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Dagmars Badezimmer ist in einen dichten Nebel gehüllt. Endlos lange lässt sie den heißen Wasserstrahl auf ihren Körper prasseln. Immer wieder nimmt sie Duschgel, um sich von Kopf bis Fuß einzuseifen und gleich darauf mit viel Wasser abzuspülen, bevor sie das Ganze wiederholt, bis sie von jedem Zentimeter ihrer Haut die säuerlichen Gerüche der Ausdünstungen der verschiedenen Freier weggeschmirgelt hat. Frischer Duft von Lavendelöl umhüllt sie wie ein reines Laken. Sie weiß nicht mehr, wie lange sie unter dem fließenden Wasser gestanden hat, bis sie sich befreit fühlt. Dann legt sie sich den Bademantel um und geht ins Wohnzimmer, um ihr Handy zu nehmen.

Dagmar Weinerl alias Daisy kann auf eine beachtliche Zahl an Stammkunden blicken. Sie sind der wahre Qualitätsbeweis ihrer mühevollen Arbeit. Keiner der Herren wäre ein zweites Mal wiedergekommen, wäre er nicht beim ersten Mal ganz auf seine Kosten gekommen. Nach und nach hat sich daraus eine Reihe zufriedener Freier gebildet, deren Namen sie in einer Art Kartei verwaltet. In einem dünnen, in schwarzem Leder gebundenen Büchlein hält sie jene Telefonnummern bereit, die sie nochmals kontaktieren möchte. Jeder Kontakt ist mit einem persönlichen Symbol versehen. Und unter all diesen Nummern befindet sich eine, deren Besitzer zu mehr bereit ist als alle anderen Freier zusammen. Dagmar hat ihm als persönliches Zeichen das griechische Symbol für Zeus verliehen. Nach einer kurzen Überlegung wählt sie die Nummer.

„Ne, Stavros Iuannou“, meldet sich eine heisere Stimme.

„Hallo Stavros, hier spricht Daisy“, antwortet sie mit einem lasziven Unterton. „Schon lange nichts mehr von dir gehört.“

„Wie wahr, meine Liebe. Schön zu hören, dass dein Καρδια, dein Herz, Sehnsucht nach mir hat.“ Stavros’ Lachen geht in einen Hustenanfall über, der sich anhört, als müsse er einen ganzen Ameisenhügel herauskeuchen.

„Wo bist du gerade? In Athen?“

„Nein, nein – ganz in deiner Nähe.“

„Wie wär’s, hast du etwas Zeit für mich?“

„Kommt darauf an.“

„Worauf?“

„Wozu du bereit bist, Καρδια.“

„Du kennst mich – bei dir zu allem.“

„Kein Limes?“

„Kein Limes.“

„Gut, sehr gut, sagen wir heute um vier?“, keucht Stavros in das Telefon hinein.

Daisy weiß, er mag keine langen Verhandlungen. Ihm imponieren Menschen mit Mut zu raschen Entscheidungen.

„Vier Uhr, am gewohnten Ort?“, wiederholt Daisy jetzt professionell.

„Am gewohnten Ort.“

Stavros Iuannou gehört zu Daisys allerersten Kontakten. Er war der Auftakt in der Ouvertüre der Liebesspiele. Aus einer Zeitung hatte Dagmar Weinerl erfahren, dass eine Begleitagentur, der Name ist ihr längst entfallen, junge, gebildete Frauen für besondere Anlässe suchen würde, und da sie dringend Geld brauchte, fühlte sie sich angesprochen. Nach einem kurzen Gespräch in einem schäbigen Büro, dessen Firmenschild aus einem auf Pappkarton hingekritzelten, französisch-englischen Wortlaut bestand, war sie für den ersten Auftrag gebucht. Sie hatte noch nie zuvor so etwas gemacht, aber gemäß der Erklärung des Geschäftsführers schien es ganz einfach, denn alles, was man von ihr erwartete, waren angemessene Kleidung und freundliches Benehmen. So ausgestattet, machte sie sich auf den Weg zu ihrem ersten Kunden. Im Auftrag des Escort-Services wurde sie in eine Wohnung im obersten Stockwerk eines Hochhauses aus den Sechzigern mitten in der Stadt beordert. Als sie an der Tür 137 läutete, öffnete eine kleine, untersetzte, ganz in schwarz gekleidete Frau. Sie musterte Daisy von oben bis unten, bevor sie sie eintreten ließ. Daisy folgte der Frau und kam in ein Wohnzimmer, wo sie sich sogleich in der Gesellschaft von fünf weiteren bestellten Damen befand. Auf der Stelle machte sie kehrt und wäre auch schon beinahe wieder beim Lift im Flur angekommen gewesen, als sie die kleine Frau am Arm zurückzog. „Èla“, meinte sie barsch, was wohl so viel wie „Komm schon“ auf Griechisch bedeutete. Sie deutete ihr mit den Händen, dass gute Bezahlung auf sie warten würde. Schließlich ließ sie sich überreden.

Endlich betrat jener Mann das Zimmer, für den dieser Aufwand inszeniert war. Stavros Iuannou. Er blickte kurz in die Runde der geduldig Wartenden, um dann zielgerichtet mit dem ausgestreckten Zeigefinger und mit einer entschlossenen Bestimmtheit auf Daisy zu zeigen. Mit der anderen Hand machte er jene Bewegung, mit welcher er den übrigen Frauen klarmachte, zu verschwinden.

