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EIN KLEINES ABENTEUER VORNEWEG …

… irgendwo in den Karpaten, Juli 2018

Travelling – it leaves you speechless, then turns you into a storyteller.

(Ibn Battuta)

Drahtseilakt, 1. Teil

Unmöglich! Meinte Google Maps tatsächlich diese wackelige Brücke aus verrosteten Drahtseilen und vermoderten Holzbrettern? Immer wieder blickte ich auf mein Handy, schaute mich um und suchte verzweifelt nach einer sicheren Route. Um diesen reißenden Fluss zu überqueren, musste es doch eine andere Möglichkeit geben als diese lebensgefährliche Brücke aus den glorreichen, längst vergangenen Sowjetzeiten. Wie tief mochte es hinuntergehen? Zehn Meter? 15 Meter? Mein Herz pochte. Das war mein persönlicher Alptraum.

Ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Doch die flirrende Hitze trug nicht dazu bei, einen kühlen Kopf zu bewahren. Ich war müde, und meine Füße taten weh. Immerhin hatte ich mittlerweile die Hälfte der Strecke geschafft. Zehn Kilometer entlang an Blumenwiesen, Sonnenblumenfeldern, Gemüsebeeten, wilden Graslandschaften und urigen Holzhäusern hatte ich bis jetzt hinter mich gebracht auf meinem Weg zu den Dowbusch-Felsen – von denen ich ein paar Stunden zuvor noch nie etwas gehört hatte. Der Besitzer meiner Unterkunft, ein freundlicher alter Mann, der kein Wort Englisch sprach, hatte sie mir bei Google Maps gezeigt. Mit Händen und Füßen hatte er mir zu verstehen gegeben, dass ich mir diese über 50 Meter hohen Felsformationen unbedingt anschauen sollte. Unsere weitere Konversation war jedoch extrem holprig verlaufen. Er hatte mit den Armen gefuchtelt, wild gestikuliert und mir immer wieder unterschiedliche Orte auf der Karte auf meinem Handy gezeigt. Ich hatte nur verstanden, dass ich mit zwei verschiedenen Bussen fahren und dann zu Fuß weitergehen müsste. Aber das reichte. Dachte ich zumindest.

Beschwingt war ich losgegangen, hatte mich vor den Supermarkt gestellt und Ausschau nach einer Marschrutka gehalten, dem öffentlichen Minibus in dieser Gegend. Nach ein paar Minuten kam die erste und fuhr auch schon an mir vorbei. Da ich nicht einmal ansatzweise die kyrillischen Schriftzeichen entziffern konnte, wurde ich unsicher. Stand ich überhaupt richtig? Ich fragte einen Mann mit eng wachsenden Augenbrauen und zeigte ihm auf meinem Handy, wohin ich wollte. Tyshivnytsya? Ich gab mir alle Mühe, den Ort einwandfrei auszusprechen. Vergebens. Der junge Mann schaute mich nur mit vielen Fragezeichen an und komplementierte somit meine völlige Orientierungslosigkeit. Wortlos zeigte er in Richtung Straße. Aha, da kommt wohl noch eine andere Bushaltestelle, schlussfolgerte ich skeptisch. Doch nach zwei Minuten kam ich bereits am Dorfrand an. Also wieder zurück.

Ich stellte mich erneut an die Bushaltestelle und wartete geduldig. Die nächste gnadenlos überfüllte Marschrutka kam. Verzweifelt fragte ich die Passagiere, ob der Minibus nach Tyshivnytsya fahren würde. Kollektives überfragtes Kopfschütteln. Bei der dritten und vierten Marschrutka dasselbe. Ich hatte so gar keine Ahnung, ob die Leute mich bloß nicht verstanden, oder ob die Marschrutka tatsächlich nicht ins zungenbrecherische Tyshivnytsya fuhr. Allerdings wusste ich, dass ich nach über einer Stunde Wartezeit definitiv keinen Bock mehr hatte. Ich musste mir eingestehen, dass ich bereits am Ortseingang von Skole gescheitert war und es nicht geschafft hatte, den richtigen Bus zu nehmen. Okay. Dann musste halt ein anderer Plan her! Ich nahm wieder mein Handy zur Hand, gab bei Google Maps das Ziel »Dowbusch-Felsen zu Fuß« ein – und erhielt prompt eine Route: 20 Kilometer, Ankunftszeit 16:57 Uhr. Alles klar. Das war machbar. Entschlossen lief ich los.

