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EINE SPITZBEHÜTETE KINDHEIT

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Wir fuhren in den sechziger Jahren oft nach Nordtirol auf Urlaub, weil mein Vater die glücklichste Zeit seiner Kindheit in Innsbruck und der nahen Umgebung verbracht hatte. Er entschied, wie so oft im Alleingang, dass wir uns der Tradition entsprechend kleiden sollten. Daher richteten wir uns in dem Sportgeschäft, das sich im Parterre des Hauses befand, bodenständig ein. Nur durch die Farben der Lodenjacken unterschieden wir uns noch voneinander. Mein Vater trug eine Dunkelrote, meine Mutter eine Schwarze, mein Bruder eine Himmelblaue und ich eine graue Lodenjacke. Wir bekamen alle die gleichen, peinlichen, schwarzen Knickerbocker. Sie sollten wetterbeständig sein und waren daher aus festem Dralon. Dazu gab es die unumgänglichen roten, dicken Wollsocken. Sie kratzten und schabten auf der Haut. Schlecht sitzende, bockharte Wanderschuhe, die Hacken, anstelle von Ösen aufwiesen, sorgten für ein unlustbereitendes Gehgefühl. Ein Wulst bohrte sich hart in den Zehengrund. Wenn man den Fuß abrollte, spürte man einen schmerzlichen Stich am Rist und sie gaben in keine Richtung nach. Sie scheuerten an der Ferse und rieben die Knöchel wund. Dazu waren sie nicht dicht und zogen das Regenwasser, trotz Lederfett, wie ein Schwamm an.

Die Hüte, die wir nach Anweisungen des Vaters zu tragen verpflichtet waren, spiegelten eine innerfamiliäre Rangordnung wieder. Mein Vater hatte einen grünen Filzhut mit vorne hinab gebogener Krempe und einer hängenden Feder vom Auerhahn. Meine Mutter trug einen Andreas-Hofer-Hut mit weißen, flauschigen Entenfedern. Ich hatte einen spitzen, hohen Hut in Grau, mit einer langen, aufstehenden Fasanenfeder. Mein Bruder wurde dazu verurteilt sich mit einem zu kleinen, grünen Hut mit zwei winzigen Federchen, die v-förmig abstanden, zu quälen. Von da an mussten wir die seltsame Tracht ständig tragen, die für lange Wanderungen ungeeignet schien. Die Knickerbocker schnürten den Blutfluss in den Beinen regelrecht ab, während die für den Sommer zu dicken Wollsocken die Waden unangenehm aufheizten. Unter den Hüten sammelte sich der juckende Schweiß und wir kratzten uns wie Affen am Kopf. Die Jacken waren heiß, bockig und hoben sich bei jeder Bewegung. Sie standen regelrecht steif von den Schultern ab, falls man nicht kerzengerade aufgerichtet war oder gerade selbstvergessen marschierte.

Oben in Bergen war es kalt, dann fror man trotz der vermeintlich passenden Ausrüstung. Bei unseren endlosen Ausgängen in den Tiroler Bergen fühlten wir uns in der zweiten Haut so elend, dass wir nur selten die Schönheit der Umgebung wahrnahmen. Die aufgedrängte Ausstaffierung war komplett unzweckmäßig und meine Eltern glaubten, das Wandern sei eben so anstrengend für den Stadtmenschen. Das mag auch der Grund sein, wieso mein Vater ohnehin lieber am Asphalt ging. Stundenlang konnte er in sengender Hitze über den flirrenden, stinkenden Teerbelang schreiten.

Das erinnerte ihn einerseits an den Krieg, denn er kam während der zermürbenden Touren regelrecht ins Schwärmen. Er erzählte dann, wie er sich unerlaubt von der Kompanie abgesondert hatte. Tagelang habe er dann in fremden Ländern auf Nebenstraßen, Expeditionen in unbekannte Regionen unternommen. So hätte er die letzten Winkel und Geheimnisse der Welt aufgestöbert, ohne einen Schilling dafür bezahlen zu müssen.

Andererseits begeisterte ihn der moderne Straßenbau unbändig. Er erkundigte sich bei der Bevölkerung, wo neue Straßen im Entstehen waren, aber noch nicht freigegeben waren. Er klopfte an Türen und horchte die Anrainer nach historischen Details der Umgebung und geplanten bautechnischen Veränderungen aus. Auf den, für den Autoverkehr noch nicht freigegebenen Autobahnstücken und Landstraßen, die später das ganze Land durchziehen sollten, wanderten wir dann mit geschwollenen Beinen und heraushängender Zunge, bis endlich das Banner eines Gasthauses wie eine Fata Morgana am flirrenden Horizont auftauchte.

