Читать книгу DIE LSD-KRIEGE - Gerald Roman Radler - Страница 9
ERINNUNGEN AN DIE LIEBE
ОглавлениеDie Ereignisse des abgebrochenen Urlaubes fesselten mich in einer ungesunden Weise an Hinterwildalpen. In meinen Gedanken kam ich nicht los von dem Bild der Wildalpenstraße, die in einer Sackgasse mündete, an deren Ende das Jägerhaus mit den aufragenden Bergen stand. Nur ein immer schmäler werdender Pfad, der hinter dem Anwesen begann, erlaubte einen Zutritt in die verwilderte, idyllische Landschaft des Gebirges. In meiner Fantasie bauschte sich der romantische Trichter zum Ende der Schöpfung auf, hinter dem eine neue, bessere Welt wartete. Ich musste nur die Straße als geistige Entwicklung sehen, sie entlang gehen und die magische Schwelle überschreiten, bis ich meine alte Welt verlassen hatte und in eine Welt eintauchte, von der ich nie etwas gehört hatte. So konnte ich ein neues Leben beginnen. Niemand kannte mich und die schmachvolle Herabwürdigung meiner Gefühle, jenseits des Hauses, im verheißungsvollen Land. Ich konnte einen anderen Namen tragen und würde von Stunde zu Stunde das wirkliche Leben wie ein Handwerk erlernen. Zwanghafte Gedanken beschäftigten mich, während ich meine Habseligkeiten in einem Beutel verstaute und am späten Nachmittag zu einem Stadtbummel – wie so oft in diesen Tagen – aufbrach. Mein ganzes Trachten konzentrierte sich auf die Lösung aller Probleme gleichzeitig. So wie ein Selbstmörder denkt, der plötzlich im Tod die Auflösung jeglicher Verstrickung sieht und mit Freude ans Werk geht, verließ ich die Stolzenthalergasse. Ich hatte keine Geduld die verworrenen Fäden meines Schicksals einzeln aufzubinden, obwohl mir die Notwendigkeit zu sorgfältiger Arbeit tief im Inneren klar war. Nein, ich gedachte ein Übermensch zu werden und mit einem Schlag zu einem höheren Bewusstsein zu gelangen. Ich spürte den Helden in mir, der sich zum erbarmungslosen Kampf gegen den Drachen mit meinem Gesicht aufbäumt. Ich hatte keine Möglichkeit, meine zur Verfügung stehenden Kräfte einzuschätzen. Aber ich fühlte mich zumindest stundenweise dem Ringen um die Gerechtigkeit gewachsen.
Ich löste nach langem Überlegen am Westbahnhof ein Ticket nach Mariazell, und damit war mein Geld auch schon fast zur Gänze verbraucht. Während der Fahrt stand ich auf der hinteren Plattform im Freien und starrte in die dämmernde Landschaft. Als ich in dem kleinen Wallfahrtsort ankam, dessen Kirchlein bereits im Halbdunkel lag, war es halb neun Uhr. Nur älteren Damen und Herren waren zum Pilgern ausgestiegen. Ich fühlte mich deplatziert und hatte einen scheußlichen Kloß im Hals stecken. Aber auch wenn sich die Wirklichkeit nicht ganz mit meiner Vorstellung deckte, so reichten die romantischen Überlappungen noch, um mich voranzutreiben. Leider schwelte im Hintergrund die Depression ein wenig zu laut, um sie zu überhören. An diesem Punkt schuf ich einen Verdrängungsmechanismus, der halb bewusst gestartet wurde und den Zusammenbruch verhindern sollte. Es handelte sich um ein inneres Zwiegespräch, dass die Realität neu schrieb, aber die äußeren, sichtbaren Pfeiler der Tatsachen nicht versetzte. Die so geschaffene, neue Wirklichkeit sollte sich mit dem, was die Menschen sahen, noch annähernd decken können. Ich wollte mit diesem Gehirntraining sicher gehen, dass ich nicht lediglich einem Trugbild aufsaß, welches niemand außer mir wahrnehmen konnte. Kurzum, nun machte es also Sinn, hier zu sein und ich schritt Frohgemutes aus.
