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VORWORT

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Lissabon, Mai 2017

Am Anfang braucht man oft Mut, um am Ende glücklich zu sein.

(Unbekannt)

Ich war am Boden. Doch Liegenbleiben war keine Option für mich. Stattdessen buchte ich einen Flug nach Lissabon. Ich musste raus, um die Dinge klarer zu sehen. Bereits ein paar Tage später saß ich in der portugiesischen Hauptstadt im goldenen Abendlicht am Aussichtsplatz Adamastor. Während um mich herum viele feierwütige junge Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern Joints kreisen ließen, Bier tranken, zu Kizomba-Klängen tanzten oder sich angeregt unterhielten, richtete ich meinen Blick auf das Wahrzeichen Lissabons, die Ponte 25 de Abril. Die rote Hängebrücke, der glitzernde Fluss Tejo und die Jesus-Statue im Hintergrund, die schützend ihre Arme emporhebt, wirkten besänftigend auf mich. Genau wie vor 15 Jahren, als ich als Erasmus-Studentin durch die Straßen Lissabons zog und dachte, dass mir die Stadt gehörte. Damals war es eine unbeschwerte Zeit gewesen. Bis auf einige Seminare an der Universität und ein paar Hausarbeiten hatte ich keine Verpflichtungen und Sorgen. Jeden Tag traf ich Freunde, schlürfte literweise Kaffee, und wenn wir zur späteren Stunde nicht am Strand von Carcavelos abhingen, begrüßten wir den Abend mit einem zuckersüßen Kirschlikör am Ginjinha-Stand am Rossio. Danach ging es natürlich ins Bairro Alto, hoch hinauf ins quirlige Ausgehviertel, wo wir uns an den Bars Bier holten, draußen ins redselige Getümmel stürzten und unbesorgt feierten, als ob es kein Morgen gäbe …

Ich schaute zu, wie die Sonne langsam hinter der Brücke unterging, und spürte einen sanften Wind aufkommen. Während um mich herum am Adamastor das Menschengetümmel immer lauter wurde, konnte ich allmählich wieder etwas klarer denken. Was war aus meinem Plan vom großen Glück geworden? In der Vergangenheit hatte ich ihn minutiös ausgearbeitet. Karriere. Kind. Wieder Karriere. Opulentes Eigenheim. Zweites Kind … Niemals wäre mir in den Sinn gekommen, dass ich irgendwann meinen Plan vom großen Glück loslassen müsste. Doch dann kam alles ganz anders. Seit ich vor gut zwei Jahren meinen heiß geliebten Schreibtisch im Büro verlassen hatte, um mich in den Mutterschutz zu verabschieden, war viel geschehen. Ich hatte einen Sohn zur Welt gebracht, unmittelbar nach meiner Elternzeit war die Kündigung ins Haus geflattert, kranke Tagesmutter, kein Betreuungsplatz, vielversprechende Bewerbungsgespräche, niederschmetternde Absagen, berufliche Ratlosigkeit – und so einige andere Hiobsbotschaften und Fausthiebe, die mich zu Boden geworfen hatten. Immer wieder hatte ich zusehen müssen, wie die nächste Windböe mein mühselig aufgebautes Kartenhaus namens Leben in sich zusammenfallen ließ.

Ich stand auf, schlängelte mich durch die Menschenmasse und holte mir am Tresen ein Bier. Mittlerweile war die Sonne untergegangen. Ein Knistern lag in der Luft. Während die jungen Menschen gemeinsam feucht-fröhlich der Nacht entgegenfieberten, sinnierte ich mutterseelenallein über meine persönliche und berufliche Midlife-Crisis. Mit einem eisgekühlten Sagres kehrte ich zurück und stellte mich unter eine Laterne. Hinter mir wachte seelenruhig die grimmige Statue des Adamastor, der den Portugiesen aus ihrem großen nationalen Epos »Os Lusíadas« wohlbekannt war. Die Figur des Adamastor stand symbolhaft für alle Erschwernisse, denen die portugiesischen Seefahrer vor Jahrhunderten während ihrer Entdeckungsreisen ausgesetzt waren. Wie passend!

