Читать книгу DIE LSD-KRIEGE - Gerald Roman Radler - Страница 7

NOLI ME TANGERE

Оглавление

Aufgrund meiner täglichen Asthmaanfälle war ich schon sehr früh mit einer beklemmenden Todesnähe konfrontiert. In manchen Nächten fürchtete ich, zu ersticken. Ich las, dass diese Erkrankung einen Menschen innerlich völlig umkrempelt. In einer Jasmin-Zeitschrift stand, die Patienten beginnen den Sinn ihres Lebens zu bezweifeln und hinterfragen ihre bisherige Handlungsweise. Eine Ausnahme bilden nur die Patienten, welche ihr Leiden als gegeben hinnehmen und mit Cortison behandeln. Diese Menschen bauen das Asthma in ihr Leben ein. Ich wollte mein Asthma unter keinen Umständen in mein jetzt erst beginnendes Leben einbetten.

Ich wusste, dass meine Versuche zur Selbstheilung auch mit dem Erstickungstod enden konnten. Aber ich hasste mich, bei dem Gedanken, mit diesem Gebrechen weiter leben zu müssen. Meine Eltern sahen meinen Eifer als falsch aufgefasstes Heldentum und dachten, ich spielte mit meinem Leben. Sie zwangen mir fortwährend schulmedizinische Hilfe auf.

Die eingeleiteten Tests zur darauf folgenden Desensibilisierung schlugen fehl. Mein Körper sollte nach Allergenen erforscht werden. Dazu war es notwendig, den Grad meiner Erstickungsanfälle festzustellen. Die einzige Möglichkeit war, im Spital einen künstlich herbeigeführten Anfall zu erzeugen. Ich nahm Platz in einer winzigen, eiförmigen Kammer, die nur vorne ein einziges kleines Bullauge aufwies. Ein Drehrad wurde durch den Arzt von außen geschlossen. Über einen quäkenden Lautsprecher hörte ich die Anweisungen des Personals. Ich atmete also über das gummiartige Mundstück eines gerillten Schlauches ein süß schmeckendes Gas ein. An den widerlichen Geruch und die rasch einsetzende Wirkung sollte ich mich für immer erinnern. Dieser Vorgang simulierte einen Asthmaanfall und die Funktion der Lunge wurde gemessen. Als meine Atemnot am Höhepunkt war, drückte ich auf den roten Knopf, der in Erstickungspanik gedrückt werden durfte.

Die Hydraulik versagte, die Safetüre öffnete sich nicht. Der Arzt kurbelte wie wild an dem ruckelnden Tresorrad. Ich rang nach Luft, denn die künstlich ausgelöste Attacke war wesentlich schlimmer ausgefallen, als eine unverfälschte Atemnot. Eine rote Signallampe blinkte unentwegt in meiner kümmerlichen Raumkapsel, von einem ohrenbetäubenden Schrillen begleitet. Mehrere Therapeuten in geöffneten, weißen Kitteln machten sich an dem Ei zu schaffen, in dem ich zusammengequetscht kauerte, und ermahnten mich über den Lautsprecher zur Ruhe und Besonnenheit. Als es dem Personal endlich gelang, die Türe wild gestikulierend zu öffnen, fiel ich buchstäblich aus dem Behälter. Ein Arzt fing mich auf und ich musste große Mengen eines Sprays einatmen, um wieder Luft zu bekommen. Ich bat, mir am Gang die Beine vertreten zu dürfen, bevor wir die Tests weiterführten. Niemand hatte etwas dagegen. Ich merkte, wie froh der Arzt war, dass ich nicht gestorben war. Ich verließ mit furchtbaren Schmerzen in der Brust das allgemeine Krankenhaus, ohne auf ein Ergebnis zu warten. Die für eine Testreihe angezeichneten Felder auf der Haut meines Rückens, schrubbte ich in der Badewanne ab, während mir der Schrecken in immer wiederkehrenden Schüben Zittern und Schweißausbrüche bescherte.

Seitdem bin ich nur mehr als Besucher in einem Spital gewesen.