Rasch fand ich die Straße, die mich nach Eisenerz bringen sollte und bald war es finster. Ich weiß nicht, worüber ich sonst noch alles nachgedacht hatte, als ich in die Schwärze der Nacht hineinging. Aber ich legte mir hauptsächlich einen Lebensplan zurecht, der überhaupt nicht in meine akute Gefühlslage passte und daher zu einer Lebenslüge konvertierte. Meine Angst stieg stetig ins Unermessliche, als ich gegen Mitternacht in Weichselboden einzog. Einige unbeleuchtete Häuschen gab es nur in der Nähe des Schildes. Das Sträßchen war von immer höher ansteigenden Nadelbaumreihen umsäumt. Linker Hand befand sich ein wuchtiges Sägewerk. Schon von weitem rätselte ich über das Gelände. Mir schwante Übles beim Anblick der Anlage, in der ich einmal einen Galgen zu erkennen glaubte, ein anders Mal eine Abschussrampe für Raketen. Als ich dann endlich vor dem Werk stand, war meine irrationale Furcht um nichts gemildert. Die Angst stieg, als ich mich genauso vor einem Sägewerk, wie vor einer Menschen vernichtenden Maschine fürchtete. Hunderte Baumstämme lagen drohend in den Himmel getürmt. Keine Menschenseele war zu sehen. Es kam dann doch noch ein Auto vorbei – es sollte in der ganzen Nacht das Letzte sein. Ich erwog, es zu stoppen, versteckte mich dann aber geduckt hinter der Böschung. Die Schemen der zerklüfteten Felsen sahen immer bedenklicher aus. Ich wollte beinahe Fersengeld geben und in fliehender Eile umkehren, aber ich konnte mich nicht besiegen lassen. Weder der Natur, noch meiner unmenschlichen Angst wollte ich mich beugen. Das war der erste Tag in meinem bisherigen Leben, an dem ich mutterseelenallein in der Wildnis auf Abenteuersuche ging. Ich war ein wohl behütetes Kind gewesen, dem alles, was den Eltern gefährlich schien, verboten wurde. Sogar das Radfahren, das ich für meine Leben gerne tat, fiel in den verwehrten Bereich, der strikt untersagt wurde. Stattdessen bekam ich zu hören, ich wäre nicht gesund geboren und liebevoll heran gezogen worden, um dann als Krüppel, ohne Arme und Beine, die mir ein Lastwagen abfahren könnte, im Rollstuhl vor mich hinzudämmern. Also überwand ich meine Furcht, indem ich mir einredete, das Richtige zu tun und ging die schmale Landstraße so lange weiter, bis ich zu einem in den Fels gehauenen Tunnel geriet.
Vor mir gähnte ein unheimlich schwarzes Loch. Schmatzende Geräusche drangen über meine überreizten Nerven zu den Ohren, die ständig auf eine akustische Veränderung in der Umgebung achteten. Beherzt schritt ich in die Schwärze, aber nur, um nach zwanzig Schritten umzukehren und zu laufen, als wäre der Leibhaftige hinter mir. Es mochte eine Stunde vergangen sein, in der ich vor dem Eingang auf und ab ging, wieder mutig vorwärts in den Stollen schritt, in dem ich jedes Mal sofort von einer erstickenden, undurchdringlichen Konsistenz umgeben war, in der ich wie in einem Brei zu rudern begann. Wieder im Freien blickte ich dankbar zu den Sternen auf, die genug Licht spendeten, um am Leben zu bleiben. Zu dieser Zeit hatte ich die Mondphasen noch nicht so genau beachtet, obwohl ich ihren Einfluss auf mich zu spüren begann. Es musste Neumond gewesen sein, obwohl die meisten meiner Abenteuer in den folgenden Jahren zu Vollmond stattfanden. Nie wieder wollte ich so einem gefährlichen Schwarzmond von Angst gepeinigt, verloren in der grausamen Natur, ausgeliefert sein.
