Читать книгу DIE LSD-KRIEGE - Gerald Roman Radler - Страница 11

DAS LOCH IM MORGEN

Оглавление

Das folgende Jahr war dann nach geglückter Nachprüfung der totale Absturz. Ich ließ meine früheren Freunde im Stich, oder vielleicht wollten sie mit mir nichts mehr zu tun haben. Zu sehr hatte ich mich im vergangenen Jahr verändert. Ich ging täglich nach der Schule ins Café Buwo gegenüber dem Hamerlingpark gelegen. Mein nächster negativer Schulabschluss war sicherlich längst angeordnet. Der Lehrkörper entschied gegen mich, wegen meinem unseligen Umgang mit den auffallenden Außenseitern und der Beteiligung an der Schülerzeitung, deren aggressive Artikel oft bei mir ihren Ursprung nahmen. Ich hätte den Stoff des Jahres auswendig lernen können und wäre trotzdem durchgefallen.

Der Schulwart schlich wie ein Spion hinter mir her. Er beobachtete zudem jene Gruppe, die allgemeine Lehrmethoden in Frage stellte. Nachdem ich allmählich ein fixer Bestandteil dieser Verfolgung wurde, nahmen die Lehrer mich automatisch in die Liste, der zu überprüfenden Schüler auf. Obwohl meine Kameraden in der Klasse einige Intelligenz besaßen, zweifelten sie nie an der Richtigkeit des Systems. Das war erstaunlich, zumal sie sich in sonst keinem Punkt von meiner Entwicklung unterschieden – und doch musste da eine Unbekannte sein, die man nicht berechnen konnte. Für mich ergab das Leben keinen Sinn, so wie es sich darstellte. Während die anderen sich mit der Realität abfanden, nutzte ich die, von der Natur zur Verfügung gestellte Zeit, Alternativen zu suchen. Ich war davon überzeugt, dass es etwas Besseres gab, als diese eine Möglichkeit, zu parieren. Denn auch meine früheren Freunde waren zu bestimmten Zeiten lebensüberdrüssig, aber sie verschwendeten nicht ihre Zeit mit einer womöglich erfolglosen Suche, sondern akzeptierten die bereitgestellten Regeln.

Die Lehrer befanden sich in der Tretmühle und glaubten, nur ein fügsamer Schüler hätte im Leben Erfolg. Sie litten unter dem Schock, den die kolossalen Veränderungen der 68er im Establishment auslösten. Die Schule war die erste Instanz, die sich mit aufkeimenden Widerständen befassen konnte, um sie im Keim zu ersticken. Er wurde nach Gründen gesucht, warum eine Generation komplett revoltierte. Ich war anderen Werten auf der Spur. Und ich suchte Mitstreiter, denn meine bisherigen Freunde überschritten niemals den Punkt, der ihr komplettes Weltbild ad absurdum führte. Warum suchten die Jungen neue Werte? Warum hinterfragten sie die alten Regeln?

Schließlich kam ich mit einem auffälligen Burschen aus der Oberstufe in Kontakt, der es für angemessen hielt, nach den essenziellen Gründen eines Menschenlebens zu fragen.

In Jimi fand ich jemanden, der mit seinen Überlegungen dort ansetzte, wo die Gedanken der Zurückgelassenen endeten. Genauso wie ich, war er im Aufbruch begriffen in eine neue Welt, deren Regeln wir selbst bestimmten. Wenn ich ihn traf, spürte ich die gleiche Erregung, die auch von mir Besitz ergriffen hatte. Im Gegensatz zu uns, folgten meine Mitschüler den vorgefertigten Saumpfaden. Sie übernahmen kritiklos, was die Lehrer ihnen erzählten und bauten auf ein morsches Fundament. Sie nahmen Regeln, Formeln und längst überholten Beobachtungen als gegeben hin. Ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet, einen Menschen zu finden, der tatsächlich gegen das Establishment rebellierte. Faktisch waren alle jungen Menschen, die ich bisher kannte, ohne eigene Ideen. Sie wollten ihre Prüfungen absolvieren, studieren, heiraten und Kinder bekommen. Manche gedachten, auch ohne Familiengründung ihr Leben zu genießen. Niemand aber nahm ernstlich Anstoß an den gesellschaftlichen Zwängen, wenn auch im Scherz, oder bei Diskussionen mancher einen schön formulierten Denkanstoß gab, der rein philosophischer Natur war.