Und was nun? Imaginär zuckte ich mit den Schultern. Ich saß mit meinen fast 39 Jahren hier in Lissabon und hatte keinen blassen Schimmer, wie es in meinem beruflichen Leben weitergehen sollte. Genau fünf Tage war es her, als mich ein Telefonat zu Boden geschmettert hatte. Ich hatte mich einige Wochen zuvor bei einer vielversprechenden Firma als Content-Marketing-Manager beworben, hatte es sogar im anspruchsvollen Bewerbungsprozess über fünf Runden bis ganz zum Schluss geschafft, gehörte von Hunderten Bewerben zu den letzten drei. Alle Anzeichen hatten dafür gesprochen, dass endlich, nach all den zahlreichen Bewerbungen, der lang ersehnte feste Job zum Greifen nah war. Dass ich mich nicht mehr notgedrungen als Freelancer irgendwie über Wasser halten müsste. Und dann bäm. Ganz kurz vor der Zielgeraden kam der Anruf. Noch bevor die Personalerin den ersten Satz beendet hatte, wusste ich Bescheid.

»Es hat uns wirklich gut mit dir gefallen, und dein Wissen und deine Erfahrungen haben uns sehr beeindruckt. Dennoch müssen wir dir leider mitteilen, dass …«

Ich hatte bereits aufgehört zuzuhören. Die bedeutungsträchtigen Worte glichen eher einem Rauschen, das aus der Ferne gewaltvoll an mein Ohr prallte. Um die Contenance zu wahren, stammelte ich höflich ein paar routinierte Floskeln: »Ah, alles klar. Wie schade. Dennoch würde ich mich freuen … Vielleicht …«

Dieses Telefonat dauerte exakt eine Minute und sieben Sekunden. Ein kurzer Moment mit weitreichenden Folgen. Ich legte auf und starrte zu Hause gegen meine weiße Wand. Tief ein- und ausatmen. Ich musste die Fassung bewahren. Doch genau im gleichen Augenblick sah ich mein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Mal wieder. Unkontrolliert schossen mir Tränen in die Augen. Um mich herum verschwamm alles. Ein Gefühl der Machtlosigkeit übermannte mich. Ich kann und mag nicht mehr! Ich wollte einfach liegenbleiben. Mich meiner Trauer und meinem Frust hingeben. Aufgeben. Und nicht mehr aufstehen, um weiterzukämpfen … Ein Blick auf mein Handy riss mich jedoch aus meinem lethargischen Zustand.

Oje, ich musste schnell los, mein zweijähriges Kind von der Kita abholen. Ich wischte meine Tränen weg, klatschte mir noch ein wenig Make-up ins Gesicht und sprintete los. Später würde mir noch genug Zeit bleiben, um im Selbstmitleid zu versinken.

***

Der Wind wurde immer kräftiger und pustete mir ordentlich ins Gesicht. Ich nippte erneut am Bier, das mittlerweile ein wenig schal geworden war. Höchste Zeit, Entscheidungen zu treffen. Ich wusste, dass MEIN Punkt im Leben jetzt gekommen war. Alle Zeichen standen auf Veränderung. Mein Mann, der gerade zu Hause auf unser Kind aufpasste, sah es glücklicherweise genauso und stärkte mir den Rücken. Und obwohl ich es zuvor nie für möglich gehalten hatte, war ich plötzlich bereit, meinen Plan vom großen Glück einfach loszulassen. Mit beiden Händen. Vor meinem inneren Auge sah ich zu, wie ich ihn einfach über Bord warf und ein letztes Mal hinterherblickte. Der großen Karriere. Dem opulenten Eigenheim. Dem zweiten Kind. Und komischerweise war ich dabei gar nicht traurig. Tief in mir spürte ich eine angenehme Ruhe, die ich in der vergangenen Zeit definitiv verloren hatte. Und obwohl mir eigentlich gerade der Arsch auf Grundeis gehen müsste, fühlte ich mich plötzlich völlig entspannt und zufrieden.

Im Grunde war es ganz simpel. Ein neuer Plan musste her. Ich kramte in meiner Handtasche und holte ein Notizbuch hervor. Was nun? Wie sollte es weitergehen? Was wünschte ich mir im Leben? Entschlossen erhob ich meinen Blick und betrachtete erneut das Wahrzeichen Lissabons. Die rote Hängebrücke, die die Stadt mit der Südseite verband. Ich hielt einen längeren Moment inne, fokussierte und senkte anschließend wieder meinen Blick. Ich schaute runter zu meinen leuchtend orangen, völlig verschmutzten Flipflops, die mich in den vergangenen Monaten in viele, viele Länder getragen hatten. Denn in meiner Elternzeit und nach der darauffolgenden Kündigung hatte ich mehrfach den Rucksack gepackt, um gemeinsam mit meinem kleinen Kind in die weite Welt hinauszuziehen.