Aber irgendwann wusste ich, dass ich keine andere Möglichkeit mehr hatte, als in den Bergtunnel zu gehen, weil ich nicht von meinen inneren Dämonen unterjocht werden wollte. Ich konnte mich überhaupt nicht erinnern, in dem Auto meines Vaters je durch einen Tunnel am Weg nach Hinterwildalpen gefahren zu sein. Diesem Umstand verdankte ich eine stetig anwachsende Panik. Diese Straße schien verhext zu sein. Die weiche, stockdunkle Masse umfing mich fast augenblicklich und nach wenigen Metern kämpfte ich nur mehr gegen den Impuls an, einfach unkontrolliert loszuschreien. Ich drehte mich um und wusste im selben Augenblick, dass ich diesen Fehler nicht noch einmal wiederholen durfte. Für diesmal war es allerdings zu spät. Hinter mir befand sich ein stecknadelkopfgroßes Licht. Das war der Eingang zur Hölle, die ich unbefugt betreten hatte. Starr vor Angst betastete ich die eine Felswand. Sie war glatt, nasskalt und scharfkantig. Ich zog die Finger weg, als hätte ich mich verbrannt. Zu geschockt, um unter Tränen zusammen zu brechen, setzte ich meinen Nerven aufreibenden Gang fort und jetzt war es wirklich absolut finster. So dunkel, wie es vielleicht einmal im Mutterleib gewesen sein mochte, oder in völliger Abgeschiedenheit der Erblindung. So leicht verliert man die Orientierung und das Zeitgefühl. Die Zeit zerrann und von oben tropfte es unaufhörlich. Schwache Rinnsale gurgelten von den Wänden und leise sirrende Laute, die in ein klagendes Fiepen umschlugen, ließen meinen Herzschlag stocken, der nach überstandener Gefahr hart und unbarmherzig von innen gegen meinen Brustkorb schlug. Ich hoffte, dass etwa Fledermäuse diese Geräusche verursachten, an denen ich als begeisterter Leser von Vampir-Horror-Romanen gar nichts auszusetzen hatte. Langsam begann ich mich zu fragen, wie lange der unheilvolle Schlauch wohl sei, der gar nicht existieren durfte. Dass ich an so einen ausgedehnten Stollen keine Erinnerung haben sollte, trug zu meinem schwindenden Gefühl für einen Rest von Realität bei.
Aber irgendwann, als ich halb verrückt vor Angst mit dem Schlimmsten rechnete, sah ich vor mir einen wackeligen Lichtfinger auf mich zeigen und es hieß: »Nur du bist gemeint!«
Ich begann zu rennen und stürzte erleichtert ins Freie, wälzte mich im Gras und starrte ins Firmament. Ich war gerettet, die Welt hatte mich wieder angenommen – mich den Verschollenen im düsteren Erdreich. Ich war nicht verloren, ich war wiedergeboren und hatte – zumindest für dieses eine Mal – meine Feigheit überwunden. Erschöpft suchte ich in der Nähe der Straße und doch von Autos uneinsichtig einen Platz in einer moosigen Mulde. Von Schlaf war ich trotz lähmender Müdigkeit doch weit entfernt. Insbesondere nachdem eine klamme Kälte und ein feuchter Tau bis in meine Knochen zu kriechen schien. Es war derart ungemütlich am Waldboden zu liegen, als würde ich in einer eingelassenen Badewanne mit Eiswasser ruhen. Dennoch verharrte ich geschützt in dieser unwirtlichen Mulde. Wenn ich mich nicht bewegte, dann spürte ich die Kälte kaum. Sobald ich aber meine Position änderte, fror ich erbärmlich. Zähneklappernd stand ich von meinem Versteck auf und taumelte der Dämmerung entgegen. Ich musste bisher stundenlang gegangen sein. Ich konnte das Aufgehen der Sonne kaum erwarten. Als ich schon glaubte das Land würde von einer nördlichen Mitternachtssonne bestrahlt werden, schob sich eine rote, feurige Scheibe hinter den Bergen hervor.
