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«TUBARAÓ»

Kapitel 1

Der Vollmond dominiert in dieser Nacht wie ein riesiger überdimensionaler Scheinwerfer der direkt auf den mächtigen, tiefschwarzen Atlantik an der Küste Brasiliens gerichtet ist. Durch die Leuchtkraft vernimmt man in dieser Nacht kleine helle funkelnde Reflexionen, welche durch kurzes Aufblitzen den Schein erwecken, als würden unzählige Sterne tanzen.

Eine wunderbare Kulisse, wenn da nicht der schwierige Job zu erledigen wäre. Der Schein trügt, alles wirkt still und ruhig. Unter Wasser, in einer Tiefe von rund 40 Metern, nahe der schroffen Steilküste von «Queimada Grande», sieht es jedoch anders aus. Diese verbotene Gegend ist gleichermaßen unter Wasser wie an Land mordsgefährlich.

Die überwiegend nachtaktiven weißen Haie «Tubaraó», wie sie auf brasilianisch genannt werden, sind hier stark vertreten. Sie machen den nächtlichen Tauchgang nicht gerade zu einem Spaziergang. Tauchen und Fischen ist im Umkreis von einem Kilometer behördlich verboten. Genau genommen darf man sich der Schlangeninsel «Ilha das Cobras», wie die Insel von der brasilianischen Presse gerne genannt wird, in dieser behördlich verbotenen Zone nicht einmal annähern.

Die Schlangeninsel liegt rund 33 Kilometer südlich vor der brasilianischen Küste, bekannt für die unsagbare enorme Population der äußerst aggressiven giftigen Lanzenotter. Außerdem steht die Insel unter Naturschutz und ist, aufgrund der schroffen steil ins Meer fallenden Küstenfelsen, nur mühsam zugänglich. Es gibt keine Sandstrände. Landungen sind schon unter normalen Umständen äußerst schwierig und gefährlich. Léon ist in Kenntnis des Verbotes, jedoch bleibt ihm nichts anderes übrig, als das Risiko auf sich zu nehmen. Er hat einen Auftrag übernommen. Léon hat Prinzipien und wenn er eine Mission annimmt, dann wird sie zur Zufriedenheit seines Kunden ausgeführt. Er ist für seine Handschlagqualität in der Szene dafür bestens bekannt.

Für ihn ist dies jedoch mehr als ein Auftrag. Er hilft einem alten Freund und Auftraggeber, die Beiden pflegen seit einigen Jahrzehnten eine innige Freundschaft. Léon ist ein Mann für das Grobe, mit einer ungeheuren positiven Reputation und Erfahrung für spezielle Einsätze. Er ist mit seinen 56 Jahren noch ein absolut agiler Adrenalinjunkie, der fast nichts auslässt.

Sein Wissen erlangte er in der Fremdenlegion, welche er als Sous Lieutenant im Jahr 2000 ehrenhaft mit etlichen Auszeichnungen verließ. Damals war sein Weg in die Legion ein Ausweg. Léon blickt nicht gerne zurück in die Zeit, nachdem er fälschlicherweise eines Mordes beschuldigt und gejagt wurde. Er lässt die Zeit lieber Ruhen und blickt nur noch auf die erworbenen Fähigkeiten und das Erlernte zurück. Es war nicht sein bester Lebensabschnitt, doch machte ihn die Vergangenheit zu einem integren starken Mann mit, Spürsinn und Fähigkeiten bestimmte Lösungen zu konstituieren.

Im Scheinwerferkegel der strahlenden Taucherlampen ist bereits die Silhouette des Wracks der «Tocantins» zu erkennen. Auf den Tag genau, vor 87 Jahren, am 30. August 1933, ging das unter der Rederei Lloyd Brasileiro beauftragte Handelsschiff vor «Queimada Grande» mit einer unglaublich begehrten Fracht unter. Seither liegt es in einer Tiefe von ungefähr 25 Metern. Léon und Ronan nähern sich vorsichtig und aufmerksam dem Wrack. Alles scheint ruhig, lediglich die Luftblasen der Open Circuit Atmung aus den Taucherflaschen, ziehen vereinzelt neugierig aufgescheuchte Meeresbewohner an.