Damit nicht genug. Überdies marschierten wir von Alm zu Alm. Diese ausgewählten Routen waren von Mängeln gezeichnet. Mein Vater hasste Rucksäcke, Jausenbrötchen und Thermoskannen, gefüllt mit Tee. Das wiederum gemahnte ihn an die armen Leute seiner Jugend. Gerade im Urlaub sollte man aber nicht diesen jämmerlichen Eindruck erwecken, man hätte kein Geld, einzukehren. Da hieß es ausharren, bis eine Almwirtschaft geöffnet war. Oder wir traten den entbehrungsreichen Rückweg zum Auto an und fuhren zur nächsten Raststätte, falls eine Hütte, mit der wir Kinder fest gerechnet hatten, doch geschlossen hielt. Stunden vergingen und die Hoffnung auf Essen und Trinken wurde allmählich untergraben. Mein Bruder weinte und ich wurde unausstehlich und zornig. Auf unerklärliche Weise hielten meine Eltern die übermenschlichen Strapazen aus, obwohl sie, ihrer eigenen Aussage nach, eigentlich verweichlichte Städter waren. Wir hatten das Gefühl, grausam für Taten, die wir nie begangen hatten, bestraft zu werden. Wir versuchten mit allen uns zu Gebote stehenden Tricks, in der eingemieteten Pension zu bleiben. Wir hielten die Eltern dazu an, ihren Tagestrip allein zu absolvieren. Gewiss lernten wir während dieser Strapazen wunderbare Landschaften kennen, aber weder vertrug ich die Autofahrten, noch konnte sich mein Bruder so lange wie geplant auf den Beinen halten.

Ab und zu schafften wir es auch, uns durchzusetzen. Dann verbrachten wie den Tag im Garten auf den Schaukeln. Die Schaukeln bestanden aus zwei gekerbten Brettern unter denen Seile liefen, die an den Metallpfosten der Wäschetrockner montiert waren. Dort hutschten wir unentwegt dem Sonnenuntergang entgegen, nur um den gefürchteten Exkursionen zu entgehen.

Allmorgendlich freuten wir uns, wenn die Sonne heiß auf die Veranda schien, auf den bevorstehenden, in unserer Fantasie simpel gestalteten, Tag im Garten. So ein sonniger Abschnitt, in einem oft verregneten Urlaub, hatte aber seine Tücken. Mein Vater nämlich gedachte die strahlenden Tage »auszunutzen«. Immer wenn er das Wort ausnutzen beim Frühstück gebrauchte, wurde uns Kindern bange zumute. Mein Vater war der Meinung, dass die Regenwetterperiode jederzeit eintreffen konnte und wir dann ohnedies an das Haus gebunden wären. Ihm stand der Sinn nach Bildung und Ausflügen. Für mich bedeutete seine Leidenschaft nur stundenlange Übelkeit, nach den Anfahrten im heißen Auto, das unter der prallen Sonne einen unerträglichen Gestank im Fond ausströmte. Das hieß aber auch für mich und meinen Bruder endlose Langeweile und warten, bis meine Eltern mit ihrer Tour fertig waren und wir uns in die Rücksitze des Wagens fallen ließen. Wir konnten es nicht erwarten, endlich wieder in den Garten zu unseren Schaukeln laufen zu dürfen. Wir beteten, dass es zum Zeitpunkt der Rückkehr noch hell war und wir einige Stunden freibekamen, unserem Hobby zu frönen.

An solch einem sonnigen Tag fand ein merkwürdiges Ereignis statt.

Wir fuhren bald nach dem Frühstück nach Judenstein, um den Tag auszunutzen. Wir saßen im Auto und mein Vater bereitete uns auf die bevorstehende Rundreise vor, indem er Geschichten aus seiner eigenen Kindheit erzählte. Er hatte sich als Knabe oft in Judenstein aufgehalten, wo die Verwandtschaft seines Vaters ein Haus besaß. Der Bruder seines Vaters arbeitete als Pathologe in Innsbruck und zog seinen Neffen, meinen Vater in den Bann der Forschung. Es musste sich so ähnlich abgespielt haben, wie es mein Vater bei mir getan hatte. Vielleicht kopierte er den Wissenschaftler, der ihn so beeindruckt hatte.