Es war schon einige Stunden hell, als ich das Forsthaus erschöpft erreichte. Ich fühlte mich gereinigt, meine Augen sahen die Umgebung in einer schmerzenden, viel zu klaren Helligkeit, die jedes Detail überzeichnete. Meine Träume waren einer stumpfen Apathie gewichen, in der ich nicht mehr wusste, wie es weitergehen sollte. Ich zimmerte mir in aller Eile eine neue Wirklichkeit zusammen, in der ich bei der einfachen Familie wohnen und arbeiten würde. Ich klammerte mich an ein Wahngebilde wie an die selbstverständlichste Sache der Welt. Ansonsten wäre ich in ein schwarzes Loch gefallen, ähnlich beschaffen wie das, nie enden wollende Tunnel, der vergangenen Nacht.
Die Mutter meines Freundes würde mir ein Zimmer freimachen, so malte ich mir die nahe Zukunft aus. Ich würde lernen, Tiere zu beobachten, bei Waldarbeiten helfen und verwundete Hirsche pflegen. Die Familie würde sich geehrt fühlen, dass ich mich bei ihnen zufriedener fühlte, als in der Stadt. Einen Freund hatte ich auch, der sich über mein Kommen erfreut zeigen würde. Er konnte ein gutes Wort für mich bei den Eltern einlegen und ich konnte ihm Nachhilfe in Latein, Chemie und Deutsch geben.
Die Wirklichkeit sah freilich anders aus. Mein Kommen wurde mit geschockter Überraschung quittiert und dann mit gespielter Freundlichkeit bedacht. Auch die Freude meines Freundes war beträchtlich gedämpft. Ich war innerlich entsetzt und hoffte, mich zu irren. Aber meine neu erworbene, stationäre Sichtweise, ließ keine Zweifel offen. Das blendend helle Licht der frischen Sonne ließ diese Menschen wie Schauspieler auf einer grell ausgeleuchteten Bühne erscheinen, welches nur ihre Versprecher und Fehler scharf hervor arbeitete. Auf die Frage, wieso ich denn allein und ohne Voranmeldung hier auftauchte, antwortete ich mit einer Lüge. Meine Eltern ließen mir genug Spielraum und hätten das Vertrauen, mich allein reisen zu lassen. Ich würde oft ohne Aufsicht in der Welt herumreisen, sagte ich, ganz wie es mir beliebte. Da ich zum Ausklang der Ferien einen spontanen Besuch bei lieben Freunden machen wollte, sei ich eben überstürzt gekommen. Die Mutter meinte, die Überraschung sei gelungen und ob ich mich nicht zu Hause melden wolle, dass es mir gut gehe. Das sei überhaupt nicht nötig, antwortete ich. Mein Freund, der eine gehörige Portion Bauernschläue aufwies, sah verlegen zu Boden. Der Blick seiner Mutter war lauernd und böse. Es schien, als hätte sie hinter ihren freundlichen, dummen Augen noch zwei Augen, die zusammengekniffen und voller Gehässigkeit auf mich blickten. Immer wenn ihr zweites Gesicht das Erste, Freundliche überlagerte, verzerrte sich auch ihr Mund. Ich war über das Wechseln ihrer Masken geschockt. Aber dann ließ ich mich aus Bequemlichkeit auf die nette Larve ein. Das restlose Verdauen meiner neuen Sichtweise hätte mich Unmengen an Energie gekostet und die stand mir einfach noch nicht zur Verfügung. Ich sollte zu gegebener Zeit noch genügend Gelegenheit finden, mich mit diesem Phänomen zu beschäftigen. Ohne nicht innerlich stark erregt zu sein, war es mir unmöglich hinter die Maskerade zu sehen. Ich wünschte mir die nötige Gelassenheit, die erschreckenden Bilder in ihrer Gesamtheit zu verstehen. Denn ich war weit davon entfernt, die Menschen und ihre Beweggründe zu erfassen. Die Impressionen zogen mich in einen Strudel, der mir keine Gelegenheit ließ, Luft zu schnappen und meine Eindrücke zu ordnen.
