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Halb auf den Arm gestützt, halb den Kopf an die Registrierkassa gelehnt, gönnt sich Sam zwischen zwei Arbeitsgängen ein kurzes Nickerchen, während eine Fliege über sein Gesicht huscht. Vom Kitzeln aus seinem Traum geweckt, reibt er sich die Augen und blickt einigermaßen vom Schlaf benommen durch die Glasscheibe hinaus ins Freie. Mit einem Schlag ist er hellwach, denn das, was er da auf sich zukommen sieht, kann eindeutig als Problem bezeichnet werden. Aus Rosis Pick-up steigen Mutter und Tochter. Sam kennt die alte Dame mit ihrem Sinn für schwarzen Humor, die er liebevoll Mama Berta nennt. Aber er kennt auch Rosis Ungeduld mit ihrer Mutter. Als er nun den Koffer in Rosis Hand entdeckt, ahnt er, dass die betagte Frau bei ihr einziehen wird, wodurch sich immer wieder Streit zwischen den beiden Frauen – wie bei ihrem letzten Besuch – nicht vermeiden lassen wird. Etwas, das Rosi gerade jetzt nicht auch noch brauchen kann.

Rasch tritt er vor die Schiebetür, sodass sich diese mit dem typischen Atemgeräusch eines Lungenkranken öffnet, und noch ehe er eine Frage stellen kann, sagt Rosi: „Frag jetzt nicht.“ Sie drückt ihm den kleinen Koffer samt ihrer Mutter in die Hand und erklärt gestresst: „Bitte, kümmere du dich darum. Ich habe gerade überhaupt keinen Kopf dafür.“

Sam nimmt das etwas verbeulte Gepäckstück und stellt es zwischen die Toilettentür und den Metallspind. Anschließend nimmt er Berta und setzt sie auf den rollbaren Bürostuhl, der von einer Schicht aus Benzin und Schmieröl überzogen ist. Wie auf einem Spielzeug für Kinder schiebt er die alte Dame damit vor den Tresen, bevor er sagt: „Mama Berta!“, und in seiner Stimme liegt ebenso viel Verwunderung wie Freude. Er holt ein Glas sowie eine Flasche Cognac vom Regal. „Ein Schluck, Mama Berta?“ fragt er, mit der halbvollen Flasche eine entsprechende Andeutung machend.

Während die betagte Frau mit einem kräftigen Nicken das Angebot annimmt, füllt er das Glas und reicht es ihr. „Willkommen im Stop & Go! Hör mal, Mama Berta, wenn du was brauchst, rufst du mich und – kommt sofort.“

„Ja, ja, Herr Kommt-sofort.“ Berta wehrt das durchaus freundliche Angebot mit einer gleichgültigen Handbewegung ab. „Meine Tochter tut so, als wäre ich verrückt, gelähmt und blind in einem. Ich bin ganz klar in der Birne. Ich habe lediglich einmal vergessen, den Gashahn zuzudrehen und wären da nicht meine gierigen Nachbarn, die seit Jahren auf meine Wohnung spitz sind, würde ich dort auch noch wohnen bleiben“, erklärt sie grimmig.

„Wer weiß, Mama Berta, wofür es gut ist?“, beschwichtigt Sam, der Rosis Mutter vom ersten Augenblick an gut leiden konnte. Auch wenn sie sich nach außen kratzbürstig gibt, ihr Inneres ist wie aus flüssiger Schokolade.

„Für gar nichts ist es gut“, meint Berta noch immer mürrisch.

Ohne Vorwarnung ergreift Sam den auf drei Rädern ruhenden Bürostuhl und schiebt ihn ans Fenster.

„Was soll das?“, protestiert Berta, die von der Bewegung überrascht unsicher mit den Armen in der Luft herumwirbelt.

„Hier hast du alles im Blick und Sonne bekommst du auch.“

„Ich mag keine Sonne.“

„Sonne braucht der Mensch. Ist gut für Vitamine, Mama Berta.“

„In meinem Alter brauche ich keine Vitamine.“

„Mama Berta, bist du nicht Mensch?“ Sam stellt die Frage so, als ob es eine alternative Antwort gäbe.