Mein Vater konnte seine Geschichten spannend erzählen. Zumindest mich fesselte die gruselige Schilderung des Kreuzganges im Wald, der ihn, als er selbst noch ein Kind war, zutiefst beeindruckt hatte. Mitten im tiefen Wald war eine Passion aus Steinmarterln aufgebaut worden, in Gedenken an das »Anderl von Rindt«, das grausamen Räubern zum Opfer gefallen war. Anderl war ein Junge, verlief sich im Wald und wurde von einer, im Wald lebenden, Verbrecherbande geschändet und gevierteilt.

Auf der Fahrt nach Judenstein war mein Bruder im schwülen Fond eingeschlafen. Gemächlich fuhr mein Vater die Landstraße entlang und schilderte ausführlich, was er über die Geschichte wusste. Ich saß am Beifahrersitz und hing an seinen Worten. Ich stellte mir die schreckliche Situation vor, in der sich der Knabe befunden haben musste, obwohl ich nicht verstehen konnte, was »Anderl von Rindt« heißen sollte und was mein Vater mit »Passion« meinte. Ich starrte aus dem Seitenfenster und versuchte den vorbei fliegenden Wald mit meinen Augen zu durchdringen. Zwischen den Stämmen vermutete ich eine Räuberbande, die nach ihren Opfern Ausschau hielt. Ich schauderte. Die niedrige Geschwindigkeit, die mein Vater konstant hielt, erlaubte es, das Spiel des Sonnenlichts zwischen den Bäumen auf mich wirken zu lassen. Das Blätterwerk zauberte hüpfende Schatten in den Wald. Es sah so aus, als würden Gestalten einander verfolgen.

Bald endete die schmale, menschenleere Landstraße, die mein Vater eingeschlagen hatte, in einem Schotterweg. Noch einmal drosselte er das Tempo des Wagens. Langsam näherten wir uns einer Lichtung. Wir hatten alle Fenster hinab gekurbelt. Der Weg war so schmal, dass wir direkt zwischen den Stämmen fuhren. Die längsten Zweige der Tannen streiften meinen Unterarm, als wollten sie mich auffordern zu bleiben. Hier brütete eine dumpfe Hitze, unterstützt vom Schwirren tausender Insekten. Meine Fantasie war von der schrecklichen Geschichte überreizt. Ich fürchtete mit einem Mal, die Zweige der Bäume waren in Wirklichkeit die getarnten Arme von Räubern, die uns aus dem Auto in den Wald zerren würden. Mein Vater parkte den Wagen vor einem idyllischen Gasthaus. Da es sehr heiß geworden war, nahmen wir im Garten Platz und tranken Cola und Almdudler. Mein Vater inspizierte die Schenke gründlich und verglich ihren Zustand, mit dem, den er als Kind vorgefunden hat. Er kam zu dem Schluss, dass sich kaum etwas verändert hatte. Lediglich der Speisesaal war ein wenig renoviert worden. Er sprach die Kellnerin auf die frühere Besitzerin des Lokals an. Es stellte sich heraus, dass die Frau, die mein Vater gekannt hatte, die Mutter unserer Bedienung war. Die Freude war groß. Die Frau setzte sich zu uns und es wurden Schwänke aus dem vorigen Jahrhundert ausgetauscht. Allmählich erfasste mich lähmende Langeweile.

Zu meinem Entsetzen beschloss die Kellnerin, die auch die Eigentümerin der Wirtschaft war, in Eintracht mit meinem Vater, zu einem späteren Zeitpunkt, ein ausführlicheres Gespräch über die Vergangenheit zu führen. Mein Vater war guter Dinge und brannte darauf, uns die Passion zu zeigen. Danach wollten wir ausgiebig essen. Wir gaben unsere Bestellung auf und schlugen uns ins Dickicht. Ein schmaler Pfad, den mein Vater sofort wieder erkannte, führte durch den ebenen Hochwald. Er schwelgte in Kindheitserinnerungen, pries die schmackhaften Schwämme, die seine Eltern, sein Onkel und er gesammelt hatten. Er schilderte detailliert die Form seiner kurzen Lederhosen, die er als Bub getragen hatte. Sogar an die dazu passenden Socken, konnte er sich genau erinnern.

