Читать книгу Jugendstrafrecht - Franz Streng - Страница 23

III. Schulenstreit und Jugendgerichtsbewegung

Оглавление

34

Das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund von 1870 legte die Strafmündigkeitsgrenze auf die Vollendung des 12. Lebensjahres; bis zum 18. Lebensjahr bestand bedingte Strafmündigkeit, über welche anhand der Einsichtsfähigkeit entschieden wurde. Diese Regelung der §§ 55 – 56 und die des § 57 zu Strafmilderungen für Täter bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres wurde in das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 übernommen. Vorgesehen war, dass im Falle der Strafunmündigkeit Einweisung in eine Erziehungs- oder Besserungsanstalt erfolgen konnte. Die Freiheitsstrafe an jugendlichen Personen war gem. § 57 II RStGB in besonderen Anstalten oder Räumen zu vollziehen. Wegen der dominierenden Tatausgleichsidee, die der klassischen Strafrechtsschule entsprach, waren erzieherische oder auch nur präventionsbezogene Regelungen in den §§ 55 ff RStGB nicht enthalten. Dies konnte angesichts der bereits praktizierten kriminalpädagogischen Reformansätze nicht unkritisiert bleiben[15].

35

Als besonders markanter Vertreter einer auf den modernen Erkenntnissen der Wissenschaften vom Menschen fußenden Kriminalpolitik ist für Deutschland Franz v. Liszt (1851 – 1919) zu nennen. Durch sein kriminalpolitisches Programm und auch als Mitbegründer der „Internationalen Kriminalistischen Vereinigung“ (IKV) wurde er prägend für die von der IKV vorgetragenen Reformvorstellungen auch für das Jugendstrafrecht. Im Gegensatz zur damals dominierenden, der absoluten Straftheorie anhängenden klassischen Strafrechtsschule forderten Franz v. Liszt und seine „moderne Strafrechtsschule“ die Orientierung an den Präventionszwecken. Im „Marburger Programm“ von 1882 findet sich das markant dargestellt; v. Liszt propagierte hier folgende Prinzipien[16]:

Besserung der besserungsfähigen und besserungsbedürftigen Verbrecher,
Abschreckung der nicht besserungsbedürftigen Verbrecher,
Unschädlichmachung der nicht besserungsfähigen Verbrecher.

Daneben betonte v. Liszt aber auch, dass der Vergeltungsstrafe die wichtige soziale Funktion zukommt, die Erschütterung der Rechtsordnung durch die Straftat auszugleichen. Es wurde also ein generalpräventiver Aspekt von Strafe hervorgehoben; insoweit ist auch die Vergeltungsstrafe präventive Schutzstrafe. Trotz dieses Brückenschlags zur Vergeltungstheorie konnte v. Liszts Zweckstrafensystem im Allgemeinen Strafrecht, das von den absoluten Straftheorien im Sinne von Kant und auch Hegel geprägt war, zunächst nicht reüssieren. Auf fruchtbaren Boden fielen diese Gedanken aber im Rahmen der Diskussion um einen anderen Umgang mit jugendlichen Rechtsbrechern[17].

36

Die rudimentären Regelungen der §§ 55 – 57 RStGB wurden nicht nur von Wissenschaftlern wie v. Liszt als unbefriedigend erkannt. Auch Strafrechtspraktiker hielten sehr viel weitergehende Sonderregelungen für junge Täter für erforderlich. Zu dieser Sichtweise hatte wesentlich beigetragen, dass Psychologie, Psychiatrie, Soziologie und Pädagogik mit ihren Befunden die besondere Situation und die besonderen Anforderungen von Kindheit und Jugend herausgearbeitet hatten. Es entstand ein breites Bemühen um weitergehende Reformen, die sog. Jugendgerichtsbewegung. Der Erziehungsgedanke gewann zentrale Bedeutung für die Reformdiskussion, ohne dass freilich eine einheitliche Linie hätte erarbeitet werden können. Der Gedanke des „Erziehung statt Strafe“ iS der Unterstützung und Anleitung des Gestrauchelten vermochte sich nur im Bereich der leichteren Delikte durchzusetzen. Für schwerere Taten und insbesondere für gravierende Rückfälligkeit blieb mit dem „Erziehung durch Strafe“ das Gedankengut der klassischen Strafrechtsschule bedeutsam, in dem auf Sühne als Mittel der Besserung verwiesen wird[18].

Schon vor einer Kodifizierung dieser Reformansätze wurden 1908 im Wege der Geschäftsverteilung innerhalb der Gerichte in Frankfurt, Köln und Berlin die ersten Jugendgerichte geschaffen[19]. Als erstes echtes Jugendgefängnis sieht man gemeinhin die 1912 in Wittlich im Rheinland eingerichtete Anstalt an[20]; freilich gab es – noch unabhängig von der Jugendgerichtsbewegung – etwa in Württemberg bereits seit dem Jahre 1846 eine „Strafanstalt für jugendliche Verbrecher“ in Schwäbisch Hall und in Bayern seit dem Jahre 1880 die speziell für Jugendliche zuständige Anstalt Niederschönenfeld[21].

37

Im Jahre 1923 schließlich wurde als Frucht der Bemühungen der Jugendgerichtsbewegung das erste deutsche Jugendgerichtsgesetz verabschiedet. Das JGG regelte nicht nur ein besonderes Jugendstrafverfahren bei den allein zuständigen Jugendgerichten, sondern brachte auch im Hinblick auf die Strafmündigkeit und die Rechtsfolgen wesentlich Neues: Die Strafmündigkeit begann erst mit vollendetem 14. Lebensjahr und wurde mit vollendetem 18. Lebensjahr absolut (§§ 1, 2 JGG). Zwischen dem 14. und dem 18. Lebensjahr setzte Strafbarkeit nicht nur die Einsichtsfähigkeit voraus, sondern nun auch die „Fähigkeit, seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen“ (§ 3 JGG)[22]. Der Richter konnte auf Straftaten mit Erziehungsmaßregeln (Verwarnung, Überweisung in die Zucht der Erziehungsberechtigten oder der Schule, Auferlegung besonderer Verpflichtung, Unterbringung, Schutzaufsicht, Fürsorgeerziehung) reagieren (§§ 5 u. 7 JGG) und dann von Strafe absehen (§ 6 JGG). Die Vollstreckung von Freiheitsstrafen konnte ausgesetzt werden (§ 10 JGG). Wesentliche Verfahrensneuerungen waren etwa die Beteiligung der Jugendgerichtshilfe (primär Aufgabe des Jugendamtes) in möglichst allen Verfahrensabschnitten (§ 22 JGG), die Nichtöffentlichkeit des Verfahrens (§ 23 JGG) sowie die Lockerung des im Allgemeinen Strafrecht geltenden Anklagezwangs unter erzieherischen Aspekten (§ 32 S. 2 JGG).[23]

Teil I Einführung§ 2 Der Weg zu einem eigenständigen Jugendstrafrecht › IV. Das „Dritte Reich“

Jugendstrafrecht

Подняться наверх