Mein Auftreten war eine einzige Provokation für den Lehrkörper. In den Pausen wurde ich, mit Jimi ins Gespräch vertieft, angetroffen. Dadurch ahnte ich natürlich den Grund für die plötzlich verschärfte Situation und die Anspielungen des Klassenvorstandes. Es war so unglaublich ungerecht, dass ich einfach Widerstand leisten musste.

Er betonte immer, dass eine Verbindung mit anderen Schülern, die auf der Abschussliste standen, Folgen haben würde. Er meinte, wer sich mit diesen Individuen einließ, passe besser zu den Bandlhurchern, als ins Gymnasium. Dieser alte Historiker und Lateinprofessor hasste nämlich die Autowerkstätte, in einer Seitengasse neben dem Schultor, abgrundtief. Auf dem Weg zum Parkplatz plagte ohrenbetäubende Rockmusik seine strapazierten Nerven.

Ich besaß seit meinem zwölften Lebensjahr nur einen Mono-Kassetten-Rekorder, den ich mir vom kargen Taschengeld meiner Großmutter zusammengespart hatte. An jedem Mittwoch besuchte sie uns, kochte, nähte, bügelte und gab mir zwanzig Schilling.

Die echten Bandlhurcher spielten ihre Klänge in der Werkstatt, über eine teure Stereoanlage ab, die den Traum jedes jungen Menschen in dieser Zeit verkörperte. Die Mechaniker stammten allerdings aus einfachen Familienumständen. Die Sippe hielt integer zusammen, Probleme wurden nicht in die Öffentlichkeit getragen. Ein pragmatischer Aspekt veranlasste sie, schon frühzeitig für ihren Unterhalt zu sorgen, um ihr Leben in den Griff zu bekommen. Groteskerweise stellten sie eher die Prototypen der braven Bürger dar, die wir nie werden sollten. Sie hatten bald schon genug Geld für Autos und Motorräder und lernten die wirkliche Welt dort draußen kennen. Sie erwarben die Fähigkeit sich durchzusetzen und verstanden sich frühzeitig auf das Zusammenleben mit Frauen. Sie gründeten Familien und übernahmen Verantwortung, die uns über den Kopf gewachsen wäre.

Ich erinnerte mich mit Unbehagen an die Hofordnung. Bei schönem Wetter durften wir uns während der fünfzehn Minuten dauernden Pause um elf Uhr nur im Uhrzeigersinn bewegen. Ungefähr zehn Personen kümmerten sich nicht um das Gebot. Der Lehrkörper bedachte unsere Auflehnung gegen die Hofordnung mit Tadel. Immer wieder baute sich ein Lehrer vor mir auf und bekundete sein Missbehagen über mein Vergehen. Andere standen wie Späher an einem Gangfenster. Sie wunderten sich, dass ein verschwindender Teil das Gebot in Frage stellte und aussetzte, während der Großteil der Schüler die Verfügung als gegeben hinnahm. Die Regel zum geordneten Hofbetrieb wurde irgendwann einmal aufgestellt, um strikt befolgt zu werden. Die Vorstellung, Schüler wie Affen zu dressieren, reichte weit zurück. Ich empfand diese Verordnungen als unzeitgemäß und antiquiert. Das Gehen im Uhrzeigersinn war eine Schikane, die eine Erholung vereitelte. Weniger Mutige gingen für kurze Zeit in die falsche Richtung. Hob ein Lehrer den Finger in ihre Richtung, oder warf er ein strenges Auge auf sie, machten sie am Absatz kehrt und reihten sich in die Menge ein. Es war ganz so, als hätten sie nur einen Anstoß gebraucht, um ihre verlorene Orientierung wieder zu finden. Amüsiert sah ich sie gebückt schleichen, um nicht noch einmal in den Blickwinkel der Aufseher zu gelangen.

