergibt die Diagnose, dass die Entwicklung des Täters in der Kindheit früh gehemmt worden ist und bereits schwere Schäden, etwa in Form frühkindlicher Deprivationssyndrome vorliegen, kann dies im Ausnahmefall zu schweren Persönlichkeitsstörungen mit erheblich eingeschränkter Ich-Kontrolle führen (…). In diesen Fällen kann das Vorliegen unbehebbarer Entwicklungsrückstände – dem Fall des Schwachsinns nicht unähnlich – erwogen werden“, was zur Anwendung von Erwachsenenstrafrecht führen würde[38].

In der Literatur erheben sich gegen diese Rechtsprechung berechtigte Bedenken. Zum einen ist die Prognose eines Ausbleibens weiterer Persönlichkeitsentwicklung kaum in hinreichend sicherer Form zu treffen[39]. Zum anderen belegt die Tatzeitorientierung des § 105 I Nr 1 JGG, dass es bei dieser Entscheidung auch um die Berücksichtigung einer infolge Unreife gemilderten Schuld geht[40]; freilich zeigt die Rechtsprechung in Fällen einer Psychopathie bzw dissozialen (antisozialen) Persönlichkeitsstörung seit jeher wenig Neigung, diese – etwa im Rahmen von § 21 StGB – strafmildernd zu berücksichtigen[41].

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Lässt sich, was insbesondere bei einem großen Zeitabstand zwischen Tat und Aburteilung der Fall sein wird, nicht sicher feststellen, ob der Heranwachsende einem Jugendlichen gleichzustellen ist, so kann aus dem Gesetz selbst keine Präferenz für Jugendstrafrecht oder Allgemeines Strafrecht entnommen werden. Die Anwendung von Jugendrecht stellt nach der Regelung des § 105 I JGG also nicht etwa die Ausnahme und dementsprechend die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht auch nicht die Regel dar[42]. Der BGH will in Zweifelsfällen, wenn der Tatrichter also auch nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten keine eindeutige Zuordnung vorzunehmen vermag, grundsätzlich Jugendstrafrecht anwenden. Dabei wird durchaus eingeräumt, dass die jugendrechtlichen Sanktionen nicht durchweg milder ausfallen als die allgemeinstrafrechtlichen. Begründet wird diese Entscheidung zu Gunsten des Jugendstrafrechts damit, dass im Zweifel die nicht auszuschließenden besonderen Erziehungsbedürfnisse besser durch das erzieherisch ausgerichtete Jugendstrafrecht erfüllt werden könnten[43]. Zu demselben Ergebnis gelangt Ostendorf, dies allerdings unter herkömmlicher Abstützung auf den Zweifelsgrundsatz (in dubio pro reo). Er stellt auf den generellen Belastungsunterschied zwischen Jugend- und Erwachsenenstrafrecht ab, nämlich auf die im JGG zurückgedrängten Dimensionen der Schuldvergeltung und der Generalprävention sowie auf die registerrechtliche Besserstellung nach JGG; unter dem Aspekt der „Interesseneinbuße“ ergebe das stärker auf die individuellen Interessen des Angeklagten abstellende Jugendstrafrecht daher regelmäßig die weniger belastende Sanktion[44].

In der Literatur wird überwiegend befürwortet, die nach Allgemeinem Strafrecht und nach Jugendstrafrecht konkret zu verhängenden Sanktionen zu vergleichen und dann die im gegebenen Fall leichtere bzw weniger belastende Rechtsfolge – also entweder nach Jugendstrafrecht oder nach Allgemeinem Strafrecht – zu verhängen[45]. Überzeugend erscheint es, diese Position mit der Linie des BGH in der Weise zu verbinden, dass die in Zweifelsfällen immer vorzuziehende jugendstrafrechtliche Sanktionierung nicht schwerer ausfallen darf, als die Belastung bei hypothetischer Anwendung von Erwachsenenstrafrecht im gegebenen Fall wäre[46].

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Ungeklärt ist, ob es eine „partielle Reifeverzögerung“ gibt – analog zur partiellen Strafmündigkeit bei § 3 JGG. Etwa könnte man daran denken, dass ein Reifungsdefizit nur in der Sexualsphäre vorliegt, mit der Folge einer Anwendung von Jugendstrafrecht nur für Sexualdelikte des betreffenden Täters[47]. Diese Frage blieb deshalb weitgehend unbeachtet, weil die Möglichkeit des Vorgehens gem. § 105 I Nr 2 JGG solche Persönlichkeitszergliederungen als wenig weiterführend erscheinen lässt[48].

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