Als erfahrener Master Diver kontrolliert Léon wachsam die Umgebung. Irgendetwas stört ihn. Sein Bauchgefühl sagt ihm, dass etwas nicht stimmt. Angespannt beobachtet er mit der Hai-Harpune die Umgebung. Bedächtig hält er Ausschau nach nachtaktiven Haien. Der Sauerstoff reicht noch knapp eine Stunde. Sein Buddy Ronan Strike, der große muskulöse, erfahrene Kampftaucher, ein hochdekorierter Reserveoffizier der US-Marines, sichtet gerade die beschriebenen Stahlkisten. Léon zeigt das nonverbale «Okay» Zeichen der Tauchersprache und visiert mit dem Tauchscheinwerfer durch kreisförmige Bewegungen die Lage des Zielobjektes an.

Léon hat die Kisten jetzt auch gesehen und bestätigt. Nur noch ein paar Meter. Geschafft. Léon dreht sich achtsam langsam einmal um die eigene Achse, er kontrolliert wieder die Umgebung, dabei wirbelt er mit den gespaltenen Taucherflossen ein wenig Schlamm auf. Alles in Ordnung zeigt er Ronan an. Es kann losgehen! Léon gibt Ronan mit erhobenen Daumen das Zeichen mit der Unterwasser-Operation zu beginnen. Léon behält dabei die Umgebung im Auge. Er hat klare Sicht. Vorsichtig befestigt Ronan 500 Gramm «Semtex» an einer Kiste. Der plastische Sprengstoff hält gut, da er weich und formbar ist. Léon beobachtet derweilen weiter scharf die Umgebung. Ronan ist bei diesen Arbeiten genau der Richtige, er ist überaus gewissenhaft. Nur ein einziger Fehler kann schon der Letzte sein. Konzentriert führt er die Aufgabe aus. Langsam tauchen die ersten neugierigen weißen Haie auf. Léon reagiert sofort. Umgehend signalisiert er dies mittels Tauchersprache, der vertikal ausgestreckten Hand vor der Stirn. Gleichzeitig leuchtet er die Route des Haies aus. Ronan nickt. Geschafft, die erste Sprengladung ist angebracht. Um die Initialzündung scharf zu machen, drückt er die verkabelte MK1-Sprengkapsel mit dem Elektrozünder in den Plastiksprengstoff. Danach montiert er noch eine zweite Sprengladung unmittelbar neben der Stahlkiste an einem Träger. Ronan kontrolliert nochmals die Verkabelung der Sprengkapseln mit dem Elektrozünder, anschließend aktiviert er das System. Knapp 72 Stunden reicht ab jetzt die Ladeenergie der beiden Akkus, zeigt ihm das Kontrollsystem der Zünder an. Von nun an blinken die roten Leuchtdioden im Sekundentakt. Fertig, Ronan informiert Léon mittels Zeichen, dass die Sprengladungen scharf gestellt sind. Léon bestätigt, nach einem kurzen Blick auf seinen Leonardo Tauchcomputer um die verbleibende Atemluft zu checken, deutet er zum Auftauchen. Langsam tauchen die Beiden auf. Schnell wie Torpedos, aus dem Nichts kommend, rasen noch zwei weitere weiße Haie auf sie zu. Mittlerweile werden die gefährlichen Jäger neugieriger und verringern ihren Abstand. Die erfahrenen Taucher sind dies gewöhnt, aber irgendetwas ist anders. Léon kennt die Verhaltensweisen der Prädatoren genau und weiß, solange die Haie noch nicht ihre Seitenflossen steil nach unten ausrichten und den Rumpf krümmen, besteht weniger Gefahr.