Das einfache Paar war von meinen Beteuerungen also einigermaßen beruhigt. Sie hatten ja keine Ahnung, wie es in der Stadt zuging, da sie noch nie weiter als nach Eisenerz gefahren waren. Ich verdrängte die unhaltbare Situation, obwohl ich wusste, dass ich hier sicher nicht bleiben konnte. Wenn ich aus dem Fenster in den Schlauch des Weges sah, der in der Schlucht endete, wurde mir angst und bange. Ich war in Wahrheit mutterseelenallein und sollte mich schleunigst aus dem Staub machen. Ich starrte abwesend aus dem Fenster. Die Straße wurde zum Wiesenweg, der Wiesenweg zum Pfad, der sich immer mehr verjüngte. Von hier aus entstand der Eindruck, die Natur hätte einen überdimensionalen Trichter erbaut, in den ich eingezogen wurde, wenn ich hinter das Anwesen ging. Dort lauerte die andere Welt und sie war längst nicht mehr die ersehnte Lösung meiner Probleme. Sie war fremd und Furcht erregend. Die aufgetürmten Felsen starrten mich feindselig an, während ich mich unter diesen Menschen zum Weinen unwohl fühlte. Ich verbrachte einige Stunden mit belanglosen Gesprächen mit dem Freund, der plötzlich gar nicht mehr zu mir passte. Er war mein Feind geworden, dem ich mich nicht anvertrauen konnte. Im Gegenteil – ich passte auf, was ich ihm mitteilte, da er mich mit halb geöffnetem Mund und angespannter Haltung belauerte. Er hielt mich zweifelsohne hin, bis seine Eltern einen Entschluss gefasst hatten. Er bildete eine Einheit mit ihnen, wie ich sie mit meinen Eltern nie hätte haben können. Ich war von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Ich hatte einen Fehler begangen, als ich hierher gekommen war. Ich suchte nicht diese Menschen und nicht diese Landschaft, die unter anderen Umständen romantisch hätte sein können. Ich rannte hinter dem Wunsch nach einer Beziehung zu einem Mädchen her, mit dem ich mein seltsames Leben teilen konnte. Eine Frau, die reif genug war, mich zu verstehen und der ich durch mein Anderssein bei der Bewältigung ihres eigenen Lebens helfen konnte. Ich suchte also einen Menschen, mit dem ich aus dem Wahnsinn dieser familiären und schulischen Enge ausbrechen konnte und ein Leben, das besser zu mir passte, beginnen konnte. Das so klare Ziel schien unendlich ferne und ich war plötzlich sterbensmüde. Die schwere Last drückte mich buchstäblich nieder. Als letzte Möglichkeit, in die Schlucht steigen zu müssen, lag wie ein Klotz auf meiner Brust und erstickte alle anderen Gefühle. Zu Mittag rief dann die Mutter zum gemeinsamen Mahl. Ein Ritual, das ich zu hassen gelernt hatte.