Wenn ich Wochen später meine schlimmen Erlebnisse korrekt analysieren wollte, hatte ich eine Menge komprimierter, traumatischer Erlebnisse zu verkraften, die alle etwas mit Autorität zu tun hatten. Eine wahre Lawine an starren Hierarchien, die mich überrollten und unabsehbaren Schaden zufügten, war plötzlich losgetreten. Ich zürnte schon geraume Zeit den etablierten Respektspersonen. Infolgedessen erwählte ich eine andere Art von Persönlichkeit zum Vorbild, die mich von den Eltern, Lehrer und Ärzten erlösen sollte.

Ich widmete mich der Vaterfigur des Gurus, der irgendwo in der Ferne wohlwollend meine Übungen überwachte und zurückhaltend mein Fortkommen forcierte. Ich versuchte mein Glück unter der Schirmherrschaft der ehrwürdigen Meister, die mich, den Bart streichend, sicher schon als Nachwuchs entdeckt hatten. Ich vertraute nur der allumfassenden Erkenntnis der Yogis. Angestrahlt von der hellen Sonne der vollendeten Instruktive, fühlte ich mich endlich rundum wohl. Gleichzeitig begann ich mich, für die Grenzwissenschaften zu begeistern.

Zwei Jahre bevor ich den ersehnten Kontakt knüpfte, der mich zu meinem ersten halluzinogenen Drogenerlebnis führte, beschäftigte ich mich mit dem Leben nach dem Tod und ungewöhnlichen Sinneswahrnehmungen.

ASW, außersinnliche Wahrnehmung, nannte man damals den jungfräulichen Zweig, der gemeinsam mit der Parapsychologie im Underground boomte. ASW schien mir eine Antwort auf all meine Fragen zu geben. Die Beschäftigung mit Wundern und Naturkräften hatte es schon seit Menschengedenken gegeben, aber der Strom dieser geheimen Kenntnisse, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, war neu. Ich stellte meine Gedanken in einfachen Bildern und elementaren Worten auf Papier dar. Zu diesem Zweck bekam ich von meinem Vater schwarze, vorzüglich gebundene, linierte Bücher im Format A4, denen ich verschiedenen Themen widmete. Solche Bücher standen bei der niederösterreichischen Landesregierung in der Buchhaltung in Verwendung. Ich konstruierte Modelle einer Verbindung von Diesseits und Jenseits, deren Brücke die Träume waren. Einige Monate später bemerkte ich betrübt, dass meine Vorstellungen rein intellektueller Natur waren und nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben mussten. Ich las den, damals eher in Deutschland bekannten, Autor Hans Holzer und tastete mich an Experimente, die ASW auslösen sollten, heran. Schließlich landete ich dort, wo ich nicht hin wollte. Ich stellte das Leben in Frage. Täglich schrieb ich meine düsteren Gedanken nieder, mittlerweile auch in lyrischer Form.

Meine Karriere als Schriftsteller begann. Meine Funktion als Operateur meiner eigenen Psyche, nahm in diesem Jahr ihren Ausgang. Nach gründlicher Erforschung aller zu Gebote stehender Möglichkeiten, schien mir der Selbstmord die beste Chance, die Wahrheit zu erfahren. Gleichzeitig konnte ich der Beengtheit meiner Kindheit, die ich erst jetzt am Weg zum Erwachsenen zu spüren begann, entkommen. Obwohl ich meine Kindheit nachträglich gar nicht als unglücklich empfand, erahnte ich verschwommen, was Schiefgelaufen war. Ich hinterfragte jeden Satz, den die Eltern je an mich gerichtet hatten. Ich zog die Tauglichkeit ihrer Anliegen, die meistens wie Befehle klangen, in Zweifel. Ich ließ mich nicht mehr hinters Licht führen und machte ihnen zu oft klar, dass ich aufgewacht war und über mich selbst bestimmen wollte. Ihnen jagte meine Rebellion Angst ein. In dem Maße, wie ihr Verhalten von Unsicherheit bestimmt wurde, stieg auch ihre Angriffslust und die Anzahl autoritärer Übergriffe. Sie fürchteten angeblich um meinen Verstand. Es war verhängnisvoll, sie an meinen Veränderungen und Einsichten teilhaben zu lassen. Als tiefe Zweifel über die Glaubwürdigkeit ihrer Erziehung auftauchten, glaubten meine Eltern, ich litt an Jugendirrsinn und müsse rasch geheilt werden.

