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II. Folgen fehlender Strafmündigkeit

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Wenn eine fehlende Strafmündigkeit bereits im Ermittlungsverfahren offenbar wird, ist dieses gem. § 170 II StPO einzustellen; nach erfolgter Anklage wird das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen fehlender Strafmündigkeit gem. §§ 203 f StPO ablehnen. Eine auf Grund einer Hauptverhandlung erfolgende Exkulpierung wegen fehlender Reife des Jugendlichen mit der Folge sanktionslosen Freispruchs gilt als erzieherisch durchaus problematisch; man befürchtet, dass dadurch die notwendige Entwicklung von Verantwortungsgefühl beim jungen Täter behindert wird[29]. Deshalb ermöglicht § 3 S. 2 JGG dem Jugendrichter, dieselben Maßnahmen anzuordnen wie das Familiengericht und – statt Freispruch – auf die weniger plakative Einstellung gem. § 47 I S. 1 Nr 4 JGG auszuweichen[30]. Wenn mangels Reife gem. § 47 I S. 1 Nr 4 das Verfahren durch den Richter eingestellt wird, empfiehlt man teils, die Anordnung der gem. § 3 S. 2 JGG zulässigen Maßnahmen dem Familiengericht zu überlassen, um stigmatisierende Wirkungen von im Strafverfahren verhängten Maßnahmen zu vermeiden[31]. Freilich spricht gegen diese Lösung der dann eintretende weitere Zeitverzug, der erzieherisch durchaus fragwürdig wäre.

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Als gemäß § 3 S. 2 JGG zulässige familiengerichtliche Maßnahmen kommen insbesondere in Betracht:

§§ 1666, 1666a BGB: Entziehung des Personensorgerechts bzw des Aufenthaltsbestimmungsrechts.
§ 1909 BGB: Bestellung eines Pflegers, der für die Unterbringung in einer geeigneten Familie oder in einem Heim sorgt; in der Folge tritt gem. § 1915 iVm §§ 1837 ff BGB Aufsicht über den Pfleger durch das Familiengericht ein.

Umstritten ist, ob der Jugendrichter Maßnahmen des KJHG (SGB VIII) anwenden kann. Dafür spricht, dass auch das Familiengericht gem. § 1666 BGB auf die §§ 27 ff SGB VIII zugreifen kann, weshalb die Nutzung dieser Maßnahmen durch § 3 S. 2 JGG legitimiert erscheint[32]. Allerdings wird in der Literatur durchaus nicht ohne Grundlage auch die Gegenmeinung vertreten. Denn in § 34 III JGG werden die familiengerichtlichen Erziehungsaufgaben für den Bereich des Jugendstrafrechts näher definiert und hierbei die in der früheren Fassung des § 34 III in Nr 3 enthaltenen Maßnahmen der Erziehungsbeistandschaft und der Heimerziehung nicht mehr erwähnt[33]. Allerdings ist dies – zweifellos ernst zu nehmende – Argument deshalb nicht zwingend, weil § 34 III Nr 2 JGG nach wie vor die §§ 1666, 1666a BGB erwähnt und diese den Zugriff auf die Maßnahmen des SGB VIII mittelbar legitimieren. Bejaht man demnach die Anwendbarkeit der §§ 27 ff SGB VIII, dann stehen folgende Maßnahmen – im Rahmen der Angebotsorientierung des SGB VIII – zur Verfügung:

§§ 27, 30 SGB VIII: Anordnung von Erziehungsbeistandschaft (Bestellung des Beistandes durch das Jugendamt!).
§§ 27, 34, SGB VIII: Heimerziehung.
§§ 27, 31, 32, 33 SGB VIII: Familienhilfe, Erziehung in Tagesgruppe oder Vollzeitpflege.

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Nicht mehr aktuell ist die früher gelegentlich vertretene Ansicht, es handele sich bei § 3 S. 2 JGG um eine bloße Rechtsfolgenverweisung, es müssten also die Voraussetzungen für das Verhängen dieser Maßnahmen, wie sie im BGB oder im SGB VIII niedergelegt sind, nicht erfüllt sein[34]. Denn eine derartige Betrachtung würde bedeuten, eigentlich gar nicht notwendige Jugendhilfemaßnahmen als verkappte Strafmaßnahmen zu missbrauchen. Richtigerweise handelt es sich also bei § 3 S. 2 JGG um eine Rechtsgrundverweisung; es regelt diese Norm eine Erweiterung der Zuständigkeiten, nicht aber der sachlich-rechtlichen Befugnisse des Gerichts[35].

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Nicht selten wird unter erzieherischem Aspekt nahegelegt, § 3 S. 1 JGG vorsichtig anzuwenden, dh mit Exkulpierungen zurückhaltend zu sein. Dies erscheint im Grundsatz soweit als unproblematisch, wie das JGG mit den Erziehungsmaßregeln Maßnahmen zur Verfügung stellt, mit denen den besonderen Erziehungsbedürfnissen Rechnung getragen werden kann. Zudem ist der Schuldkonnex bei Erziehungsmaßregeln abgeschwächt, denn diese werden gem. § 5 I JGG nur „aus Anlass“ der rechtswidrigen Tat eines Jugendlichen verhängt[36]. Freilich steht das geltende Recht mit seiner alle Sanktionsformen erfassenden Regelung des § 3 S. 1 JGG einer solchen differenzierenden Leitlinie entgegen. Gerade die durch § 3 S. 2 JGG separat eröffneten Erziehungsmöglichkeiten verdeutlichen das Ernstnehmen des Schuldprinzips auch in diesem Sanktionsbereich. Denn der Gesetzgeber hat hier etwaigen erzieherischen Gefahren eines ansonsten aus fehlender Strafmündigkeit folgenden Reaktionsverzichts entgegenwirken wollen[37]. Von dem gesetzessystematischen Argument abgesehen, ist eine zurückhaltende Anwendung von Exkulpierungen wegen möglichen Verstoßes gegen das Schuldprinzip, also unter Rechtsstaatsgesichtspunkten, problematisch. Unstreitig kann eine zurückhaltende Exkulpierung dann nicht praktiziert werden, wenn es im Ergebnis um Zuchtmittel oder Jugendstrafe geht. Hier ist der Zweifelsgrundsatz (in dubio pro reo) ohne Abstriche anzuwenden und bei nicht eindeutig sicherbarer Strafmündigkeitsreife von Ahndung abzusehen; dies gilt nicht zuletzt dann, wenn eine aufwändige Begutachtung angesichts eines wenig schwerwiegenden Delikts unverhältnismäßig wäre[38].

Teil II Der Geltungsbereich des JGG§ 4 Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Jugendlichen › III. Das Verhältnis des § 3 JGG zu §§ 20, 21 StGB

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