Zu Hause wurde die Runde bei Tisch gleichzeitig als Verhör benutzt. Wir Kinder wurden mit Worten und Blicken gequält und mussten essen, auch wenn wie keinen Hunger hatten. Aber es wäre äußerst unklug gewesen, mich zu verweigern. Während wir schweigend aßen, kreischte ein kleines Radio in der Küche. Leise, bodenständige Musik bescherte mir ein Missbehagen der besonderen Art. Es war Österreich regional eingestellt, ein Sender, den ich nie freiwillig hörte. Die Blicke, die ich meinem Freund zuwarf, wurden mit Unverständnis bescheinigt. Dann begann die tägliche Übertragung von Autofahrer unterwegs. Zahlreiche Vermisstenmeldungen wurden vorgelesen. Ob die anderen in der Bauernstube es so genau vernahmen wie ich, wusste ich natürlich nicht. Meine Eltern hatten prompt reagiert. Schließlich bin ich noch nie ohne Abmeldung eine ganze Nacht weg gewesen. An den Wortlaut des Textes erinnerte ich mich noch lange danach mit Schrecken.
Seit gestern Nachmittag ist der vierzehnjährige Gerald R. aus der elterlichen Wohnung abgängig. Wenn du mich hörst, Gerald, melde dich zu Hause! Es ist alles in bester Ordnung.
Natürlich war nichts in Ordnung. Es war so peinlich bei diesen Leuten beim Mittagmahl zu sitzen und über das Radio ausgerufen zu werden. Nicht viel Zeit verging und die Mutter des Freundes gestand, mit meinen Eltern telefoniert zu haben. Die Eltern eröffneten mir mit ernster Miene, ich könne nicht bei ihnen bleiben. Sie drückte mir zweihundert Schilling in die Hand für die Heimfahrt – ein Jausensackerl war schon fertig. Der Freund gab mir noch einmal die Hand wie einem Fremden. Ich hasste ihn dafür. Er hatte mich verraten. Ich fühlte mich wie ein Hanswurst und schämte mich grenzenlos ob meiner Niederlage. Vergessen war der Sieg über meine Bangigkeit im Stollen. Es zählte nur mehr dieser Moment der Schande. Der Vater des Bauernlümmels wartete mit laufendem Motor vor dem Haus. Reglos saß er hinter dem Steuer, wie ein Automat.
Ich beobachtete ihn verstohlen von der Seite. Eigenartige Gedanken über diesen Mann drängten sich auf. Er war ein Chauffeur, dem es egal war, wer zustieg. Vielleicht hielt er dem Gast den Wagenschlag auf, aber prinzipiell kümmerte es ihn nicht, wie sein Name war, oder woher er kam. Er hatte seine Anordnungen, egal ob sie von seiner Frau, meinen Eltern, oder der Tollkirsche kamen. Er wurde wahrscheinlich ordentlich bezahlt – in diesem Fall postanweisend von meinen Eltern – und damit war Schluss. Wortlos führte er mich wie ein Taxifahrer die Straße hinab, die mich statt in die Freiheit ins Verderben geführt hatte.
Ich hatte kläglich versagt. Wir passierten den Tunnel. Er war wirklich endlos lang und der Schweiß rann mir über den Rücken, als ich mich in der düsteren Grotte der gestrigen Nacht befand. Es war so kujonierend, auch nur daran zu denken wieder den achten Bezirk sehen zu müssen. Es war so betrüblich meinen gekränkten, gleichzeitig auf Rache sinnenden Eltern, gegenüberzutreten. Vielleicht musste ich sogar dem Autofahrer-Unterwegs-Team Rede und Antwort zu stehen.
Allerdings passierte gar nichts. Ich saß gemütlich im Zug, aß die riesigen Brote mit Käse. Immerhin wussten die Leute in Hinterwildalpen, dass ich Vegetarier war und respektierten diese Tatsache mehr, als meine Eltern. Sonst hätte ich wohl ein Speckbrot im Papier vorgefunden. In Bruck an der Mur überlegte ich noch auszusteigen und per Autostopp, in den Süden abzubiegen. Ich hatte keine Kraft mehr.