Der berühmte Dr. Zippo, ein in Wien angesehener Psychiater, wurde heimlich konsultiert. Die Eltern vereinbarten hinter meinem Rücken einen Hausbesuch. Ich war ehrlich geschockt, als es zuerst läutete und dann ein seriöser, graumelierter Herr im Nadelstreif plötzlich in meinem Zimmer stand. Er hatte die Daumen selbstsicher in die Seitentaschen seines Gilets gehackt und musterte mich amüsiert und doch prüfend durch seine teuren Brillen mit Goldrand. Ich kämpfte meine Enttäuschung nieder und machte gute Miene zum bösen Spiel.

»Das ist der Herr Doktor Zippo«, sagte meine Mutter, »und er möchte sich mit dir unterhalten.«

Meine Eltern schalteten einen Arzt ein, als sie mit ihrem Latein am Ende waren. Sie missbrauchten mein Vertrauen, indem sie Hilfe von außen suchten, ohne mit mir zu sprechen. Ich steckte mitten in den Reformen der Pubertät, während das Testosteron aus mir eine eigene Persönlichkeit formen sollte. Irgendwie hofften meine Eltern, ich wäre in Wahrheit krank, weil ich nicht mehr der liebe Bub war, den sie gezüchtet hatten. Sie suchten eine Verstärkung durch eine respektable Person der Öffentlichkeit, die ihnen zustimmte. Ich hatte sämtliches zugängliche Material über Schizophrenie gelesen, insbesondere die Bücher von Sigmund Freud. Ich hatte das Werk über die Hysterie, die Neurosen, die Traumdeutung und nicht zuletzt »Totem und Tabu« mehrmals eingehend studiert. Sogar Eugen Bleuler war mir weit mehr als nur ein Begriff. Ich hatte sein umfangreiches psychiatrisches Werk mit Faszination durchgenommen.

Panik ergriff von mir Besitz, denn der Teufelskreis, in den die Patienten gerieten, denen nichts mehr geglaubt wurde, schloss sich nur allzu rasch. Dr. Zippo würde den Fehler, der mir verborgen geblieben war, in mir finden und mich in Widersprüche verwickeln. Ich würde mich durch den Mediziner womöglich zu einem Dialog anstacheln lassen, der mich in Aussagen verstrickte, aufgrund der ich mit gefährlichen Arzneien kuriert werden musste. Ich fürchtete eiskalte Wassergüsse und Elektroschocks als Vorboten der notwendigen Lobotomie. Mir war nach Weinen zumute. Ich wollte »Verrat!« schreien, »ich bin völlig gesund und normal« und »das vergesse ich euch nie!«

Aber ich schwieg und es kam anders. Anfangs war das Gespräch recht holprig. Dr. Zippo gab sich mit seelenkundlicher Feinfühligkeit Mühe – in einem Gespräch unter vier Augen – einen Zugang zu meiner kindlichen Psyche zu finden. Mein Blick wurde immer wieder von seiner goldenen Uhrkette angezogen. Er betrachtete wohlwollend die vielen Poster an der Wand. Ich hatte sie ohne elterliches Einverständnis in deren Abwesenheit an die Wand gehängt hatte. Diese mit Klebestreifen an die Mauer gehefteten Bilder, sollten das Hauptindiz für meine Schizophrenie bilden. Besonders meine Mutter ereiferte sich wiederholt mit einem Spruch aus ihrer eigenen Kindheit, mit dem Kindern die Inaktivität verordnet wurde: »Narrenhände beschmieren Tisch und Wände!«