Auffällig war tatsächlich die Vielzahl der Pilze, die meine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Der Boden war von verschiedenartigen, farbigen Pilzen übersät. Mein Vater, der sich – einst angefeuert durch seinen Onkel – ziemlich gut mit den verschiedenen Arten auskannte, wies uns an, die Giftigen mit dem Spazierstock umzuwerfen, damit keine anderen Wanderer mehr versehentlich die falschen Schwämme pflücken konnten. Zuerst schlugen mein Bruder und ich wild mit unseren Stöcken auf alle bunten und schrillen Schwämme ein. Meine Mutter ermahnte uns streng, mit unseren Verwüstungen aufzuhören. Ihr gefielen nämlich auch die giftigen Pilze ausnehmend. Sie wären fürs Auge schön, meinte sie und hätten bestimmt eine Berechtigung im Kreislauf der Natur. Sie wurde von einem Augenblick zum anderen richtig böse und rollte die Augen wild. Mein Vater bestätigte, unter Druck geraten, kleinlaut ihre Ansicht.

Diese seltenen Momente seiner seltsamen reumütigen Umkehr, die er mit leiser betroffener Stimme untermalte, kannte ich bereits. Vielleicht folgte er damit einem inneren Gefühl, das ihm die eingelernten Muster zunichtemachen sollte. Er erklärte uns, dass auch die giftigen Pilze einen Platz in der Schöpfung hätten, genauso wie giftige Schlangen, ein Recht zu leben hätten. Damit war meine Mutter sofort besänftigt und fing an zu singen.

Mein Vater verstummte. Er war aus dem Konzept geraten. Während einer angestrengten Pause, die seiner krausen Stirne abzulesen war, ging er neben mir her und setzte mehrmals zum Sprechen an. Dann folgte die Beschreibung des stets mitgeführten Koffers seines Onkels, der Gegengifte für eventuelle Pilzvergiftungen, Schlangenserum und Bücher enthielt, die ihm das Erkennen seltener Pilze und Schlangen ermöglichte. Stundenlang wären sie durch die Wälder gestreift, erzählte mein Vater, und hätten Pilze bestimmt. Dabei hätten sie keine Furcht vor Vipern und Ottern gekannt, von denen es immer noch eine beträchtliche Population gab. Mein Vater ging aus diesem Grund vor uns her und schlug mit dem Spazierstock ins Gebüsch, um Schlangen zu vertreiben.

Mir gefiel der Gedanke, Pilze umzuwerfen immer weniger. Ich drehte mich nach meinem Bruder um, der anfallsweise wie besinnungslos immer noch auf alles eindrosch, von dem er annahm, es sei giftig. Meine Mutter ging voran und schien sein Treiben zu ignorieren. Sie sang mit viel zu hoher Stimme ein peinliches Kinderlied und hatte kein Interesse an ihrer Umwelt. Bald gelangten wir in den tieferen Wald. Die Stämme waren so hoch, dass sie den Himmel verdeckten. Ich beobachtete meinen Bruder von der Seite und dachte er sei wahnsinnig geworden. Sein Stock sauste durch die Luft und die Kappe eines Schwammes wirbelte in hohem Bogen über meinem Kopf und blieb am Stamm einer Tanne kleben. Er schnaufte und hatte die Unterlippe eingezogen.

Bald lag ich ein wenig hinter den Anderen zurück, da ich mich nicht Sattsehen konnte an der Farbenpracht bestimmter Pilze. Meine Perspektive schränkte sich irgendwie ein und ich verweilte selbstvergessen vor einer Ansammlung von Pilzen. Sie schienen mich mit einem Mal magisch anzuziehen. Besonders einige tiefrote Pilze mit weißen, buckligen, rissigen Flecken fesselten meine Aufmerksamkeit. Alles andere verblasste im Angesicht dieses märchenhaften Prunks, den ich wohl gut aus den Bilderbüchern kannte.

Es war so angenehm still und ich schlenderte aufatmend, als wäre eine Last von mir gefallen, umher. Hinter einer mächtigen Tanne stand ein Fliegenpilz, der genau so aussah wie auf den Zeichnungen inmitten der Märchen der Gebrüder Grimm. Ich bückte mich und berührte die Kappe, von einer unergründlichen Sehnsucht ergriffen. Sie passte ihn meine hohle Hand. Sie war kühl, feucht und ein wenig klebrig. Ich hatte das Gefühl ein seltenes Tier zu berühren und es mochte mich. Von dem Pilz ging ein belebender Geruch aus, der meine Nasenlöcher öffnete.

