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Es ist Mittagszeit. Wie zähe Magma treiben die Automobile langsam auf den Straßen dahin. Von allen Seiten drängen Autofahrer in den trägen Strom hinein, um langsam vorantreibend an einer anderen Stelle wie Teigpatzen aus einer Knetmaschine ausgeschieden zu werden.

Die mittägliche Hektik überträgt sich auch auf Rosi und Sam. Annehmen, herrichten, kassieren, reden, servieren. Die Tätigkeiten gehen fließend ineinander über, ohne einer bewussten Überlegung zu bedürfen.

„Wer ist der Nächste? Der Nächste bitte!“, rufen sie abwechselnd den Leuten zu, um zu verhindern, dass Zeit vergeudet wird. Jeder möchte so rasch wie möglich seine Fahrt fortsetzen, lange Aufenthalte an Raststationen sind nicht eingeplant. In all dem Gewühle von ungeduldig anstehenden Menschen, die, das Geld schon in den Händen haltend, nur darauf warten, dass Sam ihnen ein Tablett mit Speisen und Getränken entgegenstreckt, geht eine durchaus respektable Erscheinung gänzlich unter, die bei etwas ruhigerem Geschäftsgang Sam sofort ins Auge gefallen wäre.

Wie ein Wolf inmitten einer unruhigen Herde Ziegen treibt ein hochgewachsener junger Mann zusammen mit einer Familie durch die Schiebetür herein. Bedächtig nimmt er seine Sonnenbrille ab, um sich in der künstlichen Beleuchtung des Lokals schneller zurechtzufinden. Und so, als würde er nach einem freien Platz Ausschau halten, lässt er seinen Blick über das dichte Gedränge schweifen. Nach einem kurzen Moment der Orientierung schreitet er in den schneeweißen Sneakers leichtfüßig und zielstrebig auf den Ort seiner Bestimmung zu.

„Hi“, meint er lässig, ohne die Hände aus den Taschen der Lederjacke zu nehmen. „Du bist wohl Ruth? – Ich bin Ingo.“

Wie vom Blitz getroffen starrt die junge Frau, die gerade damit zu tun hat, die Postings ihres Freundeskreises zu kommentieren, auf die Neuerscheinung im Bistro. Könnte er ihr Herz jetzt pochen hören, er würde sie gar nicht erst verstehen, so laut hämmert es in ihrer Brust. An Ingo hat sich die Schöpfung in überschwänglicher Weise ausgetobt. An ihm ist alles so, wie Ruth sich einen Mann vorstellt. Groß, schlank, blond, perlweiße Zähne hinter dem verführerischsten Lächeln, das die Welt je gesehen hat. Wie das geniale Werk eines Bildhauers lässt er der Betrachterin keine andere Wahl, als ihn fortwährend entzückt anzusehen. Dieser Mann kann alles von ihr haben, so viel steht für Ruth fest.

„Ja, genau. Ich … bin … Ruth“, stammelt sie vor Begeisterung und vor Unsicherheit zugleich.

Ingo zieht den Stuhl vom Nebentisch heraus und setzt sich rittlings darauf. „Nicht schlecht“, meint er beiläufig. Dabei beäugt er sein Gegenüber ungeniert vom Kopf bis zu den Füßen, vor allem die Beine scheinen es ihm angetan zu haben.

„Wie groß bist du?“

„Eins zweiundachtzig.“

„Das ist zwar gerade mal untere Grenze“, er scheint zu überlegen, „aber das heißt ja nichts. Und was hast du auf dem Gebiet schon alles gemacht?“

Für Ruth ist und war es nie eine große Sache, Leuten etwas vorzuschwindeln, solange sie nur selbst davon überzeugt ist. Diesmal aber ist sie so restlos entwaffnet, dass sie aufrichtig, als wäre sie an einen Lügendetektor angeschlossen, Rede und Antwort steht. Nur mit der uneingeschränkten Offenheit möchte sie diesem Fachmann begegnen, denn alles andere wäre Dilettantismus, und den würde gerade Ingo sofort durchschauen. Weshalb sie ehrlich einräumt: „Eigentlich habe ich noch gar nichts gemacht.“