Besonders interessierte sich Zippo für Keith Emerson von Emerson, Lake and Palmer, der im gleißenden Scheinwerferlicht in den verschiedensten Aktionen posierte. Er hielt ihn für Udo Jürgens, den er anscheinend kannte und zur Not gerade noch als Künstler akzeptieren konnte. Die Unterhaltungsmusik schien ihn also auch nicht anzusprechen. Ich begriff sofort, dass er ein Klassikfan sein musste und keinen Einblick in die Facetten der Rockmusik hatte. Er begrüßte meinen vermeintlichen Musikgeschmack nicht sonderlich, was er geflissentlich verbarg. Ich wollte ihn schleunigst für mich gewinnen, wohlwissentlich mich eventuell wie ein paranoider Schizophrener zu gebärden. Ich legte also eine Kostprobe, einer der Klassik nahe stehender LP von Emerson, Lake and Palmer, auf den Plattenteller.

Es war Pictures at an Exhibition und basierte auf dem gleichnamigen Werk von Modeste Mussorgsky.

Ich hatte den Nagel am Kopf getroffen. Zippo spitzte die Ohren, bei den für ihn zweifellos exotischen Klängen. Von the Hut of Baba Yaga zeigte er sich begeistert und diskutierte mit mir über die perfekte Interpretation, die jene eleusinische Stimmung deutlicher als das Original hervor arbeitete. Meine kühnsten Hoffnungen wurden übertroffen.

Ich spielte noch andere Alben von ELP an, die sehr umstritten waren. Eingeschworene Klassikfans empfanden die Verschmelzung von Rock mit Klassik als Blasphemie. Niemand dachte zurzeit der Aufnahme dieses Konzerts daran, dass die Bilder einer Ausstellung derartig erfolgreich sein würde. Das Auditorium hatte dieses Experiment begeistert aufgenommen. Ich war sicher, Zippo hörte zum ersten Mal diese neue Stilrichtung. Er war für die Modulationen des Moog-Synthesizers aufgeschlossen. Greg Lake’s klare, wandlungsfähige Stimme zog ihn unwiderstehlich an. Ich glaubte nicht, dass sein Verständnis nur ein Trick war, um sich einen Zugang zu meiner putativ verkorksten Psyche zu erkämpfen. Er notierte sogar die Namen der Alben. Ich ahnte, er würde sie gleich kaufen wollen, denn es war ihm wie mir ergangen, als ich ELP’s Werken erstmalig lauschte.

Ich beschloss also, ihm kurzerhand zu vertrauen. Wir verstanden uns plötzlich prächtig und ich erzählte von einigen meiner Sorgen, die mir meine Neuorientierung bereitete. Er hörte aufmerksam zu und fragte, ob ich schon mit Drogen in Berührung gekommen war. Durch seine Ruhe und Bereitschaft zuzuhören, ermutigt, berichtete ich ihm wahrheitsgemäß, dass ich kein Interesse an Drogen, wohl aber an PSI und ASW, sowie an Psychiatrie und Chemie hatte. Er schnitt mir nicht wie die Eltern das Wort ab, ehe er seine Meinung abgab. Meine Ausführungen hörten sich in seiner Gegenwart gar nicht mehr verrückt an. Ich fühlte mich innerlich ruhig und direkt körperlich befreit. Eine Weile saßen wir uns schweigend gegenüber. Er schien meine gelöste Stimmung, zu erahnen. Er nickte mir zu und grinste lange ehrlich, wobei er mir direkt in die Augen blickte. Wir hatten die getragenen menschlichen Masken vor uns am Tisch gelegt und kosteten den Moment der Erleichterung aus, in dem es keine eingefrorenen Gesichtszüge gab und keine gekünstelten Redewendungen fielen. Ich fühlte mich unbeschreiblich wohl.

