Читать книгу Asphaltblüten - Gabi Paumgarten - Страница 11

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Die Glasschiebetür des Stop & Go ist nicht breit genug, sodass Adi Finder mit seinem Rollstuhl und Ruth Ils nicht gleichzeitig hindurch können. Wie bei einem Frontalzusammenstoß prallen beide jäh aufeinander.

„He, geht’s noch! Was soll das? Wir sind hier nicht auf dem Nürburgring für Zweirädrige! Wenn du schon nicht laufen kannst, musste nicht auch noch meine Beine hinmachen!“

Finder richtet weder seinen Blick nach oben, noch antwortet er auf die unüberhörbaren Parolen der wenig galanten Blondine. Unbeirrt setzt er seinen Weg ins Freie fort, denn in all den Jahren nach seinem Unfall hat er gelernt, dass das Mitgefühl der Menschen exakt an ihrer eigenen Haut seine Grenze findet.

Das Stop & Go ist um diese Tageszeit gut besucht, sodass sich Ruth den Weg durch die träge Masse von bestellenden oder tratschenden Gästen mühevoll bahnen muss, ehe sie geradewegs auf den Tisch zu steuert, an dem Oli Klein schon auf sie wartet. Wie an jedem Abend verbringen beide auch heute ihren Feierabend im Bistro. Oli trinkt sein Bierchen, während Ruth sich einen Hugo gönnt.

„Der Idiot mit seinem Rollcabrio hätte mich fast niedergemäht“, beschwert sie sich so, dass es auch für die Gäste an den Nachbartischen nicht zu überhören ist. Dann fährt sie sich mit der Hand über ihre superfeinen Zehn-DEN-Seidenstrümpfe, um sie auf eine etwaige Beschädigung hin zu prüfen. Da sie keine schadhafte Stelle an den Strümpfen entdecken kann, widmet sie sich ihrem Lieblingsthema. „Schau mal, Oli, meine Nägel. Ganz frisch. Drei Stunden hat es diesmal gedauert.“

Die Hände wie zum Handkuss reichend, hält sie ihrem Freund die kunstvoll gestalteten Miniaturbilder auf ihren Fingernägeln unter die Augen. „Das Design ist eines der Aufwendigsten, das Silke draufhat“, erwähnt Ruth, nicht ohne auf die Leistung ihrer Freundin stolz zu sein.

Oli betrachtet mit der Lethargie eines Straßenbahnschaffners, der die Monatskarten der täglich fahrenden Dauergäste kontrolliert, das Resultat der stundenlangen Arbeit an Ruths Fingern. Er, der schon aus Hygienegründen seine Nägel bis auf die Fingerkuppen zurückschneidet, kann nur wenig Verständnis für die mit Ornamenten verzierten Nägel aufbringen. Dabei wäre es ihm auch komplett egal, was Ruth mit ihnen macht, wenn die Sache nicht so ins Geld ginge.

„Ach, Liebling, da fällt mir gerade ein“, flötet Ruth ihrem Freund mit Engelszungen ins Ohr, „ich wollte dich noch fragen, ob du mir in diesem Monat noch einmal mit einer kleinen Finanzspritze aushelfen könntest? Du weißt, du bekommst es schon nächsten Monat zurück.“ Ruth lächelt und zeigt ihre makellosen Zähne.

„Krieg ich nicht noch vom letzten Monat dreihundert?“, überlegt er laut.

„Die hab ich dir doch schon lange gegeben?“, stutzt sie und verzieht ihren Mund zu einer schmollenden Schnute.

Seit Oli Klein vor fünf Monaten Ruth Ils über ein Dating-Portal kennengelernt hat, hat sich so manches in seinem Leben geändert. Leicht wie eine Feder beginnt er den Tag. Wie unter dem Einfluss einer berauschenden Droge durchlebt er locker, gleichmütig, schwebend vor Glück, beinahe schwerelos den Arbeitstag, die alltäglichen Ärgernisse wie hinter einer Milchglasscheibe wahrnehmend.

Während er seine rußige Arbeit auf den Dächern verrichtet, ziehen wonnige Gedanken an seine Liebste wie aufgeplusterte Kumuluswolken vorbei. Die Liebe hat Oli wie ein Blitz getroffen und das trockene Land seines Seelenlebens in Brand gesetzt. Und dieses Feuer lodert, wie ihm scheint, ohne Unterlass und ohne ein Ende in Sicht zu haben. In jedem Augenblick ihrer Abwesenheit verzehrt er sich voller Sehnsucht nach Ruth. Bis endlich der Höhepunkt des nervenzerreibenden Liebesbegehrens mit dem Feierabend erreicht ist. Anfangs war es nur ein- oder zweimal in der Woche, mittlerweile kommen sie jeden Abend auf ein Bier und einen Cocktail zusammen. Der Willkommenskuss gleicht noch einem flüchtigen Aufeinandertreffen der begehrenden Lippen, aber für Oli stellt er jedes Mal einen sehnsüchtig erwarteten Genuss dar. Wenn Ruth dann ihre Hand auf seinen Arm legt und er ihre zarte Haut fühlt, überflutet ihn ein wohliges Gefühl williger Ergebenheit. Am verführerischsten aber findet er ihren Mund. Die vollen Lippen, die wie Federkissen sanft aufeinander liegen, fesseln seinen Blick und verzaubern sein Gemüt bis in die letzten Enden seiner Gehirnwindungen. An manchen Tagen weiß er sein Verlangen kaum zu bändigen, um sie nicht spontan, inniglich und leidenschaftlich zu küssen. Auch wenn Olis Kumpel über seinen liebestrunkenen Zustand lachen und ihn dafür aufziehen, keiner von ihnen hat ein Mädchen wie Ruth. Sie ist eine Prinzessin. Sie ist seine Prinzessin.

