Читать книгу Strong Kids - Fritz Gleiß - Страница 11
3. Einige Wochen zuvor
Оглавление„Komm, lass uns wenigstens ein bisschen tanzen, Jens!” Im Ballsaal hoch über der Elbe spielt die Band endlich den ersten Klassiker, „Born to be wild”. Frieda Petermann, aufgetakelt wie selten, hat ihren Mann Jens nur widerwillig zu der Benefizparty begleitet, die dessen Bekannte Sabine für „Afrikas Kinder” im ehrwürdigen Luis C. Jacob organisiert hatte. „Wenn schon, denn schon – dann lassen wir es richtig krachen!”, so deren Idee. Das Kalkül: Wer in diese erste Adresse Hamburgs am Elbufer in Blankenese eingeladen wird und der Einladung Folge leistet, der spendet mindestens vierstellig. Am Ende der Nacht würde die neue Hamburger Landesbeauftragte der Konrad-Adenauer-Stiftung recht behalten.
Dr. Sabine Kortweit hatte seit ihrer Rückkehr aus Dar es Salaam, der früheren Hauptstadt Deutsch-Ostafrikas und heutigen Partnerstadt Hamburgs, steil Karriere gemacht. In Dar, wie die Stadt von den Tansaniern kurz genannt wird, hatte sie jahrelang für die historisch verrufene Lettow-Vorbeck-Stiftung das deutsche Gedenken aufpoliert und dort am Ende sogar promoviert. Nach ihrer Rückkehr hievte ihr vormaliger Arbeitgeber sie auf eine auskömmliche Referentinnenstelle am GIGA, dem ehemaligen Übersee-Institut. Dort beriet sie den Senat. Mittlerweile war Kortweit weiter geklettert und seit einem Dreivierteljahr Repräsentantin der KAS in der Hansestadt.
Der heutige Abend ist ihr erster großer Auftritt. Parteien, UNICEF, Worldvision, Save the Children, Kindernothilfe, Plan, Norddeutsche Mission, Caritas, BILD-Zeitung: Jede und jeder, die oder der in der Stadt etwas mit Kindern, Macht und Menschenfreundschaft zu tun hat, war eingeladen. Darunter auch vermeintlich unbedeutende Vereine wie die Mlakizi-Stiftung, die im Süden Tansanias ein kleines Waisenheim betreibt und Kortweit von einem Parteifreund anempfohlen worden war. Alle waren sie erschienen, alle. Sogar eine sichtbar auf dem letzten Loch pfeifende Adelige aus der Desiderius-Erasmus-Stiftung stolzierte mit ihrem vertrockneten Partner übers Parkett. Berührungsangst kennt Kortweit nicht, nach rechts schon gar nicht.
Selbstverständlich hatte sie auch Jens Petermann eingeladen, ihren alten Freund aus Studientagen, der sich zusammen mit seiner Frau seit Jahren für die kleine NGO „Children First!” stark macht. Ihrer gemeinsamen Nacht vor einigen Jahren in Dar trauert die KAS-Chefin immer mal wieder ein bisschen nach. Frieda hingegen, Petermanns angestammte Frau seit Kindertagen, der Jens sein Amusement mit Sabine nach seiner Rückkehr von der damaligen Schatzsuche in Tansania sofort gebeichtet hatte, wollte die „reaktionäre Schnepfe” Sabine heute Abend am liebsten gerupft und grandios scheitern sehen.
Die Party war in vollem Gange. Bevor die zahlungskräftigen Gäste sich zurückziehen und die Tanzfläche dem gemeinen Partyvolk überlassen würden, will Kortweit unbedingt noch einen Appell loswerden. Am Mischpult des Radio-bekannten Moderators, der für 7.000 € Honorar den Abend schmeißt, lässt sie sich das Mikro geben, klopft kurz drauf und beginnt mit ihrer einstudierten kurzen Rede.
