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Portugal: Das Unmögliche ist tatsächlich wahr geworden

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Der Sommer 2016 war für mich sehr verworren. Zumindest emotional. Denn alles kam ganz anders, als ursprünglich geplant. Kaum aus Malaysia zurück erwartete mich bereits die erste Hiobsbotschaft. Ich hatte gerade die Eingewöhnung mit meinem Sohn bei der Tagesmutter erfolgreich hinter mich gebracht und scharrte bereits mit den Hufen, weil es in ein paar Tagen wieder in meinem Beruf weitergehen sollte, als plötzlich ein Anruf meine gesamte Planung durchkreuzte. Mein Chef war dran.

»Gabriela, ich muss dir leider mitteilen, dass wir uns entschieden haben, uns von dir zu trennen … Deine Kündigung ist gestern Abend mit der Post rausgegangen«, sagte er in einem sachlichen Ton.

Ich schluckte. Obwohl mir die Bedeutung dieser Worte selbstverständlich bekannt war, musste ich den Inhalt erst mal begreifen. Hatte er gerade TATSÄCHLICH Kündigung gesagt? Allmählich sah ich vor meinem inneren Auge, wie sich ein unsagbar tiefes Loch auftat und mein Leben, das ich mir jahrelang Stück für Stück aufgebaut hatte, wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel und in die Tiefe stürzte. Ohne Ankündigung. Ohne Pauken und Trompeten. Und während ich jeder einzelnen Karte zusah, wie sie still und klammheimlich in diesem unsagbar tiefen Loch verschwand, fühlte ich, wie mein Puls heftig gegens Handy pochte.

Ein paar Tage später hatte ich die Nachricht einigermaßen verdaut. Zwar hatte sie ordentlich an meinem Selbstvertrauen genagt, aber es musste ja weitergehen. Und ich hatte auch schon eine Idee, wie. Mein Ex-Chef und ich hatten uns geeinigt, dass meine Kündigungsfrist aus Kulanz verlängert wird und ich ab sofort freigestellt war. Zu meinem vollen Gehalt. Das verschaffte mir natürlich ein gutes zeitliches und auch finanzielles Polster, um mich in Ruhe zu bewerben und zur Überbrückung meine Selbstständigkeit aufzubauen. Ich war positiv gestimmt und der festen Überzeugung, dass ich mit meinen Erfahrungen und meiner Expertise sehr schnell einen neuen Job finden würde. Zum Glück ahnte ich zu jenem Zeitpunkt noch nicht, dass ich mit meiner Annahme gänzlich danebenlag. Das hätte zweifelsohne meine anfängliche Motivation kläglich dahinschwinden lassen. Jetzt fühlte ich mich allerdings noch voller Tatendrang und Euphorie, weil ich fest daran glaubte, dass für mich bald an einer anderen Stelle eine neue Tür aufgehen würde.

Ich schrieb Bewerbungen, baute mir ein gutes Netzwerk in meiner Branche auf, erstellte eine eigene Homepage, erledigte ab und zu mal kleine Projekte für unterschiedliche Kunden und arbeitete wie eine Wilde an meinem Blog.

In meinem Kopf schwirrten noch die unterschiedlichsten Ideen, Konzepte und Strategien, als unsere Tagesmutter mich eines Morgens an der Türschwelle mit der Nachricht empfing, dass sie operiert werden musste und für sechs Wochen ausfiel.

***

Ich musste raus. Anderswo zu sein war für mich leichter. Kurzerhand mietete ich für zwei Wochen ein WG-Zimmer in Lissabon. Da war ich wieder, in der Stadt meiner Erasmus-Semester, und teilte mir mit meinem Sohn und fünf Studenten aus den unterschiedlichsten Ländern eine Wohnung. Ich schlenderte durch die kleinen Gassen, entdeckte immer wieder Ecken, die ich noch nicht kannte, und schwelgte in Erinnerungen an meine eigene Studentenzeit in dieser Stadt.

Nach zwei Wochen kam auch mein Mann nach Portugal. Mit meinem Sohn holte ich ihn vom Flughafen ab, gemeinsam stiegen wir ins Auto und fuhren einfach los. Erst in die tiefe Einöde des Alentejos, wo wir bei sympathischen Orangenbauern wohnten, die uns von der ersten Minute an in ihrem Familienkreis aufnahmen. Danach ging es weiter nach Évora, Tomar, Coimbra, Aveiro und in die malerische Landschaft im Douro-Tal. Und während wir gemächlich durchs Land reisten, wurden wir Zeugen eines unvergesslichen portugiesischen Sommermärchens. Es waren die Wochen der Fußball-Europameisterschaft, in denen die Nationalmannschaft Portugals das Unmögliche wahrmachte, auch wenn zuvor keiner so recht an einen Sieg dieser kleinen Nation am Rande Europas – die zudem noch nie eine Fußballmeisterschaft gewonnen hatte – glauben wollte. Portugal kämpfte. Von einem Spiel zum nächsten. Gegen Ungarn, Österreich, Island, Wales. Und während ein ganzes Land den Atem anhielt, durften wir hautnah all die portugiesischen Emotionen zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt miterleben.

