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Zu keiner Tageszeit fühlt sich Rosi Neuhauser im Stop & Go wohler als am Morgen. Das mag einerseits an dem feinen aromatischen Duft nach frischem Kaffee und warmen Brötchen liegen und andererseits daran, dass ihre Kundschaft noch nicht von der Hast des Tages ergriffen ist, die sie ungeduldig und gereizt macht. Die Kunden nehmen sich Zeit für ein Frühstück und eine Zeitung oder einen kurzen Plausch für die Dauer einer Zigarette. Später am Tag werden die Menschen einsilbig und das Interesse für ihre Mitmenschen verschwindet.

Die Sorgen holen Rosi früh aus dem Bett. Auch an diesem Morgen, als sie um fünf Uhr dreißig im Bistro ihren Dienst beginnt. Es kommt ihr gelegen, dass bis auf einen Tisch, an dem zwei von der nächtlichen Fahrt erschöpfte Biker sitzen, noch niemand im Lokal ist. Sie will so früh am Tag ihre Bücher und Kontostände durchgehen, um eine überschlagsmäßige Erfolgsrechnung der vergangenen Monate aufzustellen.

Rosis profunde Kenntnisse in Buchhaltung stammen aus der Zeit, in der sie in einer kleinen Drei-Mann-Steuerberatungskanzlei als Schreibkraft gearbeitet hat, wobei sie sich später durch einschlägige Kurse zur Lohnbuchhalterin emporgearbeitet hat. Zahlen faszinieren sie. Sie stellen für sie das Ausdrucksmittel einer klaren Sprache dar. Einer Sprache, der jegliche Emotionalität fehlt, weshalb sie weder falsch interpretiert noch irrtümlich verstanden werden kann. Zahlenspiele werfen keine Fragen auf, sondern geben klare Antworten.

Nun rechnet Rosi die Zahlenkolonnen rauf und runter. Sie vergleicht sie peinlich genau mit dem Zahlenmaterial aus dem Vorjahr und stellt Hochrechnungen an. Ein mögliches Kapital für Investitionen soll ermittelt werden. Jedes Komma, jede Null zählt. Aber wie sie auch rechnet, es bleibt ihr nach Abzug der faktischen Ausgaben keine ausreichend große Summe für einen neuen Treibstofftank über.

Unter den ganzen Kontenblättern und Ordnern fällt ihr erneut das kleine Zettelchen mit jener Telefonnummer in die Hände, die immer unleserlicher wird, je öfter sie das Stück Papier aus der Tasche nimmt. Wie bei einem Placebo eines Medikaments tut schon die bloße Existenz seine Wirkung, da Rosi spürt, wie sich ihr Herzschlag verlangsamt, wenn sie den Zettel in den Händen hält. Diese Nummer könnte ihr Joker sein. Sollte der nüchtern angestellte Zahlenvergleich einen möglichen Infarkt des Geschäftes abzeichnen, wird sie wohl oder übel von dem Angebot Gebrauch machen müssen.

Ihr Handy ist es, das sie jäh aus der Kopfarbeit herausholt. Gestresst blickt sie auf das Display, auf dem sie zunächst eine unbekannte Nummer feststellt, was sie im ersten Moment etwas stutzig macht. Doch es ist nicht die Nummer auf dem Papier. Also nimmt sie das Gespräch an.

„Neuhauser. – Wer? – Meine Mutter? – Ich verstehe. – Ich komme sofort!“

Umgehend beendet sie das Telefonat und lässt alles liegen und stehen. Dann ruft sie: „Sam, ich muss zu meiner Mutter! Irgendein Vorfall. Genaueres weiß ich nicht.“

„Kommt sofort!“, antwortet Sam wie üblich und gut gelaunt, als er gerade zur Tür hereinkommt, um seinen Dienst anzutreten.

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