„Schon lange nicht mehr“, murrt sie unüberhörbar, und was sich vielleicht witzig anhören sollte, hat den bitteren Nachgeschmack von Enttäuschung an sich kleben. „… oder zumindest seit heute nicht mehr.“

„Man ist Mensch, wenn man wie Mensch lebt. Man ist Schwein, wenn man wie Schwein lebt“, erklärt er ernst.

„Und wenn man allein lebt?“

„Dann ist man Wurm, Mama Berta.“ Sam muss über seinen philosophischen Erguss lachen. Er will sich von der kantigen Alten nicht aus der Reserve locken lassen.

„Apropos Wurm. Warum bist du eigentlich hier?“

„Mama Berta …“ Sam macht mit der Hand eine Geste, die auf eine endlos lange Geschichte verweisen soll. Nachdenklich räumt er den Geschirrspüler aus, poliert die Gläser, bevor er sie in das Regal zurückstellt. „Das ist eine lange Umugani.“

„So lange kann sie gar nicht sein, deine Umugani, dass sie mir im Moment zu lange wäre.“ Gleichmütig zieht Berta ihre Schultern nach oben, um dem Verdruss ihrer Situation Ausdruck zu verleihen.

Berta Schaffherr war es gewohnt, allein zu leben, bis sie nun gezwungenermaßen an ihre Tochter gebunden wurde. Dabei sind sich Mutter und Tochter so fremd wie eine Seerose und ein Edelweiß. Mama Berta hat die meiste Zeit ihres Lebens allein gelebt. Nach der einen großen Liebe, aus der Rosi hervorgegangen war, schien keine neue Partnerschaft auf sie zu warten. Alleinstehend zu sein, erklärt sie, würde zumindest den Vorteil in sich bergen, keine Anpassung leisten zu müssen. Im Moment jedoch ist sie alles andere als frei und unabhängig. Zu dem kommt, dass die Demütigung, wie ein ungezogenes Kind behandelt worden zu sein, sich wie eine Klette in ihrem Gemüt festgekrallt hat.

Sam weiß, dass in solchen Momenten nur Zerstreuung Erleichterung verschafft. Da es seine Arbeit zulässt und um der alten Frau die Zeit zu verkürzen, beginnt er mit seiner Geschichte. „Das Stop & Go ist das Ende eines langen Weges, meines langen Weges.“ Still lächelt er in sich hinein. „Dass ich hier bin, verdanke ich meiner kaputten Hand.“ Sam hebt zum Zeichen des Beweises seinen linken Arm, sodass sich das schwarze Arbeitshemd nach hinten schiebt und die Hand bis zum Handgelenk frei wird. „Weil sie zum Arbeiten nicht mehr getaugt hat.“ Daumendick zieht sich eine pflaumenblaue Narbe wie ein Reißverschluss von der Speiche bis in die Mittelhand.

Die ungelenke Seniorin beugt sich nach vorne, um die Stelle zu berühren. Dann presst sie ihre schmalen Lippen zusammen, verwundert den Kopf schüttelnd.

„Aber dazu später.“ Sam wirft das Geschirrtuch schwungvoll über seine Schulter, setzt sich zu Mama Berta und ohne, dass sie ihn darum bitten muss, beginnt er zu erzählen: „Es war im April 1994, da kam es in meiner Heimat Ruanda zu einem riesigen Abschlachten. Hutu gegen Tutsi. Hunderttausende starben. Ach, was sage ich, Millionen starben. Tutsi hatten versucht in Kiriziya, also in Kirchen, vor den Hutu Schutz zu suchen, aber vergebens. Mit Äxten, Hacken, Eisenstangen gingen Brüder auf Brüder los. Sie erschlugen Männer, Frauen und Kinder und warfen sie in die Fluten des Nyabarongos, bis sein Wasser rot war. Wie Treibholz schwammen die aufgeblähten Leiber dahin.“

„Du bist Tutsi?“

Sam nickt.

„Und deine Familie?“

Er stockt, dann dreht er sich zur Seite und fischt eine Träne wie ein Sandkorn mit dem Daumen aus dem Augenwinkel. Betretene Stille breitet sich im Stop & Go aus. Berta erhebt sich aus dem klapprigen Bürostuhl auf Rädern und klopft Sam tröstend auf den Rücken. Sie will die Antwort gar nicht erst hören, doch da sagt er bereits: „Niemand – niemand hat überlebt.“

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