Читать книгу Jugendstrafrecht - Franz Streng - Страница 45

b) Die „Marburger Richtlinien“ als Antwort auf Erkenntnisprobleme

Оглавление

76

Die vom Gesetz verlangte „Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters“ stellt den Jugendrichter und ggf auch den forensischen Psychogutachter vor große Probleme. Es ist unübersehbar, dass hier ein Einfallstor für unterschiedliche Wertungen und Anschauungen der Gutachter und Richter liegt, was ungleiche Rechtsanwendung begünstigt. Deshalb wurden bereits im Jahre 1954 auf Veranlassung der DVJJ von Jugendpsychiatern und -psychologen sowie Jugendrechtlern die sog. „Marburger Richtlinien“ vorgelegt[22], die teils auch heute noch als grundsätzlich aussagekräftig anerkannt sind[23].

Die Marburger Richtlinien: Es wird „ein Heranwachsender einem Jugendlichen oft in seiner sittlichen und geistigen Entwicklung dann gleichzustellen sein, wenn seine Persönlichkeit insbesondere folgende Züge vermissen lässt:

eine gewisse Lebensplanung,
Fähigkeit zu selbstständigem Urteilen und Entscheiden,
Fähigkeit zu zeitlich überschauendem Denken,
Fähigkeit, Gefühlsurteile rational zu unterbauen,
ernsthafte Einstellung zur Arbeit,
gewisse Eigenständigkeit zu anderen Menschen usw.

Charakteristische jugendtümliche Züge können ua sein:

ungenügende Ausformung der Persönlichkeit,
Hilflosigkeit (die sich nicht selten hinter Trotz und Arroganz versteckt),
naiv-vertrauensseliges Verhalten,
Leben dem Augenblick,
starke Anlehnungsbedürftigkeit,
spielerische Einstellung zur Arbeit,
Neigung zum Tagträumen,
Hang zu abenteuerlichem Handeln,
Hineinleben in selbstwerterhöhende Rollen,
mangelhafter Anschluss an Altersgenossen usw.

Zur Sicherung des diagnostischen Ergebnisses ist zusätzlich die Überlegung anzuraten, ob der Heranwachsende noch mit den Maßnahmen des Jugendgerichtsgesetzes, die auf die Formbarkeit des Jugendlichen abgestellt sind, zu fördern ist oder nicht“[24]. – Diese abschließende Überlegung, zum Zwecke der Absicherung auch darauf zu achten, „welche Rechtsordnung die für diesen Täter am besten geeignete Maßnahme enthält“[25], erscheint pragmatisch sinnvoll, kann jedoch nur als Kontroll- und nicht als eigentliches Entscheidungskriterium dienen, da sie von der gesetzlich vorgeschriebenen Tatzeitorientierung wegführt[26].

77

Eine neuere empirische Überprüfung[27] hat mittels Abgleich anhand eines unter Psychologen akzeptierten „Konzepts der Entwicklungsaufgaben“ belegt, dass die teils antiquiert anmutenden Kriterien der „Marburger Richtlinien“ mit dem moderneren Ansatz gut zur Deckung zu bringen sind. In dieser Studie von Esser, Fritz und Schmidt wurden folgende Reifekriterien zugrundegelegt:

realistische Lebensplanung,
Eigenständigkeit gegenüber den Eltern,
Eigenständigkeit gegenüber Peers und Partner,
ernsthafte (vs. spielerische) Einstellung gegenüber Arbeit und Schule,
äußerer Eindruck,
realistische Alltagsbewältigung,
gleichaltrige oder ältere (vs. überwiegend junge) Freunde,
Bindungsfähigkeit,
Integration von Eros und Sexus,
konsistente berechenbare Stimmungslage.

Es zeigte sich im Übrigen, dass geistige und sittliche Entwicklung nur recht schwach korrelieren und dass beste Prädiktoren für (psychologisch beurteilte) mangelnde Reife etwaige psychische Störungen (im Alter von 13 Jahren) und chronische Belastungen im Jugendalter (13- bis 18-Jährige) sind[28].

Der neueste Ansatz, die Bonner Delphi-Studie, bezog ihre Befunde aus Experteninterviews[29]. Auf diesem Wege wurden zehn Skalen gebildet, die für die Abgrenzung im Rahmen einer Reifebegutachtung als tauglich erscheinen[30]:

Soziale Autonomie und Autonomie in der Lebensführung,
Beziehungen und Partnerschaft,
Qualifikation und Ziele,
Werte und Normen,
Emotionalität und Impulsivität,
Problem- und Konfliktmanagement,
Kommunikation und Reflexivität,
Familiäre und soziale Umweltbedingungen (einschl. Normorientierung dort),
Umstände der Tat,
Beweggründe der Tat.
Jugendstrafrecht

Подняться наверх