Ein noch schlimmerer Verstoß gegen die geltenden Grundsätze war das Abstützen an der alten Backsteinmauer zum Nebentrakt. Die ärgsten Gesetzesbrecher stachen aus der Masse grob hervor. Sie saßen, oder lehnten an der verbotenen Wand und kümmerten sich nicht um herannahende Lehrer. Ihnen war das Marschieren gegen den Uhrzeigersinn eine zu leichte Übung.

Jimi hatte eine verkrüppelte Hand, die er auffällig zur Schau trug. Über das Gelenk hatte er einen kurzen, bunten Schal gebunden. Mit seinem Kraushaar, das einen schwarzen Schlapphut hielt, wirkte er auf mich wie der weiße Bruder von Jimi Hendrix. Mit ihm wollte ich unbedingt befreundet sein. Er strahlte starke Selbstsicherheit aus.

Einem anderen Burschen begegnete ich täglich im Schultrakt. Er hatte pudelartige Haare und hing lässig an der Hofmauer, neben Jimi. Er hatte die Augen halb geschlossen, nach oben gedreht, als wolle er unbedingt zeigen, dass er High war. Der nächste in der Reihe war der Sohn der Sekretärin des Hofrates. Er kopierte die Gestalt des Sängers Marc Bolan von Tyrannosaurus Rex. Er hatte eine Frisur, die wie ein Dreieck aussah, dessen Spitze über den Scheitel deutete. Ob er wirklich den Begründer des Electric Boogie imitierte, oder sein Aussehen der Erfolg einer Neuorientierung war, konnte ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Sie alle hatten etwas gemeinsam.

Sie trugen schwarze Sonnenbrillen.

Diese Gruppe von Schülern war ein eigener Stamm. Er entwarf inhärente Regeln, um Autonomie zu signalisieren, wie etwa die Bewegungsverweigerung, oder das Marschieren gegen den Uhrzeigersinn. Ich untersuchte die Lehrer akribisch, die uns ihrerseits beobachteten. Dazu stand mir meine neue Fähigkeit zu Gebot, die ich den Hinterwildalpen erworben hatte. Ich konnte hinter die Maskerade der menschlichen Lügen blicken, ohne den Grund für ihr Verhalten zu verstehen.

Ich kam zu dem Schluss, dass wir für sie ausgesonderte Versuchskaninchen waren. Die Lehrer durchleuchteten die Gebärden innerhalb des Grals und erforschten meine schrittweise Annäherung an die Stammesälteren. Das war für sie ein offensichtlich spannender Vorgang. Je weniger Achtung die Meuterer vom Hauptstamm, den ordentlichen Schülern, bekamen, desto enger zogen sie ihre Kreise um den avantgardistischen Nebenstamm. Solange sie ihre Identifikation durch gute Beurteilungen bezogen, bemerkten sie die Jungen gar nicht. Kaum verschlechterte sich ihre Leistung und ihr Notendurchschnitt sackte ab, suchten sie die Nähe der Außenseiter. Ich war ein geeignetes Lehrbeispiel und bestätigte, die von mir postulierte Regel.

Erst als meine Leistung abgefallen und mein Interesse an der Schule geschmälert war, nahm ich Kontakt mit den Ausgestoßenen auf. Meine Beschäftigung mit dem Leben und dem Tod, sowie der Suche nach alternativen Lebensformen begann schon in der dritten Klasse. Da lag mein Notendurchschnitt noch zwischen eins und zwei. Nie hätte ich tatsächlich geglaubt, dass sich die Schüler einer höheren Klasse mit mir abgeben würden. Der Altersunterschied zwischen einem Vierzehnjährigen und einem Siebzehnjährigen war doch sehr gewaltig. Umso mehr erstaunte mich, als ich herausfand, dass Jimi praktisch eine Gasse weiter lebte. Es war das Haus mit den drei Höfen, in dem auch Pipo wohnte. Seine Freundschaft wurde mir von den Eltern seit dem Kindergarten oktroyiert. Oft stand ich mit Pipo vor der Haustüre und plauderte über Airfix-Modelle und Chemiebaukästen. Sein Vater kaufte ihm jedes Schiff, Flugzeug, oder Fahrzeug, solange es sich um ein Vehikel zur Kriegführung handelte. Sorgfältig baute er die Plastikteile zusammen und stellte sie in seinen Bücherregalen auf. Dann erklärte er, zu welchem vernichtenden Einsatz das dargestellte Objekt im ersten oder zweiten Weltkrieg ausersehen war.