Stavros bot Daisy galant einen Platz in einem breiten Plüsch-Fauteuil an. Dann setzte er sich ihr gegenüber und betrachtete sie eine ganze Weile.

Daisy war sechsunddreißig, schlank, nicht zu groß und nicht zu klein, mit einem hellen, milchigen Teint. Das Gesicht war mädchenhaft zart und hatte etwas Unverbrauchtes. Ihre mandelförmigen Augen ruhten selbstsicher auf dem Betrachter. Nach einer Weile meinte er in einem griechisch durchsetzten Deutsch: „Sie sprechen gut Deutsch, wie ich annehme.“

Daisy nickte.

„Sie können schweigen.“

Daisy nickte.

„Sie haben so etwas wie eine schlechte Erinnerung an Gehörtes oder Gesehenes.“

Daisy nickte wieder.

„Gut so.“ Mit einem einzigen Fingerschnippen zitierte er einen bulligen Mann an seine Seite, der sich bislang diskret im Hintergrund aufgehalten hatte. „Senelos wird Sie heute Abend abholen. Ich erwarte elegante Kleidung und … Sie wissen schon … lassen Sie sich etwas einfallen.“

Wie vereinbart kam die Luxuslimousine zur genannten Zeit, mit Senelos am Steuer. Er stieg aus, öffnete die hintere Wagentür und bedeutete Daisy einzusteigen. In dem edlen Automobil sollten ihr kleine Annehmlichkeiten in süßer Weise die Fahrt verkürzen. Freizügig bediente sie sich an der Bordbar, indem sie teuren Champagner in ein Glas einschenkte, während sie aus einer Schale mit frischen Früchten die Erdbeeren herausfischte. Anschließend schaltete sie das Fernsehgerät ein, nur um den Luxus voll auszukosten. Und während sie sich normalerweise gut an der vorbeiziehenden Landschaft orientieren konnte, wusste sie diesmal nicht, wohin sie der Weg führen würde, was sie in diesem Moment nicht im Geringsten bekümmerte. Daisy ließ sich treiben, sie ließ sich fallen. Sie tauchte in das wohltuende Gefühl ein, das der gebotene Komfort versprühte.

Schließlich hielt die Limousine vor einer Villa, wie sie sie aus Filmen kannte. Das Vestibül war von üppigen Lustern goldgelb erleuchtet, während ausgewählte Skulpturen auf kostbaren, fernöstlichen Teppichen die Gänge flankierten. Rings um sie amüsierten sich elegant gekleidete Damen in Begleitung von galanten Herren. Die edle Atmosphäre strahlte unmittelbar etwas von dem Glanz und der Nobelesse auf sie ab, von der sie augenblicklich wusste, dass sie sie nie wieder missen wollte.

Daisy hatte sich in Schale geworfen und sich extra für diesen Auftritt ein schwarzes Kostüm auf Kredit gekauft. Sie trug den Rock auf Knielänge, den Blazer zugeknöpft, darunter nichts. Als Stavros Iuannou sie unter all den Gästen an der Türschwelle zum Eingang wahrnahm, ging er sichtlich erfreut auf sie zu. Er begrüßte sie mit der Andeutung eines Handkusses und sagte charmant: „Je später der Abend, umso schöner die Gäste.“ Für den Bruchteil einer Sekunde entdeckte sie in seinen schwarzschimmernden Augen den Glanz des Begehrens, was sie bereits in diesem Moment als seine Schwäche für sie interpretierte. Offensichtlich war sie für den ausgefuchsten Geschäftsmann nicht nur eine nüchterne Geschäftsbeziehung. Obwohl alle anderen Frauen den Dienst erfüllen hätten können, hatte er sie ganz bewusst ausgewählt, um sie näher kennenzulernen. Stavros Iuannou war kein Mann der Zufälle. Er war berechnend, zielstrebig, aber galant. Daisy würde später erst erfahren, dass er auch eine andere, abartige Seite besaß.

„Ich bedanke mich für die Einladung. Ein schönes Fest, wie mir scheint“, antwortete sie, sich der Sache gewachsen gebend. Dabei öffnete sie langsam die oberen Knöpfe ihrer Kostümjacke, um ihn einen durchaus vielversprechenden Einblick gewähren zu lassen.

„Ich sehe, Sie haben sich etwas einfallen lassen“, meinte Stavros zufrieden. Er nahm Daisy am Arm und zog sie leicht zur Seite, dann flüsterte er ihr ins Ohr: „Für die nächste Stunde wird diese ehrenwerte Gesellschaft in dem Salon über Geschäftliches sprechen. Ich möchte, dass Sie sich das eine oder andere zwischen den Zeilen merken, ohne es zu notieren, und Allfälliges, das sich mir aufgrund meiner … sagen wir unausgereiften Deutschkenntnisse … möglicherweise entzieht, geistig konservieren. Danach können Sie mit den Herren Ihren Spaß haben, Sie verstehen, was ich meine? Aber … treiben Sie es nicht zu wild, denn sonst muss ich vor Eifersucht platzen.“

Er tänzelte mit Daisy am Arm in den Salon, wo eine Handvoll Männer in ihren Smokings auf die beiden zu warten schien. Noch während Stavros sie der Runde als eine gute Bekannte vorstellte, konnte Daisy beobachten, wie die kleine, runde Frau das Flügelportal hinter ihnen schloss.

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