Für Ruth ist die Beziehung zu Oli etwas, das sie schon öfter erlebt hat. Was der Sache diesmal einen besonderen Reiz verpasst hat, ist der Umstand, dass Ruths Freundinnen den smarten Kerl mit dem sanften Blick hinter dem von Ruß schwarzen Gesicht so unwiderstehlich finden, dass sie sich den Hals nach ihm verrenken. Daher postet Ruth auf unzähligen Fotos sich und Oli in ebenso unzähligen Situationen, um nach wenigen Minuten unzählige Likes zu empfangen, die sie wie eine Siegerin auf dem Podest mit Stolz erfüllen. Aber Ruth hat in keinem Moment den Boden unter den Füßen verloren, um in höhere Sphären abzuheben. Und auch wenn sie sich mehrmals am Tag dabei ertappt, an Oli zu denken, so tut sie es nur, weil sie über die Dinge nachdenkt, die sie gerne in absehbarer Zeit realisiert haben möchte, wie einen Urlaub am Meer an einem weißen Sandstrand, teure Markenhandtaschen oder ein flottes Auto. So träumen beide, wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise, von der Erfüllung ihrer Wünsche.

Als Ruth ihn nun zum wiederholten Mal um Geld bittet, weiß Oli deshalb genau, dass er von ihr noch nie einen Cent zurückbekommen hat. Und trotzdem, auch wenn es ihm mit seinem Verdienst als Rauchfangkehrer nicht gerade leichtfällt, gibt er ihrer Bitte nach.

„Wie viel?“, fragt er geradeheraus.

„Dreihundertfünfzig?“, antwortet sie, ohne zu zaudern.

Oli nimmt aus seiner zerfransten Lederbörse vier Scheine und legt sie auf den Tisch, bevor es aus ihm herausbricht. „Ich muss dir unbedingt eine Neuigkeit erzählen!“

„Was denn für eine Neuigkeit?“

„Ich habe von einer Wohnung erfahren. Hier ganz in der Nähe. Gerade recht für uns beide. Nicht zu groß und nicht zu teuer. Was sagst du?“

Ruths vor Überraschung weit aufgerissene Augen sind echt, denn vieles kann sie sich vorstellen, aber nicht mit Oli in eine Wohnung zu ziehen. Allein schon, wenn sie an seine täglich rußigen Arbeitskleider denkt, an die kohlschwarzen Fingerabdrücke an Türen, an Schränken und an Tapeten oder an die klebrig grauen Schlieren in der Dusche, kann sie sich unter keinen Umständen einen gemeinsamen Haushalt vorstellen.

Weil Liebende nicht zwangsläufig zur Wahrheit verpflichtet sind, antwortet sie mit einem aufgesetzten Bedauern in der Stimme: „Das wäre sicher ganz toll für uns, Oli, aber ich habe auch eine Neuigkeit, und du wirst sicher gleich ganz stolz auf mich sein.“

Oli blickt verblüfft. „Ja, was hast du denn für eine Neuigkeit?“

„Ich bekomme demnächst meinen ersten Auftrag als Model.“

Auch Olis vor Überraschung weit aufgerissene Augen sind echt.

„Na, was sagst du?“, hackt sie aufgeregt nach.

„Ja, das ist wirklich eine tolle Neuigkeit“, bestätigt er ernüchtert wie ein Marathonläufer, der den Sieg um Haaresbreite an einen Mitkämpfer abtreten musste. „Das finde ich ja ganz super – wirklich!“, hört er sich sagen. Dabei ist er ehrlich bemüht, seine Enttäuschung, so gut er kann, zu kaschieren. Er möchte sich mit Ruth über ihre neuen Zukunftspläne freuen, weil er weiß, dass sie sich nichts sehnlicher wünscht, als in die schillernde Welt der Laufstegmodels einzutauchen. Aber wenn er an ein gemeinsames Leben mit ihr an seiner Seite denkt, dann würde er sich für Ruth einen ganz normalen Beruf wie Verkäuferin oder Friseurin wünschen.

Oli nimmt einen langen Zug aus der Flasche, um seine Enttäuschung hinunterzuspülen, während Ruth aufgeregt auf ihrem Smartphone die jüngsten Postings durchgeht.

„Und wie kommst du zu dem Modelauftrag?“

„Durch Ingo.“

„Wer ist Ingo?“

„Ein ganz lieber Kerl. Du kennst ihn noch nicht.“

„Und woher kennst du diesen Ingo?“

„Aus dem Internet … Er macht ein paar Fotos, schickt sie an so eine Agentur und schon geht’s los. Und weißt du was? Dann läuft der Zaster. Pro Aufnahme gibt’s gleich drei, vier Mäuse bar auf die Hand.“

„Dann kannst du mir ja mein Geld zurückgeben.“

„Das kriegst du schon! Sei mal nicht so knausrig.“

„Ich mein ja nur.“ Oli legt den Arm um ihre Hüften, ehe er leise hinzufügt: „Lass uns noch zu dir gehen.“

„Heute ist ganz schlecht, Oli.“ Ruth hebt ihr Glas und trinkt den Rest auf einmal aus. „Ich muss noch allerhand vorbereiten, weiß du. Morgen soll’s ja schon losgehen.“

„Aber, was musst du denn großartig vorbereiten … als Model?“, wundert sich Oli laut.

Asphaltblüten

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