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ОглавлениеWohngemeinschaft
Mir kommt ein korsischer Winter in den Sinn, September 57 bis April 58, und unser Zusammenleben mit den Ratten.
Mit den letzten Touristen waren wir an die Südspitze der Insel, nach Bonifacio, gelangt. Ein paar Wochen später gab es außer uns keine Fremden mehr im Städtchen, nur noch die algerischen Rekruten und Offiziere, die draußen, im ödesten Teil der Landzunge, zwischen Friedhof und Meer ihre Kaserne hatten. Mit der arabischen Musik, die in manchen Bars gespielt wurde, und mit dem Gleichschritt der Wache nachts in den Gassenschluchten waren sie eindringlich gegenwärtig. Wir haben sie nicht wirklich kennengelernt. Wir lebten mit den Korsen, auf dem Feld, im Buschwald und im Café, und die sorgten für Abstand. Als einer der algerischen Rekruten, weil ihm kein Weihnachtsurlaub zugestanden worden war, in unserem Lokal weinend und fluchend einen Tisch und Stühle zu zertrümmern anfing, schoben uns die Wirtsleute zusammen mit anderen zivilen Gästen nach hinten in die Küche. Jean, der im Alters- und lrrenheim als Koch arbeitete und der unter dem Hemd immer eine Pistole im Hosenbund trug, gab uns Rückendeckung. Als die Wache den verzweifelten jungen Mann abgeholt hatte, kehrten wir ins Gastlokal zurück. Die Armee, sagte Jean, vergüte solche Schäden zuverlässig.
Der Wirt des Cafés, ein alter Einäugiger, dem einmal ein Flintenschuss in der verkehrten Richtung losgegangen war, hatte uns eine Wohnung vermietet. Außer der Küche und dem Schlafzimmer gehörte auch ein Dachboden dazu, zu welchem, dem hellblauen Kamin gegenüber, eine steile Holztreppe emporführte. An der Eingangstür, die zugleich die Küchentür war, fehlten Klinke und Riegel. Wir hatten uns angewöhnt, als Ersatz ein Messer mit einer langen Klinge zu verwenden. Es ließ sich so in den Bügel am Türrahmen einschieben, dass die Tür zu blieb.
Hier also, und das ist es eigentlich, was ich erzählen wollte, wohnten wir mit den Ratten zusammen. Der Dachboden und der Schrank, der den Raum unter der Holztreppe einnahm, gehörte den Tieren; wir Menschen hatten für uns das Schlafzimmer reserviert. Die Küche teilten wir: tagsüber und abends gehörte sie uns allein, nachts den Ratten. Es brauchte eine Zeit der gegenseitigen Gewöhnung, bis alles klar war. Am Anfang fraßen die Tiere, wenn wir schliefen, was in der Küche herumlag, und stießen auch Teller und Gläser vom Tisch, dass sie auf dem roten Steinboden zerschlugen. Wir mussten unsere Habe im Schlafzimmer aufbewahren. Da wir den Ratten nur dann etwas vorenthalten konnten, wenn wir ihnen auch etwas gaben, fütterten wir sie mit altem Brot. Wir warfen die harten Brotstücke über die Treppe auf den Estrich und hörten beinahe gleichzeitig mit dem Aufschlagen des Brotes ein vielfüßiges Scharren und vielbäuchiges Rumpeln. Es war, als seien die Ratten längst schon im Kreis um die Stelle versammelt gewesen, an der das Brot hinfiel.
Die Geräusche der Tiere waren uns vertraut geworden, aber wir bekamen sie nur selten zu Gesicht. Dabei hätten wir auf ein Scharren hin nur den Schrank zu öffnen brauchen, um uns zu versichern, dass sie grau, gelblich geschwänzt und flink waren. Wenn wir es nicht taten, gehörte das zu unserer nachbarlichen Übereinkunft. Es war ja gerade die Scheu, die uns verband und die dem Gefühl der Achtung sehr ähnlich war.
J. Sch.