„Umso besser“, freut er sich und klopft sich auf die Oberschenkel. „Ein komplett neues Gesicht. Das will die Branche. Ein neuer Stern am Himmel. Und ich bin es, der ihn aufgehen lässt.“

Ingo ist kein unbeschriebenes Blatt. Allerdings nicht auf dem Gebiet der Modelfotografie, sondern vielmehr auf dem der Kleinkriminalität. Sein Spezialgebiet heißt Betrug. Dabei geht es nie um viel, wie er es auszudrücken pflegt, aber doch um genug, dass er gut davon leben kann und dass er zwischen Mailand und Hamburg polizeilich gesucht wird. Ingo ist gelernter Versicherungskaufmann und hätte in diesem Fach sein Auslangen finden können, wenn er den Bogen nicht damals schon überspannt hätte. Mit fingierten Polizzen über diverse Versicherungsgeschäfte lenkte er geschickt Prämienzahlungen auf sein eigenes Konto. Was jedes Mal solange gut ging, bis tatsächlich ein Schadensfall eingetreten war und der Versicherte sich schadlos halten wollte. Da das Versicherungsunternehmen nichts von einem Versicherungsverhältnis wusste, war der Geschädigte leer ausgegangen. Gezwungenermaßen stieg Ingo aus dem Geschäft mit den Polizzen aus und konzentrierte sich kurzerhand auf etwas Neues: Gutgläubigen das Blaue vom Himmel herunter versprechen. Er verkaufte Haarwuchsmittel für Männer mit Vollglatze, Schlankheitswässerchen, Raucherentwöhnungskissen und vieles mehr. Jeder Wechsel des Geschäftszweiges zog einen Wechsel des Aufenthaltes nach sich. Vor einiger Zeit hat er die Sparte der Modelvermittlung für sich entdeckt, indem er jungen Mädchen die große Karriere als Fotomodel am Catwalk verspricht. Von Hamburg bis Rom, von Paris bis L. A. gibt Ingo vor, einflussreiche Persönlichkeiten zu kennen.

„Und du bist dir ganz sicher, dass du das durchziehen möchtest?“, fragt er scheinbar bemüht.

Und was sich für Ruth aufgesetzt anhört, trägt tatsächlich so etwas wie Aufrichtigkeit in sich, denn Ingo lässt sich von allen seinen Opfern vorab bestätigen, dass sie bereit sind, mit ihm diesen Weg zu gehen.

„Ja, ganz sicher“, lächelt Ruth stolz und präsentiert dabei ihre makellosen Zähne.

„Dann soll es so sein. Du musst wissen, in dieser Branche kommen nur die ans Ziel, die ein eisernes Durchhaltevermögen haben. Es wird nicht einfach und am Anfang wird man allerhand von dir verlangen. Aber keine Angst, ich helfe dir, wie ich nur kann. Schließlich kenne ich die besten Leute in der Branche. Du kannst dich auf mich verlassen … Und Kleines …“ Ingo wählt bewusst den fast schon intimen Kosenamen, um ihr seinen vermeintlichen Beschützerinstinkt aufs Herz zu drücken. „Für dich wird diese Welt hier bald zu klein sein – das verspreche ich dir.“ Er nimmt Ruths Glas mit dem Aperitif. „Auf uns…“, er blickt der jungen Frau tief in die Augen, „warten Paris, London oder Sydney“, erklärt er pathetisch.

Zufrieden blinzeln sich beide an. Ingo weiß jetzt, worauf Ruth scharf ist, und er ist fest entschlossen, seinen Plan durchzuziehen.