Dann stand er ungeschickt auf, ging aus dem Zimmer und ich hörte seine gedämpfte, dunkle Stimme aus dem angrenzenden Raum. Er holte die nervösen Eltern zum gemeinsamen Gespräch, die eingangs unbedingt bei unserer Unterredung anwesend sein wollten. Ich hatte ihnen die Empörung angemerkt, dass er mit mir – einem unheilbar Irrsinnigen – vorerst allein sprechen wollte. Jetzt erklärte er ihnen vor mir, dass mein Verhalten vollkommen normal sei, was mir ständig giftige Blicke meiner Mutter eintrug. Er meinte ich würde noch aufbrausender und unbändiger werden, wenn sie weiterhin meine Entwicklung stoppten, oder gar komplett ablehnten. Ich müsse in Zukunft unbedingt meine eigene Gefühlwelt entwickeln und selbst beginnen, zu entscheiden, was richtig und was falsch war. Im Falle der Unterdrückung der Entwicklung meiner Persönlichkeit, die automatisch und naturgemäß von ihren Vorstellungen abweichen würde, käme es zum Bruch zwischen unserem früheren Vertrauensverhältnis. Er bediente sich einer einfachen, klaren Sprache. Ich hoffte das Beste und bangte um unser kommendes Familienleben. Endlich saß die Person in meiner Nähe, mit der mein Vater zuletzt ständig gedroht hatte und versuchte zu vermitteln, anstatt mir eine Zwangsjacke anzulegen. Zippo war nicht der schwarze Mann, mit dem man Kinder einschüchterte, um sie zur Räson zu bringen.

Die Eltern waren mit einer Instanz konfrontiert, die wider Erwarten nicht einfach den Erwachsenen Recht gab, weil sie größer und stärker waren. Wie oft hatte meine Mutter schon mit der Psychiatrie und einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche gedroht, falls ich nicht bedingungslos gehorchen würde. Nun saßen meine Eltern wie Taferlklassler da, die Hände am Tisch. Die Mutter schwieg verlegen, denn sie hatte vor Zippos Auftreten und dem Doktortitel die nötige Ehrfurcht. Ich spürte aber mit Unbehagen, wie ihr Hass auf mich wuchs. Mein Vater maß mich mehrmals kurz mit erhobenem Haupt und verkniffenem Mund. Bald aber haderte er mit sich, als letzten Trumpf, die ganze schreckliche Wahrheit über mich zu sagen. Er schüttete sein Herz in einem Schwall von Worten und Körpersprache aus.

Mit leidendem Tonfall klagte er meine Missetaten an. Ich trocknete die Seife nicht in dem extra hierfür vorgesehenen Handtuch ab. Wenn ich am Klo säße, ginge es »rrrrrr«. Damit wollte er das übermäßige Abrollen von unnötigem Klopapier demonstrieren.

Dr. Zippo setzte sich kerzengerade auf. Ich lehnte mich entspannt zurück. Jetzt war klar, wer in diesem Raum der Kranke war. Zippos Augen bohrten sich schweigend in meine Augen. Meine Interpretation seiner jähen Aufmerksamkeit ging in nur eine Richtung.

Zippos Augen wollten sagen: »Dein Vater ist ein Zwangsneurotiker. Vorsicht! Wir haben in ein Wespennest gestochen«!

Ich hatte mir längst diesbezügliche Gedanken gemacht, seitdem ich mich mit der einschlägigen Literatur beschäftigt hatte. Im Lehrbuch der Psychiatrie konnte man eindeutige Kennzeichen, für ausgefallene Verhaltensmuster finden. Kurze Zeit war die Welt in Ordnung. Damals wusste ich noch gar nicht, welch Kapazität an unserem Tisch saß. Nach unserem Gespräch unter vier Augen, das ja ganz anders verlief, als ich befürchtet hatte, war also mein Vater an der Reihe. Der Arzt forderte ihn auf, die Probleme aus seiner Sicht zu definieren.