Er deutet seine Einschätzung Ronan mittels verständlicher Handbewegung der Tauchersprache. Ronan kann das Zeichen richtig deuten, nickt und drückt seinen Rücken dicht an Léon. In dieser Position hat das eingespielte Team einen genügenden Rundumblick um böse Überraschungen abzuwenden. Ronan hat sich sein Tauchermesser gegriffen und Léon hält die scharfgemachte Harpune vor seinen Rumpf. Die Zwei sind gut abgestimmt.

Achtsam halten sie Blickkontakt zu den drei Haien. Langsam kontrolliert unter Einhaltung der Dekompression steigen die Beiden weiter auf, gleich ist es geschafft. Das herabhängende Tau mit der Boje des Motorbootes ist unter dem strahlenden Schimmer des Mondes nahe der Wasseroberfläche schon zu sehen. Nur noch ein paar Meter. Die Haie verhalten sich bis lang noch ruhig, obgleich ihre Kreise um die Beiden schon merklich enger werden. Léon lässt seinem Partner den Vortritt. Endlich geschafft. Ronan greift nach dem Tau und hievt sich auf das Boot, gleich kommt auch Léon nach.

«Wir sind in der Zeit?», meint er und klettert auf das Boot.

Ronan hilft ihm das Tauchequipment abzulegen:

«Ja, hat alles tadellos geklappt. Willst Du auch ein Bier?»

«Gerne, kann ich jetzt gebrauchen.», antwortet Léon, während er sich von den schweren Taucherflaschen befreit.

Ronan reicht ihm eine eisgekühlte Dose Heineken. Er deutet aufs Wasser, die Haie sind ihnen gefolgt und umkreisen lautlos das Motorboot. Ab und an erkennt man im Mondschein die Hai-Flossen.

«Da sind unsere Freunde.», meint er sarkastisch.

«Freunde? Ist etwas hoch gegriffen.», antwortet Léon und prostet Ronan zu. Nach einem kräftigen Schluck stellen sie die Dosen ab und versorgen das Equipment. Nach einem Blick auf die Uhr, fragt Ronan:

«Léon, bist Du soweit, können wir losfahren?

«Ja, alles klar, wir können!», sagt Léon.

Ronan startet und schaltet die Ankerwinsch ein, um den Anker einzuholen. Die Ankerwinsch leistet volle Arbeit, abrupt wird das Rasseln der eingeholten Ankerkette unterbrochen. Sie hängt fest. Einen Teil der Kette lässt Ronan wieder ins Wasser zurück und startet neuerlich einen Versuch.

Nichts, keinerlei Bewegung, nur der Winschmotor plagt sich enorm. Auch ein wiederholter Versuch scheitert. Der Anker steckt extrem fest. Der Motor der Winsch ertönt abermals mit einem geplagten Geräusch. Léon greift spontan zum Schalter, er stellt den Winschmotor sofort ab.

Nachdenklich blickt er Ronan an:

«Ich gehe noch mal runter, hier stimmt was nicht!»

Ex trinkt er die Bierdose aus, legt nur die Tauchflaschen mit Maske an und steigt in die Flossen. Nach dem Griff zur Hai-Harpune springt er zwischen den kreisenden Haien ins Wasser. Als wären sie gar nicht da, zieht sich Léon an der Ankerkette in die Tiefe. Kurz vor dem gesichteten Anker erkennt er schnell das Problem, die Kette hat sich an einem Stahlträger verheddert. Er beginnt die Kette frei zu machen, während dem Entwirren vernimmt Léon, dass ihm einer der Haie gefolgt ist und eine angespannte Körperhaltung angenommen hat. Eilig löst er die Ankerkette vom Stahlträger und versucht dabei den Hai im Auge zu behalten. Dieser zieht weiter seine Runden, die Distanz minimiert sich zunehmend. Immer kleiner werden die Kreise um ihn. Genau in dem Moment, als die Kette sich vom Träger löst, greift der Hai blitzschnell mit enormer Geschwindigkeit an.

Im letzten Moment greift Léon nach der gelockerten Ankerkette, gerade noch rechtzeitig. Er kann knapp einen Meter der massiven Kette schützend vor seinem Körper spannen, um sie dem Hai vor sein weit geöffnetes Maul zu halten. Der kräftige Zubiss ist derart brachial, man hört ihn sogar unter Wasser.