Ich hatte gar kein Bedürfnis über die Funktion von Maschinen, die Menschenleben auslöschten, detaillierte Angaben zu erhalten. Allein ich entkam seiner angezüchteten Faszination kaum. Diese Verbindung wurde von Mutter und Vater herbeigeführt und unterstützt. In gewissen Grenzen erklärten sie sich mit Pipo einverstanden, die dort brutal gestoppt wurden, wo wir gemeinsame chemische Experimente durchzuführen trachteten. Der plumpe, riesige Schüler mit den karierten Wollhosen hieß eigentlich Kunibert, wurde aber abfällig Pipo genannt. Vielleicht deswegen, weil er wie ein Clown in seiner unzeitgemäßen Altmännerkleidung aussah. Das Angenehme an seinem Wesen bestand aber darin, dass er durchaus gebildet war. Er war aufgeschlossen und weltoffen und interessierte sich für alle Unterrichtsgegenstände. Er verstand rasch Interaktionen und war ein erfolgreicher Schüler. Seine Loyalität schlug sich nicht zuletzt darin nieder, dass er keine Probleme hatte, mich bei Schularbeiten abschreiben zu lassen, oder bei mündlichen Prüfungen leise einsagte. Obwohl er ein Vorzugsschüler war, verhielt er sich ganz anders, als die üblichen Streber, die abgeschlossen in ihrer Welt lebten. Sie flüsterten höchstens falsche Information den Bedürftigen zu, oder sprachen absichtlich so laut, dass der Professor es hörte und das Einsagen rigoros unterband.

Es ergab sich manchmal, dass Jimi die Lerchenfelderstraße entlang kam, uns beide vor dem Haustor antraf und grüßte. Er verweilte genau eine Zigarettenlänge, die er genüsslich rauchte. Dabei stieß er den Rauch aus der Nase und prustete dann mit geblähten Nasenflügeln. Stets wechselte er einige Worte mit Pipo. Wahrscheinlich stand er gerne in der Öffentlichkeit, um sich zu zeigen und benutzte die Gelegenheit, Smalltalk zu führen. Immer wieder sah er mir für Sekundenbruchteile in die Augen. Sein undefinierbarer Blick wanderte ständig aufmerksam umher, als hielte er nach jemandem Ausschau. Nachdem er seine Zigarette ausgetreten hatte und mit der Schuhkappe über den Randstein auf die Straße befördert hatte, verabschiedete er sich, indem er Pipo die Hand reichte. Aus seinem Verhalten schloss ich, dass er Pipo ernst nahm. Weder spottete er ihn wegen seines Aussehens aus, noch quälte er ihn unsinnig mit Worten, wie es die meisten Schüler taten. Die beiden sprachen über politischen Themen genauso, wie über die Marotten gewisser Lehrkräfte. Mich grüßte er, indem er mich aus den Augenwinkeln eines lustigen Blickes bedachte, kurz den Kopf hob und grinste. Ich fühlte mich geehrt, von einem Älteren beachtet zu werden, was mir ziemlich ungewöhnlich vorkam. Sein Erscheinen erschütterte mein Bild von den übermächtigen, distanzierten Oberstufenschülern. Wahrscheinlich war Jimi eine Ausnahme – nicht jeder, der die sechste Klasse erreicht hatte, schaffte es der Hochnäsigkeit zu entgehen. Pipo wiederum nahm keinen Anstoß an der Angewohnheit des Rebellen, in aller Öffentlichkeit das verpönte Rauchen zu ritualisieren. Die wohlerzogenen Schüler wären vor Scham im Boden versunken, mit einem rauchenden Halbwüchsigen, gesehen zu werden. Ich war stolz darauf, neben Jimi mit dem drahtigen, abstehenden Kraushaar und der komplett verschlissenen, gebleichten Jeansjacke, in der die Zigarettenpackungen hervor lugten, im Haustor zu stehen. Jeder, der die Lerchenfelderstraße passierte, konnte uns sehen.