„Da wäre dann nur noch das Formelle“, fügt er wie nebenbei hinzu. „Bevor ich mit den ersten Aufnahmen beginne, müsstest du mir eine kleine Anzahlung leisten. Nicht viel, so viel du halt geben kannst. Das Geld ist für diverse Eintragungsgebühren, Internetauftritte und so weiter und so weiter, bevor wir dann ein Portfolio von dir anlegen.“

„Okay, und wie viel soll das sein?“, fragt Ruth ein wenig ernüchtert.

„Was kannst du denn geben?“

„Ich weiß nicht … Fünfzig vielleicht?“

„Das ist ein bisschen wenig. Da bekommst du halt nur die schlechtesten Plätze im Katalog.“ Ingo verzieht sein Gesicht, als hätte er in eine saure Zitrone gebissen.

„Hundert?“

„Schon besser, aber auch noch kein wirklich guter Platz. Du musst dir vorstellen, in so einen Katalog tragen sich die hübschesten Mädchen der ganzen Welt ein. Die Konkurrenz ist groß. Tausende Mädchen wollen in den Katalog.“

„Dreihundertfünfzig?“, bietet Ruth, das Äußerste wagend.

„Das ist ein Wort. Ich verspreche dir, dass du ganz vorne auf der ersten Seite mit einer spitzen Aufnahme bist. Mit der besten Aufnahme, die der Kasten hergibt. Vielleicht … mit etwas weniger Kleidung.“ Ingo lehnt sich nach vorne, um in Ruths Ausschnitt zu blicken, während er ein ironisches Lachen unterdrückt.

„Findest du, dass ich das Zeug dazu habe?“

„Wenn nicht du, wer dann?“

„Ehrlich, Wahnsinn! Wenn ich das dem Oli erzähle!“ Ruth ist es vor Aufregung ganz heiß geworden. Ihre Wangen glühen vor Begeisterung. Egal wie lange so ein Shooting dauern wird, für sie wird es kein Ermüden geben, bis die besten Aufnahmen im Kasten sind.

„Deinem Freund musst du nicht gleich davon erzählen. Du musst wissen, die Auftraggeber mögen es nicht, wenn die Mädchen schon vorab im Internet die Runde gemacht haben. Sonst sind sie ja keine neuen Gesichter mehr. Verstehst du?“

„Ja sicher doch. Ist doch klar.“

Das Wesentliche ist für Ingo geschafft. Ruth ist am Haken. Jetzt geht es nur mehr darum, ein paar Termine zu vereinbaren und ein paar einfache Fotos mit seiner Sofortbildkamera zu schießen … und die Kuh kann zur Schlachtbank geschleppt werden. Ingo hat aus den Reaktionen der jungen Frau längst kapiert, dass sie zu allem bereit sein wird. Mal sehen, ob sie bei näherer Betrachtung hält, was seine Menschenkenntnis verspricht. Nur bei dem Gedanken an diesen Oli verspürt er ein leicht flaues Gefühl in der Magengrube. Bei seinen Geschäften hat sich erwiesen, dass jeder Akteur mehr auf der Bühne das Schauspiel nur unnötig in die Länge zieht und gleichzeitig ein größeres Risiko darstellt, ihn womöglich vorzeitig zu entlarven.

„Wann starten wir?“, fragt er ihre Antwort längst ahnend.

„Morgen?“, sagt Ruth und strahlt ihn mit verführerischem Blick an. Und zum ersten Mal bei diesem Treffen nimmt sie das Ruder in die Hand und gewinnt etwas von ihrer altbekannten Souveränität zurück. „Und wo?“

„Natürlich in meinem Atelier. Wo sonst?“

Allein das Wort Atelier ruft vor Ruths geistiges Auge die Bilder der großen weiten Welt der Models, von der sie immer schon geträumt hat. Von nun an arbeitet sie in einem Atelier und wartet nicht mehr länger darauf, dass ein Personalleasingbüro für eine Aushilfsarbeit anruft.

Asphaltblüten

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