Gloggnitz, der Semmering tauchte vor mir auf. Schottwien. Für mich waren es nur Schilder. Ich konnte nichts mit der Natur dort draußen anfangen. Dann ging die Fahrt auch schon ihrem Ende entgegen. Am Südbahnhof warteten meine Eltern. Sie machten Gesichter, als wäre ich monatelang fort gewesen. Ihre Mienen waren zu Eis erstarrt, als ich ausstieg. Ich grinste aus Verlegenheit. Sie aber hielten mein Lachen wohl für Hoffart und meint Vater zischte leise:
»Dir wird das Lachen schon noch vergehen!«
Wie Recht er doch hatte! Da war mir klar, wie schwer es auch weiterhin für mich sein würde, meinen eigenen Stil zu kreieren. Ich wurde nicht nach dem Grund meines Unternehmens gefragt. Meine Eltern nahmen automatisch an, ich hätte diese Aktion ihnen zum Trotz gestartet. Sie waren so dumm und hatten nicht die Möglichkeit zur Reflexion. Die folgenden Wochen wurden äußerst ungemütlich und ich wurde wie ein Strafgefangener auf Bewährung behandelt. Endlich konnten sie mir zeigen, was Verzicht zu bedeuten hatte. Mein Vater unterzog mich einer umfassenden Gehirnwäsche. Pausenlos redete er auf mich ein. Ich konnte seine näselnde Stimme nicht mehr ertragen. Aufgrund der Anstrengung stundenlang zu argumentieren, war seine Sprache höher und leiser als sonst.
Dabei beschwor er die Wirren des Krieges herauf. Er wurde rücksichtslos mit DDT eingesprüht, um eventuellen Ungeziefer den Garaus zu machen. Eine ganze Kompanie musste sich vorbeugen, um einen brutalen, viel zu heißen, chemischen Einlauf zu empfangen. So wollte man der Verstopfung, einer unangenehmen Nebenwirkung eines hartnäckigen Fiebers, beikommen. Bei all den Massenverordnungen wurde niemals auf Individuelle Bedürfnisse, oder Empfindlichkeiten Rücksicht genommen. Er erzählte, dass er auf ausgehängten Türen geschlafen hatte und Zigaretten gegen Schokolade getauscht hatte, um bei Kräften zu bleiben. Stolz war er auf die Mengen an echten Cola-Sirup die er von den Fliegern bekam und unverdünnt zu sich genommen hatte. Dazwischen streute er Lebensweisheiten ein, die aufzeigen sollten, dass selbst ein genialer Mensch dem System niemals entkommen konnte. Am häufigsten erklärte er, dass ein Oberst seinem General unterstehend war, um mir die praktische Funktion des Gehorchens nahe zu bringen. Meine Mutter erinnerte mich, dass sie im Krieg wurmige Erbsen essen musste und bei jedem Bombenangriff mit ihrer altertümlichen, wuchtigen Schreibmaschine in den Keller gelaufen war. Schließlich wollte sie ihren Start in die Arbeitswelt nicht aufs Spiel setzen, obwohl sie liebend gern davongelaufen wäre. In einem muffigen, kalten Kellerabteil musste sie bei Kerzenlicht an ihren Filmlisten weiterarbeiten, wenn sie ihren Job nicht verlieren wollte.
Ich war schwer angeschlagen und stellte mich innerlich taub. Die Reaktion auf meine Kurzschlusshandlung war einfach katastrophal. Ich fühlte mich wie jemand, der aus Verzweiflung aus dem Fenster gesprungen war. Da lag ich nun und blutete, während die Eltern aus dem Fenster schauten und sich darüber beschwerten, was für ein hässlicher Anblick meine verrenkten Gliedmaßen darstellten und was für eine Frechheit es sei, dass ich sie so vor den Kopf stoßen musste. Sie waren für alle Zeiten blamiert. Nur bedingungsloser Gehorsam würde mir einen winzigen Teil ihrer Zuneigung wiederbringen. Mir war tagtäglich zum Erbrechen übel. Der Stollen war ein Kinderspiel, gegen die Gewissheit der Realität, in der ich seit meiner Geburt fristete. Irgendetwas war in jener Nacht mit mir geschehen. Es hing mit dem grellen, blendenden Licht zusammen.