Noch einem Schüler des Bundesrealgymnasiums fiel ich damals auf. Er trug einen langen, vornehmen Mantel und wirkte auch sonst eher wie ein distinguierter Herr, zu dem man aufschauen sollte. Gerald Hunger galt als intelligent und sprachgewandt. Dann wurde mir klar, dass er nicht nur so wie ich in der Schülerzeitung schrieb, sondern für die Herausgabe verantwortlich war. Man schätzte ihn für sein schriftstellerisches Können. Bald tauschten wir Lyrik und Prosafragmente aus und diskutierten vor dem genannten Haustor, das durch drei begrünte Höfe zu drei Häusern führte. Hier wohnte die Mehrzahl der Menschen, die ich seit meiner Kindheit kannte. Immer wieder entdeckte ich eine Person, die an uns vorbei ins Haustor ging. Sogar das Mädchen, um das ich mit Pipo in der Volksschule gestritten hatte, wohnte ein Stockwerk unter Jimi. Wer immer hier vorbei ging, sah mich dort in philosophische Fragen vertieft, mit hoffnungsvollen Maturanten, oder eben Freaks, wie Jimi einer war. Es gab keine Klassenunterschiede und das gefiel mir.

Eines Tages, als ich um vierzehn Uhr Unterrichtsschluss hatte, stand Jimi gerade vor der Schule und begrüßte einen Schüler, der ein bekannter Gitarrist bei einem Wiener Musiker werden sollte, der in den USA berühmt wurde. Damals spielte er in einer Band, in der Jimi hinter seinem Schlagzeug saß. Er bemerkte mich, indem er den Kopf hob. Ich nahm all meinen Mut zusammen und fragte ihn, ob ich die beiden begleiten könnte, da wir ja offensichtlich den gleichen Weg hatten. Er war sofort einverstanden, der Gitarrist streckte mir seine Hand hin und wir gingen die Albertgasse hinab. Es war ein relativ kurzer Weg von höchstens zehn Minuten und das Eckhaus in derselben Straße, wo ich wohnte, konnte man unschwer sehen. Von da an begleitete ich Jimi fast jeden Tag, sofern sich unsere Zeiten, zu denen wir das Schulgebäude verließen, überschnitten. Dann standen wir vor dem Haustor und plauderten. Manchmal kam noch ein anderer Bursch, den Jimi gut kannte vorbei und unser Gruppe wuchs.

An einem dieser Tage, als wir zu fünft versammelt waren, wagte ich eine Zwischenbemerkung und mischte mich in das laufende Gespräch ein. Mein Einwurf wurde nicht nur toleriert, sondern ich bekam grünes Licht, mich an der Konversation zu beteiligen. Zu meinem Vorteil wussten die Umstehenden, dass ich zu Jimis Bekanntenkreis gehörte. Als dann auch noch Gerald Hunger plötzlich neben mir auftauchte, mich durch einen jovialen Schlag auf die Schulter grüßte, waren meine gleichaltrigen Klassenkameraden bereits in weite Ferne gerückt. Einige von ihnen schlenderten auf der anderen Straßenseite an uns vorbei. Sie drehten sich schüchtern und respektvoll um, denn ich war unangreifbar geworden. Ich hatte mehr gewonnen, als wenn ich Schulsprecher geworden – oder mit einem Vorzug aufgestiegen wäre.

Gerald Hunger passte gar nicht in den Verbund der aufständischen Gymnasiasten. Er war ein kurzhaariger, properer Mann, der stets eine seriöse, teure Kleidung trug. Doch sein Geist war revolutionär und er unterstützte mich, soweit es in seiner Macht stand. Er druckte alle meine Gedichte in der Schülerzeit und erwähnte im Editorial lobend mein neues Pamphlet. Ich freute mich maßlos über meinen Erfolg. Ich karikierte die Lehrer und hob ihre Fehler drastisch hervor. Ich arbeitete ihre Ticks aus und unterzog ihr Wesen einer grausigen Metamorphose.