„Liebe Gäste, lassen Sie sich an diesem fantastischen Abend bitte noch ein letztes Mal von mir stören! Sie alle werden davon gehört haben, selbst der UN-Beauftragte zeigt sich besorgt: Einmal mehr hat es in Afrika ein schreckliches Verbrechen gegeben. An kleinen Kindern! Mindestens zehn Kinder, die jüngsten gerade vier Jahre alt, wurden im Süden Tansanias zerstückelt aufgefunden. Alle wurden augenscheinlich Opfer dieses grausamen Aberglaubens, dass Körperteile von Menschen mit Albinismus eine besondere Heilkraft besäßen. Bei uns gibt es diesen Wahnsinn ja zum Glück nicht mehr. Da haben wir uns ja weiterentwickelt. Blicke ich allerdings auf die jüngsten Fälle von Kindesmissbrauch, so bin ich mir da gar nicht ganz sicher. Auch eine andere Zahl erschreckt mich ganz besonders: 8.000 Kinder werden in Deutschland jährlich vermisst. Achttausend! Selbst wenn viele davon unbeschadet bei Verwandten leben und früher oder später wieder auftauchen: Mehrere Hundert Kinder und Jugendliche sind bei uns zu jeder Tag- und Nachtzeit, auch in dieser Minute, schlicht verschwunden. 1.500 vermisste Kinder unter vierzehn sind in den letzten 50 Jahren in Deutschland nie wieder aufgetaucht. Viele davon sind abgerutscht in Prostitution und Drogen, noch mehr werden missbraucht. Das kann doch eigentlich gar nicht möglich sein, oder? Da wünschte ich mir, dass die Politik endlich in die Hufe kommt und zum Beispiel wie in den Niederlanden Vermisstenmeldungen von Kindern innerhalb von Minuten großflächig auf allen Anzeigetafeln umliegender Bahnhöfe bekannt macht!” Den aufkommenden Beifall wischt Kortweit rasch beiseite.
„In Holland schaffen die Behörden es, in weniger als zwanzig Minuten fast jeden Nachbarn über ein vermisstes Kind zu informieren! Und doch: Zumindest gegen den mittelalterlichen Aberglauben der Afrikaner können wir gemeinsam viel tun! So bitte ich Sie inständig, diese Veranstaltung nicht zu verlassen, ohne den hier anwesenden gemeinnützigen Vereinen und Stiftungen, die alle täglich Großes für schutzbedürftige, arme Kinder bewirken, mit ihrer Spende geholfen zu haben. Zeigen Sie sich großzügig! Wir können das!”
Große Worte fielen ihr früher schwerer. An den heutigen hatte sie tagelang gefeilt. Nun hofft Sabine Kortweit, dass sich der Erfolg am Ertrag des Abends wird messen lassen können. Frieda hingegen ist empört: „,Mittelalterlicher Aberglaube der Afrikaner’? Als wäre das der wichtigste Grund, sich zu engagieren! Was für ein Weltbild! Das ist rassistische Hetze! Versteckt hinter bevormundendem Gutmenschentum!” „Frieda, reg dich ab, Sabine macht hier nur ihren Job!”, kontert ihr Gatte kühl.
Bevor die große Party sich dem Ende zuneigt, muss Sabine Kortweit unbedingt den langen Jens noch sprechen. Hager geworden ist er, das Haar jetzt schütter, doch seine tiefbraunen Augen strahlen für sie wie eh und je. Wer weiß, vielleicht entwickelt sich daraus ja noch was für die Nacht. Dumm nur, dass er mit Frieda da ist.
Jens hatte seine Frau lange überreden müssen mitzukommen. „Wir brauchen auch solche Kontakte, Frieda!” Mehr hatte er nicht ins Feld führen können. Ihr Widerwille gegen die „mondäne, dekadente Umgebung” und gegen den konservativen Geist der Gastgeberin hatte sich nur schwer überwinden lassen. Schließlich aber hatte sie die Vorstellung, vor ihrer alten Widersacherin mit Jens herumzutanzen, beinahe lüstern auf den Abend warten lassen. Das machte Spaß, tat der Gesundheit gut und spülte vielleicht ja auch etwas in die Kasse von „Children First!”, dessen Mitbegründerin sie schließlich war. Doch ausgerechnet jetzt, wo die Musik endlich einmal passte und Jens schon stand, muss Sabine auf ihren Mann zustürmen, um ihm irgendetwas aufzuschwatzen.