Pünktlich zum Finale gegen Frankreich erreichten wir die Stadt Porto. Um 18 Uhr waren die Straßen bereits brechend voll. Freudig erregt schwangen die Portugiesen ihre rot-grünen Fahnen. Hier und da ertönte ein motivierendes Portugal alé. Kleine Kinder liefen mit stolz geschwellter Brust und ihrem Nationalhelden Cristiano Ronaldo auf dem Shirt durch die Gassen. Alle spürten es, dieses Knistern in der Luft. Diese bedeutungsvolle, historische Atomsphäre, die zwischen völliger Euphorie und ängstlichem Bangen pendelte. Auch wir liefen nervös durch die Straßen und fieberten voller Eifer dem Spiel entgegen. Mit einem flauen Gefühl im Bauch schafften wir es dennoch, zu Abend zu essen, und hofften anschließend darauf, dass unser Sohn im Buggy einschlafen würde, damit wir in Ruhe das Finale anschauen konnten. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Die energiegeladene Stimmung in den Straßen Portos färbte auch auf meinen Sohn ab. Er war hellwach. Keine Spur von Müdigkeit in seinem Gesicht. So schwenkte auch er freudig erregt die portugiesische Fahne und brummte dazu irgendwelche melodiösen Laute. Nun gut, wir gaben nicht auf, vielleicht würde er irgendwann müde werden. So schoben wir den Buggy übers holperige Kopfsteinpflaster von einer Leinwand zur nächsten, drängten uns an hitzigen Menschenmassen vorbei, um am nächsten Bildschirm ein paar Spielszenen zu verfolgen.

Zu Beginn des Spieles wurde an jeder Ecke noch gelacht, getrunken und gefeiert. Doch schon kurze Zeit später stand jedem Portugiesen die Anspannung buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Die Mimik erstarrte. Die anfängliche Euphorie war spurlos verschwunden. Stattdessen hatte die endlose Phase des Zitterns begonnen. Ein wehklagendes Raunen zog durch die Gassen Portos, als plötzlich Cristiano Ronaldo nach einem Foul mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden fiel. Er verließ das Feld. Panik kam auf. War das das frühzeitige Ende? Wenig später kehrte Cristiano mit einer Bandage zurück ins Spiel. Kurzzeitig entspannten sich die Gesichtszüge der Portugiesen. Hoffnung keimte auf und zerschlug im Nu: Cristiano stürzte erneut, blieb auf dem Rasen sitzen und weinte bitterlich vor Schmerz und Enttäuschung. Und während er seine Kapitänsbinde an seinen Teamkollegen abgab und dieser sie mutig entgegennahm, weinte eine ganze Nation stumm mit ihrem portugiesischen Fußballhelden.

Das Spiel ging weiter. Ohne Cristiano. Und die Stimmung wurde von Minute zu Minute erdrückender. Keiner wagte, es auszusprechen, doch es spukte in den kollektiven Köpfen: Es schien so, als ob das Schicksal besiegelt war. Doch die Seleção Portuguesa gab nicht auf. Und obwohl das französische Team phasenweise deutlich überlegen war, hatte es doch eine Vielzahl an Chancen vergeben. Mit Ach und Krach retteten sich die Portugiesen in die Verlängerung. Und … dann … ENDLICH! In der 109. Minute nahm der kurz vorher eingewechselte Eder den Ball an. Er lief mutig los. JETZT ODER NIE! Voller Entschlossenheit schoss er aus 20 Metern Entfernung aufs Tor. Und tatsächlich versenkte er den Ball im Netz. Frenetischer Jubel erfüllte die Straßen Portugals. Freudetaumelnd lag sich eine ganze Nation in den Armen. Hüpfte, tanzte und schrie. Die Hoffnung war nach Portugal zurückgekehrt, erfüllte die Menschen, sprach ihnen Mut zu. Die nächsten Minuten fühlten sich wie endlose Stunden an. Frankreich versuchte zu kontern. Vergebens. Irgendwann fingen die Menschen auf den Straßen an, die Sekunden runterzuzählen. Sie wagten nicht, zu atmen, bis endlich der erlösende Abpfiff ertönte. Cristiano und seine Mannschaft lagen sich weinend in den Armen und die restliche Nation ebenso. »Campeão«, schrien sie unisono. Meister. Portugal é campeão!

Das Unmögliche war tatsächlich wahr geworden. Das sollte gebührend gefeiert werden. Mit der größten Party in der portugiesischen Geschichte. Und meine Familie und ich durften diesen historischen Moment hautnah miterleben. Was für ein unsagbar großes Glück. Ich war zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gewesen. Und ich hatte etwas erkannt, was die vergangenen Monate nicht mehr in meinem Kopf präsent gewesen war. Es ist nicht schlimm, wenn man zu Boden geht, vielmehr kommt es darauf an, dass man den Mut nicht verliert und weiterkämpft.

Am nächsten Morgen klingelte mein Handy. Etwas verkatert vom glorreichen Sieg ging ich ran. Die Personalchefin einer Firma, bei der ich mich ein paar Wochen zuvor beworben hatte, war dran und lud mich zu einem Vorstellungsgespräch ein. In drei Tagen.

Ich legte auf. Was für ein berauschender Abschluss. Am letzten Tag unserer Portugalreise fühlte ich mich so, als ob ich durch die Straßen Portos schweben würde. Ich war voller Elan, Zuversicht und Euphorie – und fest davon überzeugt, dass jetzt alles gut werden würde. Doch ich hatte mich geirrt. In den kommenden Wochen wurde nichts gut. Sondern nur noch schlimmer. Und somit ging meine persönliche Verworrenheit weiter.

Wie Buddha im Gegenwind

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