Einem inneren, unerklärlichen Impuls zufolge, brach ich ein großes Stück der Kappe ab und steckte es in den Mund.

Das Fleisch schmeckte frisch und etwas scharf. Ich kaute und hatte ein angenehm kühles Gefühl am Gaumen.

Meine Finger brachen noch ein Stück ab.

Es knackte und der Bruch war regelmäßig. Ich begutachtete das madenlose Fleisch und die radialsymmetrischen Fächer, von denen nicht eine einzige Schnecke gekostet hatte, wie es sonst oft zu beobachten war. Auch diesem Stück konnte ich nicht widerstehen und steckte es, ohne lang zu überlegen in den Mund. Dann stand ich mit einem Ruck auf. Ich starrte auf den Fliegenpilz mit der halben Kappe, doch ich hatte weder Angst, noch ein schlechtes Gewissen. Ich drehte mich um und ging ein Weilchen gedankenlos weiter.

Ich brauchte nicht auf die Richtung zu achten. Ich schloss kurz die Augen. Ich war zufrieden und glücklich in diesem alten Wald.

Dann sah ich wieder meinen Bruder. Er war seltsamerweise schwer zwischen den Bäumen zu erkennen. Das Licht schmerzte mich ein wenig in den Augen und schob Schlieren und blättchenartige Filter, die mit durchsichtigen Blasen gefüllt schienen, vor meinen Augen her. Besonders dann, wenn ich zur Sonne schaute, verlor ich kurz die Orientierung und meine gewöhnliche Wahrnehmung setzte aus. Ich sah optisch veränderte Sonnenstrahlen. Sie waren gebrochen und dort, wo sich der Knick befand, leuchteten sie in Regenbogenfarben. Ich musste genau auf meine Beine achten, um nicht zu stolpern. Ein wattiges Gefühl ergriff von meinem Körper Besitz und ich überlegte, ob dieser dahin watschelnde Bub, auf den ich lossteuerte wirklich mein Bruder war. Ich konnte mich ja an ihn heranschleichen und dann seine Identität überprüfen. Es wäre mir aber unerträglich gewesen, einen Fremden anzusprechen. Ich hatte den Jungen rasch eingeholt. Gerade drehte er sich um. Ich erschrak zutiefst, als ich das Gesicht meines Bruders sah. Johnny forderte mich dümmlich grinsend auf, es ihm gleichzutun und sein Stock köpfte gerade mit einem zischenden Laut einen Satanspilz, deren Kappe durch die Luft wirbelte. Ich bekam einen Stich in der Brust und wurde schrecklich wütend.

»Wie würde es dir gefallen, wenn ich dir mit einem Stock den Kopf abschlüge, du Zwerg!« herrschte ich ihn an.

Drohend hob ich meinen Spazierstock und ließ ihn einige Zentimeter hinter seinem Nacken herab sausen.

Mein Bruder war wie gelähmt vor Schreck. Er muss wohl bereits mit einem unvermeidlichen, furchtbaren Stockhieb gerechnet haben. Ich brach in Gelächter aus, das von den Wipfeln der Tannen widerhallte. Ich blickte etwas verängstigt zu dem schmalen Stück Himmel zwischen den Bäumen. Johnny rechtfertigte sich, indem er mit seltsam quakender Stimme kundtat, er handle nur auf Geheiß des Vaters. Er hatte die Einwürfe meiner Mutter und die Zerknirschung meines Vaters wohl vergessen. Ich starrte ihn ungläubig an. Er schien nichts Ungewöhnliches an seiner Stimme zu finden. Ich sagte ihm, die Schwämme seien so etwas wie Tiere und sie würden den Schmerz und vor allem den Tod deutlich spüren. Mein Bruder war ehrlich erschüttert und ging mit gesenktem Kopf neben mir.

»Woher weißt du das alles?« fragte er.

»Ich weiß es ganz genau und du solltest es niemandem verraten«, gab ich ihm, erstaunt über meine eigene Sprache, zur Antwort.

Er nickte und wir näherten uns schweigend den Eltern.

Ich sah das Steinmarterl zuerst und lief los. Mein Vater folgte mit langen Schritten. Ihn erfasste ein Freudentaumel, über das wieder gefundene Stück schöner Kindheit. Er wusste immer nur Gutes von seinen Jugendjahren zu erzählen.

