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I. Bedingte Strafmündigkeit

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Gemäß § 3 S. 1 JGG ist der Jugendliche nur „bedingt strafmündig“, dh er ist für eine Verfehlung nur dann strafrechtlich verantwortlich, „wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln“. Es handelt sich beim Fehlen dieser Reife um einen speziellen nur für Jugendliche geltenden Schuldausschließungsgrund, der zu §§ 19, 20 StGB hinzutritt[1]. Anders als bei den nur bei konkreten Anhaltspunkten zu prüfenden §§ 20, 21 StGB muss die Schuldfähigkeit iSv § 3 S. 1 JGG stets positiv festgestellt und im Urteil sorgfältig begründet werden, was freilich in der Praxis oft vernachlässigt wird[2].

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Die Einsichtsfähigkeit setzt Verstandesreife (kognitive Reife) und sittliche (ethische) Reife voraus, die sich nicht notwendig synchron entwickeln[3]; die sittliche Reife meint dabei mehr als nur Kenntnis von Wertvorstellungen, sondern auch deren gefühlsmäßige Verankerung[4]. Der Jugendliche muss nicht die Strafbarkeit, aber er muss doch das materielle Unrecht der Tat erkennen können. Die Einsichtsfähigkeit ist nicht generell, sondern in Bezug auf die einzelnen konkreten Rechtsverletzungen des Jugendlichen zu ermitteln; dies kann bedeuten, dass der Jugendliche für eine Tat strafmündig und für eine zugleich begangene andere Tat von komplexerem Zuschnitt nicht strafmündig ist[5].

Als in der Literatur immer wieder benannte Konstellationen fehlender Einsichtsfähigkeit ohne psychiatrisch fassbaren Defekthintergrund lassen sich aufzeigen[6]:

Defizitäre Sozialisation durch inkompetente oder unwillige Erziehungspersonen im Rahmen sonstiger sozialer Isolierung, wodurch eine altersangemessene ethisch-moralische Entwicklung erheblich behindert wird.
Behinderung der Norminternalisierung im Rahmen des Aufwachsens in „Kulturkonflikts“-Konstellationen, wie sie sich für in Deutschland aufwachsende Ausländer-Kinder ergeben können.

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Umstritten ist die Frage, ob die Unrechtseinsichts-Regelung des § 3 S. 1 JGG neben der des § 17 StGB zum Verbotsirrtum überhaupt eine eigene Bedeutung aufweisen kann. Für eine Eigenständigkeit spricht zunächst, dass § 3 S. 1 JGG die Einsichtsfähigkeit anspricht („reif genug… einzusehen“), nicht aber die (konkret fehlende) Unrechtseinsicht, wie § 17 StGB; dies impliziert, dass trotz reifebedingt gegebener Fähigkeit zur Einsicht, die Unrechtseinsicht aus anderen Gründen eben doch fehlen kann. Über diesen mehr formalen Unterschied hinausgehend weist § 3 JGG gegenüber § 17 StGB schon deshalb Besonderheiten auf, weil bezüglich reifebedingt fehlender Unrechtseinsicht die Frage einer Vermeidbarkeit iSv § 17 StGB oder einer actio libera in causa sich nicht ernstlich ergeben kann. Denn die Reifedimension ist für den Betroffenen immer eine unvermeidbare Determinante eventuell fehlender Unrechtseinsicht[7]. Die reifebezogene Sondersituation junger Menschen erfordert auch dann spezielle Berücksichtigung, wenn ein iSv § 3 S. 1 JGG grundsätzlich Einsichtsfähiger dennoch einem Verbotsirrtum unterliegt. Die mit Jugendlichkeit verbundenen Entwicklungs- und Erfahrungsdefizite sind im Rahmen von § 17 S. 2 StGB in besonderer Weise zu beachten. Es wird m.a.W. dem nach Reifestandards grundsätzlich einsichtsfähigen jugendlichen Täter in schwierig zu durchschauenden Konstellationen leichter die Unrechtseinsicht fehlen als einem Erwachsenen in ansonsten gleicher Lage[8].