Warum? Damit mir zu Hause nicht die Decke auf den Kopf fiel. Damit ich dem endlos drohenden Gedankenkarussell entkam. Denn wenn ich mich mitten im Geschehen von Kambodscha, Sri Lanka, Kolumbien oder an einem anderen fernen Ort befand, konnte ich plötzlich wunderbar nachdenken und reflektieren über all das, was geschehen war, und nach neuen Möglichkeiten und Lösungen suchen. Zum Glück zeigte mein Mann Verständnis dafür. Zwar fiel es ihm schwer, auf meinen Sohn und mich wochenlang zu verzichten, aber er konnte gut nachvollziehen, warum es mich immer fort von zu Hause zog.

Ich betrachtete erneut meine Flipflops und musste schmunzeln. Ich liebte das Lebensgefühl in diesem Schuhwerk. Nicht nur weil ich das Laufen in Flipflops als extrem komfortabel empfand, sondern weil es für mich vor allem für Sommer, Reisen, Freiheit, Unbeschwertheit und Leichtigkeit stand. All die Dinge, nach denen ich mich gerade so sehr sehnte …

Ich schrieb in mein Notizbuch: »Mein großes Ziel: 7 Monate im Jahr in Flipflops verbringen!«

Genau das wollte ich. Den Sommer verlängern, den europäischen Winter verkürzen – und in Flipflops neue, ferne Länder entdecken. Hand in Hand gemeinsam mit meinem kleinen Kind. Was für ein absurder Wunsch! Als Mutter! Und noch dazu in diesem fortgeschrittenen Alter! Ja, absolut – und dennoch wollte ich zumindest einmal in meinem Leben völlige Narrenfreiheit genießen. Jetzt musste ich mir nur noch überlegen, mit welchen Möglichkeiten ich das Ziel in die Tat umsetzen und vor allem wie ich zukünftig mein Geld zum Leben und Reisen verdienen würde. Denn schließlich warteten zu Hause auf mich jeden Monat eine Menge finanzielle Verpflichtungen, die mein Mann und ich uns teilten, und hinzu kamen natürlich meine ganzen Reisekosten, die ich immer aus eigener Tasche bezahlte.

Schnell wurde mir klar, dass ich ab jetzt ausschließlich den Weg der Selbstständigkeit gehen sollte. Wie naheliegend! Doch für diese Erkenntnis hatte ich mehrere Monate benötigt … Ich hatte zwar nach meiner Kündigung freiberuflich als Journalistin und Content-Marketing-Beraterin gearbeitet, doch mehr schlecht als recht, und langfristig war die Selbstständigkeit für mich nie infrage gekommen. Viel zu riskant, war mein niederschmetterndes Argument gewesen. Meine Projekte als Freelancer waren für mich nur eine Notlösung, bis irgendwann endlich der tolle neue Job mit einem festen Arbeitsvertrag vor der Tür stehen würde. Dabei hatte ich völlig übersehen, dass es bei mir im Grunde schon ganz akzeptabel lief: Mein Mama- und Reise-Blog wuchs, ich konnte bereits einige Einnahmen generieren, und obwohl ich noch keine Akquise gemacht hatte, kamen Kunden auf mich zu, um mit mir zusammenzuarbeiten.

Zufrieden klappte ich mein Notizbuch zu. All der Stress und Druck waren spurlos verschwunden. Ich hatte ein gutes Gefühl – und vor allem wieder einen neuen Plan, für den ich mir erst mal ein Jahr Zeit geben wollte, um zu schauen, was alles möglich war und wohin meine persönliche und berufliche Reise in der nahen Zukunft gehen würde. Ich hatte ja die Jahre über ein gutes finanzielles Polster aufgebaut. Die Entschädigung für meine karrierebesessene Vita, die unzähligen Überstunden und meinen unermüdlichen Einsatz im Büro. An einigen Tagen bis zur Erschöpfung, und das mit 25 Tagen Urlaub im Jahr! Dieses Geld auf meinem Konto wollte ich jetzt nutzen, um mir das größte Geschenk im Leben zu machen: Freiheit! Die Freiheit, mich selbst neu zu erfinden – und dabei um die Welt zu reisen. Und wenn nach Ablauf dieses Jahres, meine kompletten Ersparnisse aufgebraucht sein sollten, dann wäre es für mich absolut okay.