Nach seinen irrwitzigen Klagen über meine Verfehlungen, zählte mein Vater Sequenzen wichtiger Inhalte auf, die er gerne erfüllt sähe, weil es sich seiner Meinung nach ohnedies nur um Kleinigkeiten handelte. Dazu gehörte das Einhalten der gemeinsamen Mahlzeiten, das verlässliche Heimkehren um spätestens neun Uhr abends. Er begründete diese Forderung mit dem gesunden Schlafbedürfnis eines rechtschaffenen Menschen. Ferner forderte einen besseren Notendurchschnitt, die völlige Aufgabe der Beschäftigung mit unsinnigen Themen, wie ASW und PSI, sowie das Unterlassen des Lesens schädlicher Trivialliteratur. Dazu gehörten natürlich meine geliebten, wöchentlich erscheinenden Vampir-Horror-Romane, die ich sammelte und mich über die absonderlichen Einfälle der Autoren freute. Ich las die einfach gestalteten Spaltenhefte mit Begeisterung. Die stilistische Knappheit der Texte störte mich nicht. Eine Eigenart der meisten Autoren bestand darin, eine Szene anzureißen und nach einer erschreckenden Schilderung, mit einem anderen Ereignis zu beginnen, das wieder unterbrochen wurde, um zu früheren, oder parallel laufenden Geschehnissen zurückzukehren. Getrennt wurden diese kleinen Abschnitte durch gruselige Federzeichnungen. So wurde der Leser bis zum Schluss im Ungewissen gehalten. Die Spannung blieb erhalten.

Meine Mutter knallte dem Arzt einen Stapel der Hefte vehement auf den Tisch, dass er zurückzuckte. Er betrachte die Umschläge mit den bunt gemalten Gruselvisionen, die auf den Inhalt Bezugnahmen. Er las schweigend einige Titel, dann lachte er lauthals. Ich stimmte in sein Lachen ein. Mein Vater ließ sich nicht durch das Intermezzo beirren und fuhr einfach fort mit seinen Anliegen.

Meinen Musikgeschmack solle ich schleunigst überdenken, forderte er mit larmoyanter, kippender Stimme. Des Weiteren solle mich Dr. Zippo dazu verpflichten mit den Eltern unterhaltsame Sendungen, zur Stärkung der familiären Bande ansehen. Auf die Frage, welche Art von Ausstrahlungen er meinte, zählte er ungeniert Fernsehsendungen mit Heinz Conrads, Hans Rosenthal und Vico Torriani auf. Der Psychiater schmunzelte gemein. Wieder hakte er die Daumen in die Taschen seines Gilets und lehnte sich, seine Überlegenheit infam zur Schau tragend, im Sessel zurück. Mein Vater ließ sich nicht beirren. Er bezeichnete das Befestigen der Poster meiner Lieblingsinterpreten schlicht als Akt der Bosheit. Ich gebärde mich wie ein Irrsinniger, sagte er, der die ihm gezogenen Grenzen ständig mutwillig überschreite. Dann warf meine Mutter mit gewichtig ernstem Gesichtsausdruck noch kommentarlos den unvermeidlichen Satz »Narrenhände beschmieren Tisch und Wände!« ein. Dazu rollte sie die aufgerissenen Augen grauenvoll. Erstmalig wurde Zippo äußert unruhig und dachte angespannt nach. Seine Blicke wanderte unstet im Raum umher und immer wieder blieben sie an mir hängen. Die Daumen bewegten sich rhythmisch in seinen Westentaschen. Er schien nach Worten zu suchen, die den ersehnten Frieden brachten. Ich war innerlich ruhig. Die Eltern hatten sich eine peinliche Blöße gegeben, die sie als äußerst zwanghaft entlarvte. Ich empfand sie als strohdumm. Sie waren überzeugt von der Richtigkeit und Notwendigkeit ihrer Worte. Sie merkten nicht, wie unklug sie sich verhielten. Ihr Wunsch war, dass ich mein Leben aufgab und zum Roboter wurde, damit sie bequem in die wohlverdiente Pension dösen konnte. Es störte sie, Söhne zu haben, die nicht wie Fische in einem Aquarium zu handhaben waren, sondern egoistische Anliegen verfolgten und typische Charaktere entwickelten. Ganz im Gegensatz zu den exotischen Fischen hinterließen wir Spuren in ihrem einst beschaulichen Leben. Da sie aber beide ein beachtliches Maß an Obrigkeitsgläubigkeit besaßen, hoffte ich auf einen erquicklichen Ausgang dieser Sitzung. Ich sollte mich getäuscht haben. Dr. Zippo war Besucher – er würde wieder gehen – wir aber würden nach diesem Einschnitt immer noch unter einem Dach wohnen. Ich musste das vermeintlich vergeblich ausgegebene Geld für die Visite und die verlorene Würde meiner Eltern bitter büßen.

