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V. Reformansätze

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Die wiederholt geforderte Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters auf 12 Jahre[49] wäre ein Rückschritt. Zum einen spricht nichts dafür, dass eine so frühe strafrechtliche Verantwortlichkeit sich entwicklungspsychologisch überhaupt annehmen lässt[50]. Der strafrechtliche Zugriff setzt grundsätzlich eine Fähigkeit zur Selbstverantwortung voraus, die wir aber mit unserem Erziehungsanspruch gerade gegenüber Kindern leugnen. Die Behauptung, Kinder seien heutzutage früher reif und daher früher als verantwortlich anzusehen, steht auf gänzlich ungesichertem Grund. Es lässt sich vielmehr belegen, dass es sich bei den derzeit beobachtbaren Phänomenen einer früheren äußeren Selbstständigkeit gegenüber Erziehungspersonen um gesellschaftlich bedingte Entwicklungen iS vorzeitigen Verlusts von sozialen Schutzverhältnissen handelt, die eher eine größere Abhängigkeit – etwa von peer groups – und daher stärkere Entwicklungsgefährdung signalisieren als größere Handlungsautonomie und Verantwortungsfähigkeit[51]. Angesichts der bei unter 14-Jährigen weitgehend zweifelhaften Verantwortungsreife müssten für die Klärung der Strafmündigkeit vielfach Reifegutachten eingeholt werden, was zu problematischen Verzögerungen der Verfahren führen würde[52]. Zudem lässt sich nicht behaupten, dass das Strafverfahren und die strafrechtlichen Reaktionsmöglichkeiten dem Entwicklungsstand der 12- und 13-Jährigen in besonderer Weise gerecht werden könnten; dies ist das originäre Gebiet der Jugendhilfe[53]. – Da Deutschland im internationalen Vergleich mit seiner Strafmündigkeitsgrenze im mittleren Bereich liegt, lässt auch der Blick über die Grenzen keinen Reformbedarf erkennen[54]. Ganz in diesem Sinne ist der Vorschlag einer Absenkung der Strafmündigkeitsschwelle bislang ganz überwiegend auf Ablehnung gestoßen[55].

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Realistischer erscheint der die Altersgrenzen unangetastet lassende Vorschlag, die in der Praxis ohnehin vernachlässigte Verpflichtung zu positiver Begründung der Strafreife für bestimmte Fallgruppen zu eliminieren und an die Regelung der §§ 20, 21 StGB anzupassen; dieser zufolge ist über ein Fehlen der Schuldfähigkeit nur dann zu entscheiden, wenn für Schuldfähigkeitsdefizite Anhaltspunkte erkennbar sind[56]. Dies erschiene auf jeden Fall für die nur „aus Anlass“ einer Tat verhängten Erziehungsmaßregeln mit ihrem also begrenzten Schuldbezug unproblematisch. Solange Sanktionen rein erzieherisch angewandt werden, widerspricht es nicht dem Schuldgrundsatz, bei Fehlen von psychischen Auffälligkeiten auf eine aufwändige Klärung der Strafmündigkeit zu verzichten[57]. Eine positive Begründung der Strafreife mag man dann auf Fälle der Verhängung einer eindeutig ahndenden/strafenden Sanktion beschränken, insbesondere auf Jugendstrafe und Jugendarrest.

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Reformvorschläge, die Strafmündigkeitsschwelle anzuheben, nämlich auf 16 Jahre[58], kollidieren unübersehbar mit der auf 18 Jahre herabgesetzten Volljährigkeit und können derzeit auch in der Öffentlichkeit kaum mit Akzeptanz rechnen[59]. Auch bei fachlicher Betrachtung ergeben sich Einwände: Zum einen ist eine zu starke Belastung der Jugendhilfeeinrichtungen mit vielfach gar nicht hilfsbedürftigen Straftätern zu befürchten, die per Jugendhilfe quasi „abgestraft“ werden. Zum anderen stellt sich die Frage, ob nicht doch eine strafjuristische Abwicklung von Fehlverhalten für den Täter vielfach günstiger ist als eine die Ereignisse nur zu leicht überbewertende Pädagogisierung der Reaktionen[60]. Ganz zentral gegen eine Heraufsetzung der Strafmündigkeit spricht schließlich der erzieherisch höchst unerwünschte Effekt einer plakativen Zurücknahme gesellschaftlicher Verantwortlichkeitserwartungen gegenüber jungen Menschen[61]. Denn 14- und 15-Jährige haben die Verantwortlichkeitserwartungen ihrer Umwelt schon sehr weitgehend verinnerlicht, sodass die Zurücknahme des Strafrechts ihnen weniger als angemessener Schonraum, sondern vielmehr als irritierende Re-Infantilisierung und teilweise auch als einkalkulierbarer Freiraum für Abenteuer auf Kosten anderer erscheinen muss. Dass eine Anhebung des Strafmündigkeitsalters zudem eine Einladung an skrupellose Erwachsene beinhaltet, noch nicht strafmündige Jugendliche vermehrt zur Begehung von Straftaten zu missbrauchen, sei nur am Rande erwähnt[62].

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Als Zwischenlösung könnte erwogen werden, eine eigenständige „Bestrafungsmündigkeit“ zu schaffen, derzufolge die Anwendbarkeit speziell von Jugendstrafe erst ab 16 Jahren möglich wäre[63]. Dem steht aber schon entgegen, dass es mit Gerechtigkeitserwägungen und auch Präventionsanliegen unvereinbar wäre, einen 15-jährigen Mörder oder Vergewaltiger letztlich ganz inadäquat – nämlich höchstens mit Jugendarrest – zu bestrafen, den Bagatelltäter aber strafrechtlich ganz normal zu belangen[64]. Zudem würde dieses Modell in der Durchführung unlösbare Probleme aufwerfen, da es sich bei dem ernst zu nehmenden Anliegen, die 14- und 15-Jährigen aus dem Strafvollzug herauszuhalten, um eine Frage der Vollzugstauglichkeit handelt, nicht aber um eine an das Tatalter anknüpfbare Dimension. Das Abstellen auf den Tatzeitpunkt würde etwa dazu führen, dass ein 15-jähriger Mörder, der als 17-Jähriger abgeurteilt wird, mit dem Argument der Vollzugsuntauglichkeit von unter 16-Jährigen straffrei ausginge. Wollte man hingegen auf das Aburteilungsalter abstellen, dann hinge es von der Langsamkeit oder Schnelligkeit der Justiz ab, ob man als bereits 16-Jähriger mit Jugendstrafe eine sehr schwere Sanktion erhält oder als noch 15-Jähriger mit Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmitteln ganz unangemessen milde behandelt wird. Es erweist sich also, dass es für eine von der allgemeinen Strafmündigkeitsschwelle abweichende Bestrafungsmündigkeit keinen widerspruchsfreien Anknüpfungspunkt gibt. Dem allgemein geteilten Anliegen, 14- und 15-Jährige nicht in den (normalen) Jugendstrafvollzug zu bringen, ist daher auf der Ebene einer Vollstreckungs- oder Vollzugsmodifikation Rechnung zu tragen[65].

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