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Hingegen für eine Verneinung einer Eigenständigkeit des § 3 JGG[9] lässt sich immerhin anführen, dass man bei § 3 JGG genauso wie bei § 20 StGB für ein Ablehnen der Strafmündigkeit bzw der Schuld nicht auf fehlende Einsichtsfähigkeit abstellen kann, sondern – ganz in Einklang mit § 17 StGB – allein eine tatsächlich fehlende Unrechtseinsicht zu berücksichtigen hat[10]; denn eine reifebedingt erfolgende Exkulpierung wegen fehlender Einsichtsfähigkeit trotz einer konkret vorliegenden Unrechtseinsicht des Täters wäre widersprüchlich und würde dem Schuldprinzip gerade nicht entsprechen. § 17 StGB geht aber nur insoweit dem § 3 JGG vor. Angesichts der erwähnten reifebedingten Sonderaspekte bleibt es dabei, dass § 3 S. 1 JGG bezüglich der Unrechtseinsicht nicht etwa eine unselbstständige Variante von § 17 StGB darstellt; denn bei infolge Reifedefiziten fehlender Unrechtseinsicht scheidet eine Prüfung – und erst recht eine Bejahung – der Vermeidbarkeitsfrage des § 17 StGB aus.

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Nur im Falle des Vorliegens von Einsichtsfähigkeit und konkreter Unrechtseinsicht kann sich die Frage der Handlungsfähigkeit iS von Steuerungsfähigkeit stellen, nämlich die Frage nach der Fähigkeit zur Befolgung einer gegebenen Einsicht[11]. Vom herkömmlichen Ausgangspunkt der Rechtsprechung aus geht es hierbei um die Frage der Willensfreiheit[12]. Allerdings hat sich in der Lehre weitgehend die Erkenntnis durchgesetzt, dass menschliche Willensfreiheit zumindest nicht erkennbar ist, weshalb sich wegen dieses fehlenden Bezugspunkts auch eine (ausnahmsweise) Unfreiheit nicht empirisch klären lässt. Daher dominiert der „soziale Schuldbegriff“, welcher Freiheit als normative Setzung versteht. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts favorisierte man in diesem Sinne als Freiheitskriterium die „normale Bestimmbarkeit durch Motive“[13] und auch heute folgt man weithin dieser Linie[14]. Auf junge Menschen bezogen geht es darum, ob wir ihnen – unter Berücksichtigung ihres Entwicklungsstandes – ein normtreues Verhalten fairerweise bereits abverlangen dürfen. Die Entscheidung darüber erfolgt zwar auf der Basis einer Persönlichkeitsdiagnose (evtl. auch Begutachtung), aber dann letztlich durch unser Rechtsgefühl. Es geht dabei darum, ob wir erwachsenen Bürger uns in dem fraglichen jungen Täter in dem Sinne wiedererkennen, dass wir seine Tat als die eines „Gleichen“ erleben und daher als Herausforderung bzw Gefährdung unserer eigenen Normtreue. Wenn die Tat hingegen wegen augenscheinlicher Unreife des Täters als fremd und uneinfühlbar und daher quasi als Unglücksfall erscheint, verzichtet die Rechtsgemeinschaft angesichts geringer Normbestätigungsbedürfnisse auf die Zuschreibung von Tatverantwortung[15].

Als relevante Konstellationen einer wegen fehlender Reife möglicherweise fehlenden Steuerungsfähigkeit werden immer wieder genannt[16]:

Das Überwinden von moralischen Hemmungen durch den Sexualtrieb in der Pubertät.
Eine besonders große Abhängigkeit von Bezugspersonen oder Gleichaltrigengruppen, die dazu führt, dass der Jugendliche sich trotz gegebener Unrechtseinsicht den in die Kriminalität führenden Anweisungen der „Autoritätspersonen“ unterwirft.