Die Schüler standen herzlich lachend in den Gängen und lasen einander meine lästerlichen Texte vor. Sie bewunderten meinen Scharfblick, die Eigenarten der Lehrer zu erfassen und ihre Marotten derart witzig wiederzugeben. Sie liebten meine Parodien, die jede Lehrkraft exakt katalogisieren konnte. Es war wichtig, die Professoren anhand von prägnanten Merkmalen zu definieren und auseinander halten zu können.

Ich investierte mehr Energie in die Verfassung neuer Schriften, als in das Auswendiglernen von Prüfungsstoff. Der Erfolg machte mich berauscht. Die Schülerzeitung wurde umfangreicher und in einer Druckerei gebunden. Gerald Hunger schlug vor, Geld für die Zeitung zu verlangen. Bangen Herzens verlangten wir sechs Schilling für eines der begehrten Exemplare. Uns blieb keine einzige Zeitung über. Es hatte sich herumgesprochen, dass meine Schmähschriften den Schülern aus der Seele sprachen. Man konnte straflos in der Zeitung schmökern und freute sich über das, was ein anderer sich getraute niederzuschreiben.

Ich hatte einen Weg gefunden, die Institution der Schule anzugreifen. Meine Art der Auseinandersetzung mit eingefahrenen Modellen umzugehen, war neu. Bisher hatte sich nicht einmal die Oberstufe getraut, die Lehrer in spaßiger Weise als neurotische, paranoide, verwirrte Sonderlinge darzustellen. Der ernst gemeinte Unterton war nicht zu überhören. Die Professorenschaft kochte, doch anscheinend getraute sich niemand, die Zeitung aus dem Verkehr zu ziehen. Schließlich waren wir die einzige Schule, die über ein Blatt verfügte, dass über die Grenzen des Bezirks hinaus, gelesen wurde.

Ich wurde fast einstimmig zum Unterstufenschulsprecher gewählt. Das war natürlich nur möglich, da ich die ersten drei Jahre immer als Klassensprecher gewählt wurde und erst so in der Liste aufschien. Wurde ich bisher aufgrund meiner Angepasstheit gewählt, zeichnete jetzt mein Widerstand für meine Befähigung. Ich wunderte nicht, denn ich hatte mit diesem Ergebnis gerechnet. Ich wurde vom Oberstufensprecher und Gerald Hunger unterstützt, die mich an ihrer Seite wissen wollten. Etwas hatte sich allerdings zu den vergangenen drei Jahren geändert. Die Lehrer zeigten sich im Festsaal empört über das Wahlergebnis. Nicht zuletzt, weil die Schulsprecher zumindest pro forma mit dem Stadtschulrat Termine einzuhalten hatten, bei denen ich ab nun anwesend sein würde. Besonders der Hofrat und andere alte Oberstudienräte fürchteten, die Kontrolle über die Schüler zu verlieren. Ich spürte den Hass der Lehrer im Unterricht, die heimlich die Schülerzeitung lasen und sich als Witzfiguren wiederfanden. Einige junge Lehrerinnen, die aber nicht ernst genommen wurden, beglückwünschten mich zu meinem Geschick. Ich war fürderhin ihr Liebling. Sie schenkten mir die guten Noten, während der Rest der Professoren sich befleißigt fühlte, mich in Grund und Boden zu stampfen.

Ich stieg also mit meinen zwei Nachprüfungen in die fünfte Klasse auf und ahnte, dass ich das letzte Jahr in der Albertgasse verbringen würde. Ich hatte nicht vor, jemals noch ein Lehrbuch aufzuschlagen. Doch ich wollte schreiben, solange es mir möglich war. Es wurde mittlerweile alles veröffentlicht, was ich Gerald Hunger in die Hand drückte.


DIE LSD-KRIEGE

Подняться наверх