Ungestüm verbeißt sich der Hai dermaßen in der Kette, dass ihm dabei einige Zähne ausbrechen. Rasiermesserscharfe Zahnteile splittern Léon ins Gesicht, er weicht rasch zurück.

Mit dem Wissen, dass der nächste Angriff nicht lange auf sich warten lässt, greift er blitzschnell zur Harpune, visiert und schießt dem Hai direkt ins Auge. Tödlich getroffen walzt sich der große Weiße einige Male um die eigene Achse, dann sinkt er langsam auf den Meeresgrund. Pfeilschnell machen sich die Beiden anderen weißen Haie aggressiv über ihren Artgenossen her. Ausgehungert zerreißen sie den ausgewachsenen weißen Hai. Unbändig fetzen sie große Teile aus ihm. Ein zügelloser regelrechter Fresskampf, ein wahrer Blutrausch findet statt. Noch während des Auftauchens vermehrt sich die Anzahl der Haie enorm.

Léon zieht sich eilig an der Ankerleine empor, immerwährend mit einem kurzen Rückblick auf die Anzahl der rasch formierten Haie. So eine spontane Aggression ist ihm noch nie widerfahren. Endlich wieder an der Oberfläche angekommen, zieht er sich mit Hilfe von Ronan zügig an Bord.

Erschöpft entledigt er sich der Tauchausrüstung:

«Der Anker ist frei! Die Haie haben mit dem großen Fressen zu tun! Shit, war das knapp!»

«Haben sie Probleme gemacht?», fragt Ronan, nachdem er merkte, dass Léon völlig außer Atem abgehetzt auftauchte.

Léon greift sich leicht zittrig ein Badetuch:

«Kann man so sagen, gib mir noch ein Bier!

Unser Freund hatte mich schon auf seiner

Speisekarte. Dann hat er ein wenig Eisen zu sich

genommen, ich konnte mich mit der Ankerkette gerade

noch schützen. War knapp, ich habe ihn harpuniert!»

Er nimmt ihm das Equipment ab und versorgt es. Ronan bemerkt, dass ein Pfeil aus der Harpune fehlt, er lädt nach platziert sie griffbereit und wirft ihm eine Bierdose zu.

«Wer ist eigentlich unser Auftraggeber? fragt er neugierig, während der erschöpfte Léon sein Bier öffnet.

Nach einem kräftigen Schluck antwortet Léon:

«Dr. Will Boomer, er ist ein sehr

guter Freund! Du wirst ihn morgen treffen.

Er ist ein toller Typ und ein herausragender

Wissenschaftler.»

«Alles klar, mehr wollte ich nicht wissen.», meint Ronan und holt den freien Anker ein.

Fast schon gespenstisch wirkt der Atlantik. Geräuschlos ruhig und still ist er an der Oberfläche, nur leichte Brisen mit Salzgeruch breiten sich vereinzelt aus. Von den Geschehnissen unter Wasser, ahnt niemand. In dieser Nacht sind nurmehr das Brabbeln und Gluckern des Innenborders zu hören. Das rhythmische rote Blinken der Elektroinitialzünder in rund 25 Meter Tiefe ist vom Boot aus gut schimmernd sichtbar. In dem Wissen, dass er verdammtes Glück hatte, meint er sarkastisch:

«Ich sollte langsam über die Rente nachdenken!»

Ronan sieht ihn verdutzt an. Die Beiden beginnen laut zu lachen. Der V8-Mercury Motor brabbelt und blubbert. Dann prosten sie sich mit ihrem Leitspruch zu:

«Wer kämpft kann verlieren, wer nicht kämpft,

hat schon verloren!»

Nach erfüllter Mission in dieser atemberaubend herrlichen Mondscheinnacht machen sich die Beiden auf den Weg zurück. Léon legt den Gashebel um, mit Vollgas verlassen sie mit ihrer schnellen Motoryacht «Queimada Grande».

OPPORTUNITY - The power of resistance

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