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Die Aufgabe des forensischen Gutachters im Rahmen der Reifebegutachtung ist es nicht etwa, die Reifefrage im Hinblick auf Einsichtsfähigkeit und Steuerungsfähigkeit empirisch zu entscheiden. Vielmehr hat er wesentliche Beiträge zur vom Richter für die Strafmündigkeitsentscheidung benötigten Wertungsgrundlage zu liefern, nämlich die für die Tatbeurteilung wesentlichen Merkmale der Täterpersönlichkeit nach fachlichen Standards herauszuarbeiten[17]. Die Entscheidung, ob der Täter angesichts des Entwicklungsstands, der Vortatentwicklung und der Tatsituation das Unrecht der Tat einsehen und nach dieser Einsicht handeln konnte, betrifft – nicht anders als auch sonst Schuldfähigkeitsentscheidungen – eine juristische Fragestellung, die vom Richter normativ zu entscheiden ist[18]. Dabei gewinnt die Strafmündigkeitsentscheidung gegenüber der strukturgleichen Schuldfähigkeitsentscheidung iSv § 20 StGB – auch für den dazu beitragenden Sachverständigen – noch dadurch an Schwierigkeit, dass gem. § 3 S. 1 JGG sogar eine positive Begründung des Vorliegens von Einsichtsfähigkeit und Steuerungsfähigkeit verlangt wird, also nicht nur eine Negativfeststellung bei Vorliegen extremer psychischer Auffälligkeit. Die Praxis reagiert auf diese Überforderung wenig überraschend mit Verweigerung und verneint auch bei § 3 JGG die Schuldfähigkeit nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Befunde, insbesondere solchen, die einen biologischen Hintergrund aufweisen oder per Intelligenzquotient quantifizierbar sind[19]. An Stelle einer substanziellen positiven Begründung der Strafreife finden sich vor allem formelhafte, inhaltsleere Floskeln[20]. Und überdies belegen Untersuchungen zur Verwertung forensischer Reifegutachten durch die Jugendgerichte, dass in diesem Bereich „der Sachverständigenmeinung mehr oder weniger blind vertraut wird“[21].

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Da es um eine Frage der Tatschuld geht, kommt es naturgemäß auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt an, wie § 3 S. 1 JGG auch ausdrücklich voraussetzt. Diese Tatorientierung entspricht freilich einem rückwärts gewandten Tatstrafrecht, nicht aber einem vorwärts gewandten Täterstrafrecht (Erziehungsstrafrecht). Hier wird der immer wieder ins Auge springende Kompromisscharakter des Jugendstrafrechts deutlich[22]. Problematisch ist die für die Reifefeststellung maßgebliche Anknüpfung am Tatzeitpunkt auch unter rein pragmatischem Aspekt, weil zwischen Tat und Aburteilung etliche Monate liegen, in welchen sich gerade junge Menschen schon erheblich weiterentwickelt haben können[23]. Etwa für Verfahren mit Gutachtenerstattung bei Kapitaldelikten ließ sich ein durchschnittlicher Zeitablauf zwischen Tat und schriftlicher Gutachtenerstattung von ca. sechs Monaten ermitteln[24].

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Wie immer bei Begutachtungen im Bereich der menschlichen Psyche als besonders schwer zu durchdringendem Erkenntnisgegenstand ist einzukalkulieren, dass das Gutachten im Ergebnis stark von der wissenschaftlichen wie kriminalpolitischen Grundausrichtung des Sachverständigen abhängig ist[25]. Schon von daher ist erhebliche Ungleichheit in der Anwendung von § 3 S. 1 JGG vorprogrammiert. Unverkennbar ist im Übrigen, dass § 3 S. 1 JGG häufig ergebnisorientiert angewandt wird. Bei längerer krimineller Vorgeschichte vor dem 14. Lebensjahr warten die Behörden manchmal geradezu auf den 14. Geburtstag, um endlich das Instrumentarium des JGG zur Verfügung zu haben[26]; denn wegen der weitgehenden Beseitigung der geschlossenen Erziehungsheime[27] kann auf eine extreme Delinquenzneigung sehr junger Täter in manchen Fällen nicht angemessen mit Jugendhilfemaßnahmen reagiert werden[28]. Nachdem die anderen Maßnahmen nicht gefruchtet haben, tendieren dann wohl auch die Richter trotz vorliegender Bedenken zur Bejahung der Strafmündigkeit.

Teil II Der Geltungsbereich des JGG§ 4 Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Jugendlichen › II. Folgen fehlender Strafmündigkeit

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