***

Unmöglich! Es hämmerte in meinem Kopf beim Anblick dieser furchterregenden Brücke. Ich konnte sie nicht überqueren, das stand für mich fest. Nicht nur weil ich an panischer Höhenangst litt, sondern auch weil ich immens daran zweifelte, dass diese Brücke, die in jedem Indiana-Jones-Film eine hervorragende Rolle gespielt hätte, passierbar war. Ich ging vor der Brücke auf und ab und schaute mir die fragwürdige Konstruktion etwas genauer an. Die schmale Brücke wurde von dünnen Drahtseilen gehalten. Modrige Holzbretter und Baumstämme waren wild und ohne System aneinandergenagelt. Und überall waren große Löcher. Für mich war klar: Ein falscher Schritt, und ich würde in die Tiefe stürzen. Direkt in den reißenden Fluss. Bei dem Anblick schlug meine blühende Fantasie Purzelbäume. Ich malte mir aus, wie ich mir bei einem glücklichen Sturz ins Wasser NUR ein paar Knochen brach. Mit ein wenig Pech konnte ich mir allerdings auch den Kopf an den herausragenden spitzen Steinen im Fluss aufschlagen …

Auf gar keinen Fall! Resigniert beschloss ich, dass mein Abenteuer Dowbusch-Felsen hier an dieser Stelle mitten in den Karpaten zu Ende war. Doch gerade in der Sekunde, als ich den Entschluss gefasst hatte, erschienen plötzlich am anderen Ende der Brücke drei Gestalten. Das konnte doch nicht möglich sein! Zufall? Oder ein ganz blödes Zeichen? Etwas ungläubig schaute ich zu, wie ein junger Fischer zwar sehr bedacht, aber doch ziemlich resolut und mit sicheren Schritten über die Brücke ging. Sie war also doch passierbar, musste ich mir kleinlaut eingestehen.

Doch sofort mischte sich meine vernunftgetriebene innere Stimme ein, die partout keine Lust hatte, sich ausgerechnet JETZT meiner Höhenangst zu stellen. Sie flüsterte mir vehement zu: »Der junge Fischer hat diese Brücke bereits Hunderte Male überquert und weiß genau, wie er seine Schritte setzen muss. Außerdem ist er sicherlich stark genug, um sich bei einem Sturz am Drahtseil festzuhalten und mit einem gekonnten akrobatischen Schwung wieder hochzuhieven.«

Eifrig pflichtete ich meiner inneren Stimme bei – und wir beide wären uns zu 100 Prozent einig gewesen, wenn nicht ausgerechnet im nächsten Moment am anderen Ende der Brücke sich auch die anderen zwei Gestalten aufgemacht hätten, die Brücke zu überqueren. Ich kniff meine Augen heftig zusammen, um besser zu sehen, und konnte kaum glauben, was ich da erblickte. Tatsächlich! Die zwei Gestalten waren ältere Frauen, die sicherlich weit über 50, vielleicht sogar 60 Jahre alt waren. Ich konnte genau erkennen, wie sie sich ängstlich ans Drahtseil klammerten und zögerlich in kleinen Schritten nach vorne kämpften.

Voller Bewunderung, Adrenalin und mit offenem Mund beobachtete ich sie dabei, fieberte mit ihnen mit – und fasste just einen Entschluss. Ich entschied mich, auf mein Bauchgefühl zu hören, welches mich immer lauter anfeuerte: »Wenn die das schaffen, schaffst du es auch!« Bei meinem Vorhaben wurde mir zwar speiübel und extrem schummrig vor Augen, aber mir wurde auch wieder bewusst, dass es im Leben Augenblicke gab, in denen man losgehen musste. Einfach machen.

»добре?«, fragte ich die beiden älteren Frauen, als sie wohlbehalten auf meiner Flussseite angekommen waren. Doch ich konnte sofort die Angst in ihren Augen sehen. Wie sehr ich mir doch gewünscht hätte, dass sie meine eigene Scheißangst etwas besänftigen und mir sagen würden, dass die Brücke gar nicht so schlimm sei, wie sie auf den ersten Blick aussah.

»не добре! не добре!« Nicht gut! Nicht gut! Die eine Frau schrie mich nahezu an. So, als ob sie mich vor meinem eigenen Verderben beschützen wollte. Und zu allem Übel folgte ein fluchender, nicht enden wollender Wortschwall, dessen Inhalt ich zwar nicht verstand, von dem ich mir aber durchaus denken konnte, worum es ging. Zum Schluss verabschiedeten sie sich von mir mit einem »удачі«. Ich bildete mir ein, dass sie mir für mein halsbrecherisches Vorhaben viel Glück wünschten.

Ich atmete tief ein und aus. JETZT ODER NIE! Ohne darüber nachzudenken, erklomm ich die erste Stufe, hielt kurz inne, nahm auch die nächsten in Angriff, und eh ich mich’s versah, stand ich bereits auf den Holzbrettern. Es fehlte nicht viel, und ich hätte mir in die Hosen gemacht. Denn hier oben konnte ich erkennen, dass die Brücke in einem noch viel schlechteren Zustand war, als ich zuvor vermutet hatte. Nach den ersten wackeligen Schritten stellte ich fest, dass einige Bretter sogar nur lose drauflagen. Immer wieder stand ich vor der womöglich lebensentscheidenden Frage, für welches Brett ich mich als nächstes entscheiden sollte. Unaufhörlich knarrte und knackte es unter meinen Füßen. Manche Bretter und Äste waren schon so vermodert, dass sie bei jeder kleinen Erschütterung zu zerbrechen drohten. Meine nass geschwitzten Hände umklammerten die beiden rostigen Drahtseile. Argwöhnisch tastete ich mich vor. Schuhspitze um Schuhspitze. Und durch die großen Löcher zwischen den Brettern konnte ich den reißenden Fluss unter mir sehen.

