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Bulgarien: das zahnlose Lachen

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Während der deutsche Sommer sich seinem Ende zuneigte, suchte ich im Internet verzweifelt nach einem preiswerten Flug. Mein altbewährtes Heilmittel, um ein paar Wochen zu überbrücken. Denn die Tagesmutter war erneut krank.

Nach wenigen Minuten wurde ich fündig. In 48 Stunden sollte es nach Bulgarien gehen, von dort aus nach Griechenland und wieder zurück nach Sofia. Die nächsten drei Wochen waren also gerettet. Ich klappte zufrieden den Laptop zu und rief meinen Mann an, um ihm von meinen Plänen zu erzählen. Er wusste, wie schwer es mir zu Hause fiel, einen klaren Kopf zu bewahren, und hatte sich mittlerweile an meine sehr spontanen Reisen gewöhnt. Mit einem leichten Zähneknirschen gab er mir seinen Segen.

Völlig unvorbereitet kamen mein Sohn und ich spät nachts in Sofia an. Ich hatte mich vorab kaum über Bulgarien informiert und gar keine Ahnung, was mich auf dieser Reise erwarten würde. Kurz bevor der Flieger in Hamburg startete, buchte ich noch schnell ein günstiges Zimmer in einem Hostel. Ein paar Stunden später öffnete uns Tatiana die Tür. Sie erzählte mir, dass sie selbst aus der Ukraine kam und gemeinsam mit ihrem russischen Freund Ivan erst kürzlich dieses Hostel eröffnet hatte. Während sie meine Personalien in einem dicken Buch auf der ersten Seite notierte, schaute ich mich um und dachte: Oje, wo bin ich denn gelandet? Die Unterkunft war schäbig und in keinem guten Zustand.

Am nächsten Tag wurde mein erster Eindruck verstärkt. Das gemeinschaftliche Badezimmer war eine Katastrophe, und auf dem Flur begegneten mir hauptsächlich Männer aus Kasachstan, Armenien und Aserbaidschan, die zum Arbeiten nach Bulgarien gekommen waren. Ich überlegte, ob ich mir für die nächsten Tage eine andere Unterkunft suchen sollte, aber Tatiana unterbrach meine Gedanken. Sie lud mich auf einen Kaffee auf dem gemeinschaftlichen Hof ein und hatte extra für meinen Sohn vom Markt frisches Obst und Brot mitgebracht. Ivan war auch schon da und fing sofort an, komische Fratzen zu machen. Mein Sohn konnte sich vor Lachen kaum einkriegen. Er hatte sichtlich Spaß mit dem großen russischen Mann, der partout kein Wort Englisch sprach. In der aller-, allerhintersten Ecke in meinem Gehirn kramte ich nach ein paar russischen Sprachbrocken. Schließlich hatte ich auf dem Gymnasium ein paar Jahre Russisch als dritte Fremdsprache gehabt. Ivans Gesicht strahlte sofort bei meinem ersten спасибо, dabei hatte ich mich doch nur bedankt. Mit einem breiten Grinsen fing er an, ohne Punkt und Komma irgendetwas auf Russisch zu erzählen. Bis auf ein paar Wörter verstand ich gar nichts. Aber dennoch fand ich Ivan mit seinen überproportional großen Händen ganz sympathisch. Ich entschied mich, im Hostel zu bleiben.

Tatiana brachte mir einen Kaffee und fing an, von der Ukraine zu schwärmen. Von der wunderschönen Stadt Kiew am Fluss Dnepr, deren Menschen gerade eine sehr schwere Zeit durchmachten. Das war auch der Grund, warum Tatiana sich entschlossen hatte, ihre geliebte Heimat zu verlassen. Wenn die politische Krise vorbei ist, wollte sie zurückkehren. Aber das wird sicherlich noch viele Jahre dauern, sagte sie bedauernd. Ich gestand ihr, dass ich von ihrem Land so gar kein Bild hatte und eigentlich ausschließlich an die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl und die blutigen Proteste auf dem Maidan denken musste. Tatiana schüttelte den Kopf.