Auf Steinsäulen, die in einem großzügigen Kreis angelegt waren, befanden sich Steinquader mit gehauenen Rahmen, in denen längst verwitterte, bunte Gemälde befestigt waren. Darunter standen in einer verschnörkelten, alten Schrift Zweizeiler in Reimform geschrieben. Wir gingen langsam und bedächtig die Stationen des Grauens ab. Besonders mein Vater vertiefte sich in das lebensecht geschilderte Szenario.

Es ergab sich, dass unsere kleine Gruppe zerstreut wurde. Meine Mutter widmete sich eher den Heidelbeeren und schwärmte von Heidelbeeren mit Schlagobers. Sie packte einen Plastiksack aus und ließ die gepflückten Beeren hinein gleiten. Bald war ihre Stimme, die uns alle aufforderte, endlich sammeln zu helfen, nur mehr ein Murmeln. Die Steingebilde schienen von einem unheimlichen, grünlichen Leuchten umgeben zu sein. Vielleicht strahlten sie auch von innen heraus. Ich stand mit offenem Mund vor einem der Bilder. Erwartungsvoll ging ich zur nächsten Säule, die im tieferen Wald verborgen war. Ihr gemaltes Bild schilderte das unselige Ende des »Anderls«. Die Darstellung gewann an dämonischer Plastizität. Ich verlor mich in jedem Detail – den groben, muskulösen Extremitäten der Räuber, ihren stechenden, aufgerissenen Augen, der schreienden Furcht des Kindes und dem absoluten Tötungswillen der ruchlosen Mörder, der hier dokumentiert wurde.

Um mich herum war es völlig still. Ich fröstelte. Mir war nicht bewusst, dass ich bereits vor dem letzten Sockel stand, auf dessen brüchigem Gemälde der verlassene, erbleichte Anderl dargestellt wurde. Seine Gliedmaßen waren vom Leib gerissen und genauso wie die Killer aufgetaucht sind, waren sie wieder verschwunden. Sie hatten sich ausgetobt und niemand hätte etwas dagegen unternehmen können.

Ich blickte mich um. Die Sonne stand ein wenig schief und das Licht war nicht mehr so blendend. Ich erinnerte mich, noch zuvor gedämpfte Stimmen gehört zu haben, doch ich war allein.

Nicht so allein wie Anderl, dachte ich bei mir. Ich blickte noch einmal auf das Bild. Das Schlimmste war bereits passiert. Ruhe kehrte ein. Nein, ich hatte keine Angst.

In der Folge muss mein Bewusstsein in argem Ausmaß getrübt gewesen sein. Nicht so der Instinkt meines Körpers. Später sehe ich, ohne chronologische Abfolge, meine beschuhten Füße laufen.

Ich beobachte sie von der Seite und ihr Tappen erfüllt mich mit Beruhigung. Die Füße bringen mich brav nach Hause, so denke ich. Sie sind wie von rechts oben, ein wenig hinter mir positioniert, gefilmt. Ich betrachte nur den Film. Ich spüre keine Anstrengung und habe nichts mit den beschuhten, tappenden Füßen zu tun. Doch ihre Aktivität ist vertraut und beruhigt mich ungemein. Dann sehe den Rand einer Landstraße, die sich endlos hinab windet. Lichter, deren Herkunft ich nicht erklären kann. Ein Durcheinander an Dingen, die ich nicht zu einem Ganzen fügen kann. Eine Holztür ist da noch. Dann wird es warm und riecht gut. Ich bin zu Hause, aber ich weiß noch nicht genau, wo ich hin will. Dann sehe ich das Ziel meiner Wünsche. Die Lösung meiner Probleme. Ich finde ganz einfach einen Platz, wo ich endlich geborgen bin.

Es ist die bleiche Freundin! Ich krieche unter ihren Körper. Ich habe es geschafft. Ich bin außer Gefahr. Sie steht über mir und betrachtet mich freundlich. Hier kann einfach nichts mehr passieren. So ist es auch. Ich rolle mich zusammen. Für heute ist es genug. Ich kann nachlassen. Mir wird nichts mehr geschehen. Es scheint, dass ich eingeschlafen bin. Ein Teil von mir ist aber wach und genießt den Schutz durch meine bleiche Freundin. Ein Teil von mir sieht den Film eines Buben, der in einer Familie aufwächst, und möchte ihm etwas Unbestimmtes, aber Wichtiges sagen, doch es geht nicht. Ein Teil von mir träumt und ein anderer Teil sieht dem Träumer wohlwollend und freundlich zu.


DIE LSD-KRIEGE

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