„Sabine, hallo, warte mal ein paar Songs, wir tanzen jetzt!” – sprach’s und genoss es, der Ziege ihren Mann zu entziehen. Weder Jens noch Sabine sträuben sich.
Wohlzufühlen allerdings scheint Jens Petermann sich beim Tanzen nicht so recht. Bedrückt trifft es nicht wirklich, aber seit Wochen geht es ihm nicht gut, er wirkt zunehmend antriebslos. Die Party kam ihm gerade recht, um sich abzulenken und ein bisschen aufzutanken. Vielleicht hätte er Frieda gar nicht zum Mitkommen bewegen sollen. Sich mal wieder selbst so richtig wichtig fühlen, anziehend, wenn auch nur als Vertreter einer kleinen NGO. Ohne diese Wirkung, das merkt er immer öfter, fällt es ihm zunehmend schwer, seine Aufträge abzuarbeiten oder gar neue zu akquirieren. Es läuft so vieles nicht mehr richtig rund, die Arbeit, die Architektur, die Liebe. Mit Anfang 50 sieht er zwei Drittel allen Lebens hinter sich. Und Neues fehlt.
Gehen will er ganz bestimmt noch nicht. Auch wenn Frieda ihn gerade zum Tanzen brachte – sie würde es nicht mehr lange hier aushalten, das ist gewiss. Beide sind sie mit dem eigenen Wagen hier, kein Grund also, die Show gemeinsam zu verlassen. Mal sehen, wie sich die Nacht noch so entwickelt. Sie hatten nicht darüber gesprochen, wie sie zurück nach Hause kämen. Die genervte Stimmung zwischen ihnen hält nun schon seit Monaten an, doch keiner tat den ersten Schritt. Sich aussprechen? Beziehungsarbeit? Gar erwägen sich zu trennen, nach mehr als dreißig Jahren Ehe? Raus aus dem Haus in den Harburger Bergen, Friedas Elternhaus? Eine eigene Wohnung in Hamburg finden? Alles schwer vorstellbar. Irgendwie aber ist die Luft raus aus der Beziehung, irgendwo tut sich ein Abgrund auf.
Sabine Kortweit kommt ihm da heute Abend gerade recht. Noch ein, zwei Tänzchen mit Frieda, dann ist er frei. Schön, dass Sabine gerade den ersten Schritt gemacht hat. Der Saal ist nicht groß genug, um sich aus den Augen zu verlieren. Und tatsächlich murrt Frieda schon nach dem nächsten Song – „Hotel California” der „Eagles” – über die spießige Musik und steuert den Infotisch von „Children First!” an. „Ich bau ab, nehme Rollups und Tisch gleich mit, okay?” Ihr Mann hat nichts dagegen. Und ist erleichtert.
Kaum ist Frieda weg, steht die Gastgeberin hinter ihm. „Endlich habe ich Zeit ...” Sabines Hand bleibt deutlich zu lange auf seiner rechten Schulter liegen. Den Architekten erschreckt das nicht, er dreht sich gerne um.
„Sabine, wie schön! Da hast du ja was Tolles auf die Beine gestellt! Win-win für alle, großartig!” Es ist zwar nicht ganz klar, worauf sich Petermann bezieht, doch Sabine kribbeln die Schenkel. Woher Jens’ Wirkung auf sie kommt, hat sie schon lange nicht mehr hinterfragt. Heute scheint auch sie ihm ganz besonders zu gefallen. Nach kurzem Geplänkel à la „lange nicht gesehen” drängt es die Stiftungsfrau allerdings, erst mal ihr Anliegen loszuwerden. Danach wird sie noch Zeit genug haben, mit dem Schlacks zu flirten.