»Fällt dir denn zur Ukraine nicht irgendetwas Positives ein?«, fragte sie mich hoffnungsvoll.

Ich musste angestrengt nachdenken. »Aber natürlich! Die Klitschko-Brüder«, erwiderte ich freudestrahlend. Im darauffolgenden Moment kam ich mir jedoch extrem ungebildet vor, weil ich über die Ukraine praktisch gar nichts wusste.

Tatiana hatte meine Verlegenheit bemerkt. Sie lachte und meinte: »Dann wird es dringend Zeit, dass du mein Heimatland besuchst.«

Ich erwischte mich bei dem Gedanken, dass ich mir gar nicht so sicher war, ob ich wirklich Lust hatte, in die Ukraine zu reisen.

Als ob Tatiana meine Gedanken gelesen hätte, fragte sie in einem freundlichen, fordernden Ton: »Versprichst du es mir? Versprichst du mir, dass du bald in die Ukraine reisen wirst, um dich selbst davon zu überzeugen, dass mein Land weitaus mehr zu bieten hat, als Tschernobyl, den Maidan oder die Klitschko-Brüder?«

Ja, wieso eigentlich nicht, dachte ich. Aber jetzt musste ich erst mal ein ganz anderes Land erkunden. Bulgarien.

***

Am Abend saßen wir in einer großen Runde erneut im gemeinschaftlichen Hof und ließen den Tag Revue passieren. Tatiana, Ivan, Mahmud, der junge Chi, der in seiner Heimat China sein Medizinstudium abgebrochen hatte, und einige andere. Ivan stellte in die Mitte des Tisches eine große Flasche Rakia.

»Bulgarischer Traubenschnaps«, erklärte er trocken und schenkte mir dabei großzügig ein. Kaum hatte ich mein Glas ausgetrunken, füllte er ganz nach den Regeln der russisch-bulgarischen Gastfreundschaft bereits das nächste ein. Obwohl mein Sohn nebenan tief und fest schlief, wusste ich, dass nach dem zweiten Glas Rakia für mich Schluss war, wenn ich in den nächsten Tag ohne pochende Kopfschmerzen starten wollte. Dennoch beteiligte ich mich weiter am regen Gespräch. Sie waren alle aus den unterschiedlichsten Gründen nach Sofia gekommen und hatten ihre ganz eigenen Geschichten, die unterschiedlicher nicht hätten sein können.

Chi hatte zu Hause gegen die traditionellen Konventionen des chinesischen Staates und seiner konservativen Eltern rebelliert. Er wollte seinen eigenen Weg bestimmen, hatte den Rucksack gepackt und suchte auf unbestimmte Zeit sein Glück in Europa. »Zumindest solange mein Geld ausreicht«, erklärte er uns. Auf seiner Reise wollte er jedoch Städte wie Prag und Budapest bewusst auslassen.

»Warum?« Tatiana und ich schauten ihn verdutzt an.

»Weil diese Städte zu romantisch sind«, war seine Antwort. Allein könne er sie nicht ertragen. Er wollte diese Städte lieber irgendwann mal mit seiner zukünftigen Freundin besuchen …

Wie auf Kommando prusteten Tatiana und ich gleichzeitig los und lachten laut. Das war der skurrilste Grund, den ich je gehört hatte, aber ich fand den Gedanken auch sehr herzerwärmend. Ich stellte mir vor, wie Chi viele Jahre später als gestandener Mann gemeinsam mit seiner Frau und seinen Kindern aus China in diese Großstädte reisen und dabei voller Melancholie an seine verworrenen Wanderjahre kreuz und quer durch Europa abseits der romantischen Hotspots denken würde.

