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1. Grundlagen und Anwendungsstruktur

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Hinsichtlich der Rechtsfolgen ist gem. § 105 I JGG zu entscheiden, ob Allgemeines Strafrecht oder Jugendstrafrecht gilt. Eine Verständigung hierüber im Wege der Verfahrensabsprache ist unzulässig[2]. Wird Allgemeines Strafrecht angewendet, dann gibt § 106 I JGG Möglichkeiten der Strafmilderung. Statt lebenslanger Freiheitsstrafe kann gem. § 106 I JGG auf eine Freiheitsstrafe von 10 bis zu 15 Jahren erkannt werden. Diese Möglichkeit zur Strafrahmenverschiebung will der BGH aber dann nicht einräumen, wenn lebenslange Freiheitsstrafe aus anderen Gründen, zB infolge einer Anwendung von § 49 I StGB, ohnehin nicht verhängt werden kann[3]; auch wenn hier nachvollziehbarer Weise die weitergehende Strafmilderung die weniger weit reichende verdrängt, bleibt die in § 106 I JGG verkörperte generelle Strafmilderungsgrundlage zugunsten junger Täter für die konkrete Strafzumessung beachtlich[4]. Der Richter kann gem. § 106 II JGG anordnen, dass der Verlust der Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden und Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen (§ 45 I StGB) nicht eintritt. Der Richter darf gem. § 106 III S. 1 JGG keine Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB anordnen, freilich sind vorbehaltene und nachträgliche Sicherungsverwahrung möglich (§ 106 III S. 2 – VI JGG; näher unten Rn 564 ff, Rn 571 f).

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Wird Jugendstrafrecht angewendet, dann sind Zuchtmittel und Jugendstrafe wie gegen Jugendliche verhängbar. Von den Erziehungsmaßregeln sind gem. § 105 I S. 1 iVm § 9 Nr 1 JGG aber nur die Weisungen verfügbar. Da Heranwachsende volljährig sind (§ 2 BGB), entfallen Erziehungsbeistandschaft (§ 30 SGB VIII) und Heimerziehung (§ 34 SGB VIII) als Sanktionen; diese sind nur für Minderjährige zulässig, nämlich für „Kinder“ und „Jugendliche“ (vgl auch § 7 Nr 1, 2 SGB VIII). Durch § 105 III JGG wird die für Jugendliche nach Deliktsschwere gespaltene Strafrahmenregelung des § 18 I S. 1, 2 JGG geändert, nämlich für Taten Heranwachsender ein einheitlicher Strafrahmen von sechs Monaten bis 10 Jahren Jugendstrafe vorgegeben. Neuerdings gibt § 105 III S. 2 JGG eine erhöhte Obergrenze von 15 Jahren speziell für besonders schwere Fälle des Mordes. Bezüglich der nutzbaren Nebenfolgen und Maßregeln der Besserung und Sicherung gelten die §§ 6, 7 JGG genauso wie bei der Aburteilung von Jugendlichen. Und Entsprechendes gilt für die durch § 8 JGG eröffnete Möglichkeit zur Verbindung von Maßnahmen und Jugendstrafe.

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Die Entscheidung gem. § 105 I JGG über die Anwendung von Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht ist nicht nur für den angeklagten Heranwachsenden von – im wahrsten Sinne des Wortes – spürbarer Bedeutung. Für den Jugendrichter sind diese Entscheidungen wegen der hohen Kriminalitätsbelastung der Heranwachsenden quantitativ bedeutsam; in deutlich mehr als der Hälfte aller von den Jugendgerichten abzuurteilenden Fälle handelt es sich um Heranwachsende[5] und folglich um potenzielle „105er Entscheidungen“.

Bei den 71 954 abgeurteilten Heranwachsenden wurde im Jahr 2017 in 26 704 Fällen (37,1 %) nach Allgemeinem Strafrecht und in 45 250 Fällen, dh 62,9 % nach Jugendstrafrecht verfahren; es dominiert folglich die Anwendung jugendstrafrechtlicher Rechtsfolgen. Über die Jahre hat sich eine erhebliche Zunahme der Anwendung von Jugendstrafrecht ergeben; etwa lag Mitte der 50er-Jahre die Jugendstrafrechts-Quote noch bei etwa 20 %[6]. Beim Blick auf die derzeitige Lage fallen zunächst deutliche regionale Unterschiede auf[7]. Differenziert man nach Deliktsarten, dann ergeben sich – berechnet für das Jahr 2017 – markante Unterschiede: Bei Verkehrsstraftaten wählten die Richter zur Hälfte Erwachsenenstrafrecht, nämlich in 50,6 %, hingegen geschah dies bei Straftaten nach dem StGB ohne Verkehrsstraftaten nur in 35,2 % der Fälle. Noch deutlicher wird die Deliktsspezifität der Anwendung von § 105 I JGG etwa bei Sexualdelikten mit Anwendung von Allgemeinem Strafrecht in 29,6 %, bei den Kapitaldelikten Mord und Totschlag in nur 35,1 % und bei Raubdelikten in sogar nur 12,5 % der Fälle[8]. Es stellt sich folglich die Frage, wie es dazu kommt, dass die Jugendrichter bei Verfehlungen von Heranwachsenden in deliktsspezifisch unterschiedlicher Manier entscheiden, nämlich umso mehr zur Anwendung von Jugendstrafrecht tendieren, je mehr es um klassische und schwere Kriminalität geht. Gut begründet beantworten lässt sich das freilich erst nach einer näheren Betrachtung des Regelungsgehalts von § 105 I JGG.

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