Plötzlich musste ich an einen Satz von Konfuzius denken: »Wenn du liebst, was du tust, wirst du nie mehr in deinem Leben arbeiten!«

Traumtänzerei? Irrationales Wunschdenken? Naive Anschauung? Wie auch immer! Ich war bereit, meine Handbremse im Kopf zu lösen. Ich hatte den Mut gefunden, mit Vollgas ein komplett neues Ziel zu verfolgen. Wenn nicht jetzt, wann dann?! Und ich konnte mir sicher sein, dass mich mein Mann bei meinem neuen Vorhaben voll und ganz unterstützen würde.

Mein Bier war leer. Mittlerweile war es spät geworden. Zeit zu gehen. Ich knöpfte meine Jeansjacke zu. Der Wind wurde immer stärker und hatte die Luft deutlich abgekühlt. Ich fröstelte, und dennoch spürte ich ein wohlig-warmes Gefühl in meinem Bauch. Ich blickte ein letztes Mal zur Ponte 25 de Abril und drehte ihr schließlich den Rücken zu, ließ die Statue des guten alten, grimmigen Adamastor hinter mir und folgte der schmalen Gasse zur Hauptstraße.

Während ich in die Calçada do Combro abbog und runter zum Rossio schlenderte, beobachtete ich, wie die feierwütigen Menschen scharenweise hoch ins Bairro Alto pilgerten. Ich musste ein wenig schmunzeln. Vor 15 Jahren war ich eine von ihnen gewesen. Eine junge Studentin, die ihr Leben genoss, als ob es kein Morgen gäbe, die ihr letztes Geld in Partys investierte – und keine Angst vor der Zukunft hatte. Seitdem war viel geschehen. Ich hatte mich grundlegend verändert. Und doch hatten diese einstige Studentin und mein jetziges Ich etwas gemeinsam. Wir fühlten uns frei und konnten auf begrenzte Zeit tun und lassen, was uns zufrieden machte. Was für ein Luxus!

Es fing an, in mir zu kribbeln. Mein Herz pochte immer schneller. Ich war mächtig aufgeregt und fühlte mich dabei so lebendig und unbeschwert. Denn ich wusste, dass ich meine nahe Zukunft nicht am Schreibtisch in irgendeinem Büro verbringen würde. Mit begrenzten Urlaubstagen im Jahr. Nein! Mein Arbeitsplatz war ab sofort nicht ortsgebunden. Ab jetzt konnte ich von überall auf der Welt aus arbeiten und gemeinsam mit meinem kleinen Kind viel Zeit auf Reisen verbringen.

Unten am Rossio, Lissabons großem Platz, angekommen, legte ich erst mal eine Pause ein und bestellte zur Feier des Tages am klebrigen Tresen des kleinen Ladens A Ginjinha uma com, einen zuckersüßen Kirschlikör mit Früchten. Genüsslich nippte ich an meinem Plastikbecher und beobachtete das Treiben um mich herum. Ich ging weiter und machte bei einem Straßenmusiker an der nächsten Ecke halt. Seine sehnsuchtsvollen Fado-Klänge drangen an mein Ohr. Sofort erkannte ich das Lied: »Moro em Lisboa«, ich lebe in Lissabon, von Madredeus. Dieses Lied hatte ich während meines Studiums oft gehört. Damals, als ich dachte, dass mir die Stadt gehörte. Ich lauschte aufmerksam seinen Worten, als ob ich auf eine Botschaft warten würde. Irgendein Zeichen. Nur für mich. Und da kam sie, diese eine Strophe:

»É a brisa que nos faz promessas de viagem Brisa fresca que reclama nas nossas almas ausentes.«

»Es ist diese verheißungsvolle Brise, die uns vom Reisen träumen lässt. Diese laue Brise, die unsere zerstreute Seele besänftigt.«

Wie Buddha im Gegenwind

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