Zippo bemühte sich redlich, einen Konsens zu erzielen, indem er den Eltern abermals erklärte, dass sie sich meinen Wünschen nicht verschließen durften. Sie sollten nicht nur fordern, was ihnen zur Befriedigung ihrer Wünsche half. Sie konnten eher ruhig schlafen, wenn ich einen Haustorschlüssel bekäme und zu einem späteren Zeitpunkt, verbürgt nach Hause käme. Die große Wohnung erlaube es, die Eltern nicht aufzuwecken, wenn ich um Mitternacht vom Vorzimmer in das Kinderzimmer schleiche. Heutzutage sei es normal, wenn die Kinder einige Stunden später, als noch vor vierzig Jahren, nach Hause kämen.

Die Poster an den Wänden seien ein Zeichen von Identifikationsproblemen, die mit ausgestellten, wechselnden Vorbildern am ehesten gelöst werden. Man könne die heutige Jugend nicht mehr mit den Maßstäben der früheren Generationen messen. Ich sei auf der Suche nach einem eigenen Stil und könne ihn nur durch hartnäckiges Ausprobieren finden. Dann legte er den Kopf schief und meinte, die symptomatische Musik, die ich hörte, wirke auch auf ihn hygroskopisch. Meine Mutter knetete die Finger. Ihre Augen waren wie kleine Knäuel, die durch eine Batterie betrieben, hin und her glitten. Sie hatte ihn nicht verstanden und ihre Augenbewegungen sollten ihr den ersehnten Überblick verschaffen.

Sie bräuchten sich überhaupt keine Sorgen machen, meinte Zippo beruhigend. Denn wirkliche Probleme tauchten in der Regel vielmehr mit über angepassten Jugendlichen auf, die keine Gelegenheit wahrnehmen konnten, sich selbst zu finden und im Erwachsenenalter in eine ernste Krise schlittern würden. Wenn sie mich nur machen ließen, würde ich mich zu einem prächtigen Menschen entwickeln. Ich war von seinen Ausführungen begeistert. Die schwere Last, einsam gegen Windmühlen kämpfen zu müssen, um dann doch in der Klapsmühle zu landen, wich mit einem Schlag. Ich war so entspannt, dass ich hätte einschlafen können.

Abschließend fügte er hinzu, er persönlich hielte sehr viel von mir. Ich erzeuge bei ihm den Eindruck eines ausgeschlafenen, intelligenten, begeisterungsfähigen Burschen. Mein Vater warf noch ein, dass er selbst bar jeder Erinnerung sei, je eine pubertäre Krise erlebt zu haben. Er hätte einen guten Kontakt zu seinem Vater gehabt und seine Mutter geliebt. Als er ein Mann geworden sei, habe ihm sein Vater Geld fürs Puff gegeben, damit er dort seine Erfahrungen sammeln konnte. Diese Experimente blieben ohne Konsequenzen, bevor er normale Beziehungen eingehen konnte. Dr. Zippo schien am Überlegen, ob er überhaupt etwas sagen sollte, und ich fragte mich, was er denn gesagt hätte, wenn er gesprochen hätte und warum er letztendlich doch den Mund gehalten hatte. Er schaukelte mit dem Stuhl und knüpfte mit seiner Analyse an anderer Stelle an. Übertriebene Reinlichkeit, meinte er, sei weder für Junge, noch für alte Menschen besonders förderlich. Dabei konzentrierte er sich schweigend auf meinen Vater, der nervös hüstelte und seine ausgestreckten Hände betrachtete. Vater warf ein, er wollte doch nur ein paar Kleinigkeiten erfüllt sehen. In einem eigenen Haushalt könne ich sowieso im Dreck ersticken, hier aber sei er der Herr im Haus und ich müsse mich seinen Forderungen beugen. Dr. Zippo spitzte die Lippen, warf den Kopf in den Nacken und starrte mit zusammengekniffenen Augen zur Decke. Es wurde sehr still in der Wohnung.