Mit voranschreitender Stunde wurden die Gespräche immer lustiger. Mahmud erzählte stolz von seinen drei Frauen in Kasachstan, die alle ganz sehnsüchtig auf ihn warteten, und Ivan begann ein russisches Trinklied zu singen, welches die Stimmung des Abends auf den Höhepunkt katapultierte. Kurz bevor ich mich ins Bett verabschiedete, fragte mich Tatiana noch nach meinen weiteren Plänen in Bulgarien. Keine Ahnung. Ich zuckte mit den Schultern.

»Fahr doch für ein paar Tage nach Plowdiw«, sagte sie.

Plowdiw? Ich musste gestehen, dass ich noch nie zuvor von dieser Stadt gehört hatte. Im Bett nahm ich schnell mein Handy zur Hand und googelte nach ein paar Impressionen. Ich las, dass Plowdiw Kulturhauptstadt 2019 werden sollte, und die Bilder, die ich im Internet fand, überzeugten mich sofort. Alles klar! Morgen ging es also nach Plowdiw. In die älteste Stadt Europas.

***

Sie hatte es geschafft. Die Stadt Plowdiw am Ufer des Flusses Maritsa hatte mich von der ersten Minute an sofort in ihren Bann gezogen. Diese entspannte südländische Atmosphäre, das mediterrane Klima, die malerische Altstadt mit ihren wuseligen, verwinkelten Gassen, die vielen griechisch-römischen Ausgrabungsstätten in der unmittelbaren Nähe von Moscheen und anderen orientalischen Bauten, architektonische Bausünden aus der sowjetischen Zeit und der Ausblick auf die umliegenden Berge. Ich war absolut fasziniert und konnte immer noch kaum glauben, dass ich noch nie von dieser Stadt gehört hatte. Ich Geografiebanause! Umso glücklicher war ich, dass ich durch Zufall und aufgrund meiner prekären Situation zu Hause diese Stadt entdeckt hatte. Unter normalen Umständen wäre ich niemals hierhergefahren.

Ich kaufte meinem Sohn und mir einen frisch gepressten Saft, und wir setzten uns auf eine Treppe, um die tief stehende herbstliche Sonne zu genießen. Ein alter Mann kam vorbei und hielt bei uns an. Mit einem zahnlosen Lachen grinste er und fing an, irgendetwas auf Bulgarisch zu erzählen. Freundlich lächelte ich zurück, versuchte aber nach einer Weile, ihm zu zeigen, dass ich ihn nicht verstehen konnte. Das schien den alten Mann allerdings nicht zu stören. Unbeirrt und fröhlich fuhr er in seiner Erzählung fort. Ich wurde immer verunsicherter. Doch plötzlich übernahm mein anderthalbjähriger Sohn neben mir sprichwörtlich das Ruder und stimmte mit seinen brabbelnden Lauten ins Gespräch ein. Ich hatte fast den Eindruck, als ob dieser alte Mann und mein kleiner Sohn sich richtig unterhalten würden. Beide erzählten vor sich her, gestikulierten wild und freuten sich des Lebens. Und obwohl sie beide natürlich nicht dieselbe Sprache sprachen, schienen sie sich zu verstehen. Der bulgarische Mann lachte aus vollem Herzen, und auch mein Sohn lachte herzlich mit. Ich beobachtete dieses Geschehen als Außenstehende – und plötzlich wurde mir ganz warm. Ich hatte mitten im Zentrum von Plowdiw unerwartet eine Lektion gelernt. Es gibt Situationen im Leben, da kommt es nicht darauf an, dass du den Inhalt wirklich verstehst, sondern viel mehr darauf, dass du unbefangen und ohne Scheu reagierst. Ich trank meinen Orangensaft aus und verabschiedete mich herzlich vom alten bulgarischen Mann, dessen zahnloses, unbefangenes Lachen ich garantiert nicht so schnell vergessen würde.

Wie Buddha im Gegenwind

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