„Jens, ich muss dir schnell was erzählen!”
„Okay ...”
Vor ein paar Wochen sei sie von einem wohlhabenden Paar, das von ihrer Zeit in Tansania wisse, auf eine Stiftung angesprochen worden. Die würde im Südwesten des ostafrikanischen Landes ein Waisenhaus betreiben. „Die haben heute hier auch einen Stand. Da hinten!” Kortweit zeigt quer durch den Saal auf die Wand vor der Garderobe, wo rund ein Dutzend Organisationen der Kinderhilfs-Szene ihre Stände aufgebaut haben oder gerade abbauen, wie den von „Children First!”. „Die Mlakizi-Stiftung einzuladen, hat mich Chris Amthor gebeten, den kennste bestimmt … Na ja, die Eheleute wollen wissen, ob man für das Haus da unten wohl eine Patenschaft übernehmen könne. Nach all den Morden da. Hast du bestimmt von gehört. Ob das seriös geführt werde, wie die Verhältnisse vor Ort aussähen und so weiter. Liegt bei Tukuyu, am Arsch der Welt, ganz nah an den großen Seen, zwischen Dar und Lubumbashi, du weißt schon.”
„Tukuyu? Nie gehört, müsste nachschlagen, wo das ist”, wendet Petermann ein, den Sabines Anliegen nicht so recht erreichen will, ihr Reiz dagegen umso mehr.
„Die wollen wissen, ob sie da Geld reinstecken können. Viel Geld. In die ‚Mlakizi Foundation’, so heißt das Ding. Ob die Kontaktleute da unten vertrauenswürdig sind. Da gibt’s angeblich einen Europäer, der das alles managt, aber irgendwie nicht gern in Erscheinung tritt. All so’n Kram”, fährt Sabine fort. „Die sind über Freunde auf das Projekt gestoßen, die da ein paar Patenkinder finanzieren. Vielleicht lässt sich daraus ja was Größeres machen ...”
Nur zögernd lässt sich Petermann auf Sabines Gedanken ein: „Aber die beiden sind verunsichert durch die vielen Patenschafts-Skandale? Wo Kinder als Haushalts- oder Sexsklaven verkauft werden?”
„Ja, genau. Und durch die Kindermorde.”
„Hä?”
„Bei den Paten versickern ja weltweit Millionen ...”
„,Versickern’! Lass das bloß nicht deine geladenen NGOs hier hören. Fast alle kennen solche Fälle aus eigenem Erleben, das ist kriminell hoch fünf!”
„Schon klar. Aber hier reden wir von einem konkreten Haus. In Tansania, was ja meist nicht so schlimm daherkommt. Gibt dort bestimmt auch tausend gut geführte Einrichtungen. Du kennst doch diesen Detektiv in Moshi, vielleicht weiß der was?”
„Hey, Sabine, Moshi liegt vom Südwesten Tansanias weiter weg als Hamburg von Mailand. Und Tansania hat mittlerweile auch schon fast so viele Bewohner wie wir hier in Deutschland. Warum also sollte Hannes mehr über dieses Haus wissen als du oder ich?” Der seltsam deutsche Vorname des Detektivs hatte sich gewiss auch bei Sabine eingeprägt.
„Frag ihn doch einfach mal, er kann sich ja vielleicht mal umhören. Das kostet doch heute nix mehr. Dann sehen wir weiter!”
„Okay, ich werd ihm davon erzählen. Aber jetzt?”
Die Landesbeauftragte lässt noch nicht locker: „Vielleicht kann ja auch seine patente Tante Honorata was rauskriegen, die lebt in Dar, oder? Die hat doch mal für diesen Karsten Härtling gearbeitet, von ‚Safety First’, der Sicherheitsfirma.”
„Ja, stimmt. Mal gucken, was das bringt … Wollen wir jetzt tanzen?”
Nein, die Party war noch lange nicht zu Ende.