Er schlug ein Treffen auf halben Wegen vor. Die Eltern wanden sich wie Würmer, bevor sie sich dann doch einige Zugeständnisse machten. Sie versprachen, mir gleich einen Haustorschlüssel anfertigen zu lassen und mich bis zwölf Uhr anstandslos ausgehen zu lassen. Sie würden mich künftig verstärkt unterstützen. Die Poster durften hängen bleiben, da die Wand sowieso irreparable Schäden durch die Klebestreifen genommen hätte. Es müsste eines Tages ausgemalt werden, wenn ich eine gewisse Reife erreicht hätte. Ferner würden sie meine bedenkliche Lektüre nicht mehr kritisieren. Ich versicherte, mich an die Null-Uhr-Grenze zu halten und meinen Notendurchschnitt wieder etwas anzuheben. Innerlich war ich erleichtert, dass wir zu einer Einigung gekommen waren und nahm mir ernstlich vor, gleich einen Plan zu erstellen, wie ich alle Punkte unter einen Hut bringen konnte. Die Eltern wirkten gelöst. Ihnen war sicher genauso recht, dass unser sinnloses, entkräftigendes Zerren ein Ende gefunden hatte. Schweren Herzens blätterte mein Vater unter Mitleid erregenden Seufzern den vereinbarten Betrag in die Hand des Arztes und Dr. Zippo verließ grüblerisch die Stolzenthalergasse.

Ich atmete innerlich auf. Ich ging beschwingt in die Küche, wo meine Mutter mit der neuen elektrischen Mühle Kaffeebohnen rieb.

Ihr Gesichtsausdruck machte mich stutzig. Mein Vater, der zuerst mit gesenktem Kopf im Türrahmen stand, zog sich schweigend in ein anderes Zimmer zurück. Mein Herz begann wild zu klopfen, aber ich stellte mich neben sie. Ihr jäher Stimmungsumschwung verdutzte mich nicht. Zu oft wurde ich schon mit ihren schizophrenen Mitteilungen konfrontiert. Mit verbissener Miene ignorierte sie meine Gegenwart. Da sie aber nie schweigen konnte, fing sie bald zu reden an:

»Du brauchst nicht zu glauben, dass du von uns einen Schlüssel bekommst und jeden Tag bis Mitternacht herum fliegen kannst. Das kommt ja überhaupt nicht in Frage. Eine bodenlose Frechheit, dass wir auf diesen Halsabschneider hereingefallen sind. Dann hilft der Quacksalber auch noch zu dir, obwohl er von uns bezahlt worden ist! Was glaubst du, was der Trottel gekostet hat? Keinen Schilling hätte der bekommen, wenn es nach mir ginge. Und so etwas soll ein angesehener Psychiater sein. Pfui. Dein Vater ist viel zu gutmütig. Ich hätte dich gleich in eine Besserungsanstalt gesteckt!«

Mit diesen Worten waren meine eben gestartete Karriere und zugleich meine Meinung über meine Mutter endgültig besiegelt. Was auch immer ich zu hören erwartete, mit dieser kompletten Absage hatte ich dennoch nicht gerechnet. Vielleicht hätte ich mich zusammengerissen, den Unterricht weiter besucht und später studiert. Aber an diesem Tag drehte sich meine innerste Richtung um. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Alles soll umsonst gewesen sein. Ich verstand den Geist meiner Eltern überhaupt nicht mehr und hatte fürderhin jeden Rest von Vertrauen abgebaut – aber leider nicht vollständig – denn das war erst der Beginn eines zähen Krieges bis zu meiner Volljährigkeit.

DIE LSD-KRIEGE

Подняться наверх