Zweifelsohne hatte ich in den vergangenen Monaten viel erlebt. In Malaysia war ich auf offenem Meer Haien begegnet. Im Golf von Thailand hatte ich eine Horrorspeedbootfahrt gerade so überlebt. Unter der karibischen Sonne Santa Martas war ich beinahe von zwei Drogenabhängigen überfallen worden. In Honduras hatte ich politische Tumulte bezeugt. Und in der einsamen Steppe an der Grenze zu Aserbaidschan war mir das Benzin ausgegangen. Dann wirst du diese Brücke auch noch meistern! Ich atmete noch mal tief ein und aus, versuchte, alles um mich herum zu vergessen, und fokussierte mich auf den nächsten Schritt.

Plötzlich spürte ich, wie die Brücke anfing zu schaukeln. Immer stärker. Eine Windböe? Nein. Es war absolut windstill. Ich versuchte zu analysieren, was die Bewegung verursachte. Meine zitternden Beine? Tatsächlich! Erst jetzt realisierte ich, dass ich am ganzen Körper wie Espenlaub zitterte. Am liebsten hätte ich aus Leibeskräften losgeschrien. Doch ich wusste, dass ich meine verbleibenden Kräfte woanders hinlenken musste. Denn unkontrolliertes Schreien wäre nur unnötiger Energieverlust gewesen, der mich zudem aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Obwohl sich meine Beine weiterhin wie Pudding anfühlten, schöpfte ich neuen Mut, als ich sah, dass ich mittlerweile die Hälfte der Brücke geschafft hatte. Ich tat noch einen Schritt und wusste, dass ab jetzt eine Rückkehr nicht mehr infrage kam.

Doch was folgte, war noch viel schlimmer. Nachdem ich den Fluss hinter mich gebracht hatte und mich schon am Ende meines persönlichen Alptraumes gehofft hatte, konnte ich erkennen, dass die Brücke immer höher und höher wurde. Unter mir sah ich Baumwipfel, und durchs dichte Blätterdach konnte ich erahnen, dass ich mittlerweile auf 20 oder gar 30 Metern Höhe war. Zu allem Übel konnte ich mich nicht mehr am Drahtseil festhalten, da ich mit meinen Händen nicht mehr hinkam. Ich musste also die restlichen Meter frei balancieren. Mir wurde erneut übel, und es pochte heftig gegen meine Schläfen. Jetzt bloß nicht das Gleichgewicht verlieren! Ich atmete erneut tief ein und aus – und marschierte völlig konzentriert weiter. Selten zuvor in meinem Leben hatte ich das Gefühl gehabt, einzig und allein bei mir selbst zu sein. In meiner eigenen Mitte. Fokussiert. Pragmatisch. Lösungsorientiert. Mit allen Gedanken und Emotionen im Hier und Jetzt.

Als ich wieder festen Boden unter meinen Füßen spürte, hätte ich mich am liebsten übergeben. Ich spürte, wie schlagartig meine ganze Anspannung und verdammte Angst aus meinem Körper wich. Ich zitterte immer noch, aber dabei realisierte ich, welche Herausforderung ich gerade gemeistert hatte. Ich hatte trotz panischer Höhenangst diese gemeingefährliche Brücke hinter mich gebracht. Ich hatte mich schnurstracks raus aus meiner eigenen Komfortzone bewegt. Doch viel Zeit für einen freudejubelnden Tanz blieb mir nicht, denn bis zu den Dowbusch-Felsen musste ich noch zehn Kilometer laufen. Ich schaute erneut auf mein Handy. Ankunftszeit 17:27 Uhr. Ich hatte viel Zeit verloren und musste mich dementsprechend beeilen. Dabei hatte ich noch keinen blassen Schimmer, wie ich von den Dowbusch-Felsen zurück zu meiner Unterkunft nach Skole kommen sollte. Fest stand, dass ich auf keinen Fall denselben Weg zurück wählen würde. Ich wollte keineswegs mein Schicksal ein zweites Mal herausfordern. Dennoch musste ich mir eingestehen, dass ich völlig planlos war in einem Land, wo kaum einer Englisch sprach.

Alles zur seiner Zeit! Das Erlebnis mit der Brücke hatte mir erneut gezeigt, dass es im Leben immer eine Lösung gab, wie unüberwindbar die Situation anfangs auch wirken mochte. Dass man durchaus das Unmögliche möglich machen konnte – und dass es auch gut war, hin und wieder seine Vernunft auszuschalten, um einzig und allein auf sein Bauchgefühl zu hören. Euphorisch und optimistisch setzte ich meine Wanderung fort – und es kam mir fast so vor, als ob ich auf rosaroten Wolken schweben würde.

Wie Buddha im Gegenwind

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