Читать книгу DIE LSD-KRIEGE - Gerald Roman Radler - Страница 14

DIE ERSTE REISE

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Ich hatte das Jahr negativ abgeschlossen und wurde nicht mehr für das Repetieren der Klasse zugelassen. Ein Termin beim Direktor machte mir klar, dass ich auch beim nächsten Versuch aufzusteigen, scheitern würde. Er legte mir dringend nahe, in die Amerlingschule zu wechseln, nachdem das elitäre Billrothgymnasium eine Aufnahme von Hippies verweigerte. Diese gemischte Anstalt würde solche Individuen wie mich tolerieren, nicht aber seine eigene Institution. Während des ganzen Gespräches saß die rechte Hand des Hofrats, ein gelbgesichtiger Professor mit säuerlicher Miene auf einem Sessel hinter mir und aß geräuschvoll eine Banane. Die ersten Minuten versuchte ich mich zu beherrschen, doch die knatschenden und quatschenden Geräusche, die sich seinem verformten Mund entrangen, blieben gleichförmig unverständlich. Ich lachte ihn schallend aus, weil ich sein Verhalten nicht verstand und mir auf der Zunge lag, ihn als Oberaffe zu titulieren. Schließlich konnte es mir egal sein, was sie dachten. Er fragte nur, was so lustig am Verzehr einer Banane sei und warum ich so anmaßend sei. Ich fragte ihn, was er sich dabei dachte, hinter mir als stiller Zuhörer und Bananenesser zu sitzen. Mir stünden derlei Sachen nicht an, bekam ich zu hören.

Es war sinnlos. Ich stellte dem Direktor noch einmal eine Frage nach der Betragensnote und ob er den Eindruck hatte, dass ich mich ungebührlich verhalten habe. Der Affe lachte verhalten und meinte, ich solle mich in den Spiegel schauen. Ich stand auf und ermunterte auch ihn, einen Blick in den Spiegel zu werfen, um die Entwicklungsstufe, auf der er sich derzeit befand unter die Lupe zu nehmen. Das genügte, die Unterredung war beendet und mein Vater, der gehofft hatte, ich würde zu Kreuze kriechen und vielleicht doch an derselben Schule maturieren, die ihm selbst schon die mittlere Reife beschert hat, sprach tagelang verbittert kein Wort mit mir. Es störte mich nicht – ich hatte andere Pläne – und ein Geheimtreffen unter vier Augen mit Tommy.

Er eröffnete mir, einige der Personen, die ich kenne, würden von Zeit zu Zeit LSD nehmen. Das Wetter sei angenehm, Mikes Eltern seien verreist und so wäre der Garten, samt Haus zu einer effizienten Benutzung frei. Er schlug meine Teilnahme an der Reise vor. Es würden nur erfahrene Mitglieder anwesend sein. Mike, Crisly und er. Etwas enttäuscht war ich schon, dass ich Richards Namen nicht hörte. Der Stolz an dieser Sitzung teilnehmen zu dürfen, überwog dennoch. Er sagte, die Lysergsäure sei aus verlässlicher Quelle und somit absolut sauber. Er werde die Mikros so nannte er die Form, in der das LSD gespeichert war – vordosieren und gerecht aufteilen. Wir würden sie einnehmen und uns in Mikes Garten mit einem Taxi begeben, so viel Zeit bliebe uns allemal, bis die Wirkung einsetzte. Ich solle den ganzen Tag und den Abend freihalten und keine Termine, die Stress verursachen konnten, ausmachen. Er gab mir einige Erläuterungen zu der Einnahme von LSD-25, nicht ohne mich darauf aufmerksam zu machen, dass niemand wirklich vorhersehen konnte, wie die Droge beim Einzelnen wirke. Ich spürte seine Unsicherheit über die unausgesprochenen Fragen nach meiner Konstitution. Immerhin war ich zwei Jahre jünger, als die anderen und er war nicht sicher, ob er sich mit seinem Okay zu meiner Teilnahme richtig verhielt. Ich zerstreute seine Zweifel mit schönen Worten. Er riet mir, mich mit nichts Besonderen zu beschäftigen. Bis zum Morgen in einer Woche sollte ich mir eventuell die Spielsachen meiner Kindheit ansehen und einfach guter Dinge sein. Viel Einfluss auf den Verlauf der Reise hätten die Elemente und Thematiken, mit denen man sich vorher auseinander setzte. Eine Steigerung der Empfindung wäre die Folge, die bestehende Probleme und Sorgen verschlimmern, ja sogar ins Unermessliche steigern könnten.

Wir hatten ein langes Gespräch, an dessen Ende ich den Eindruck nicht loswurde, meine allerletzten Tage zu bestreiten, bevor mein Leben vollständig anders wurde. Einerseits freute ich mich schrecklich, eine neue Chance zu bekommen, andererseits drückte mich eine andere Sache, von der ich gehört hatte, schwer nieder. Die Runde hatte beschlossen, einen Europatrip zu starten. Mike hatte bereits Interrail-Tickets geordert. Nachdem ich endlich Menschen gefunden hatte, die mir wie ein Geschenk des Himmels vorkamen, würde mir eine plötzliche Trennung sehr schwer fallen. Ich hatte sie alle in mein Herz geschlossen und wollte sie nicht einmal für einen Monat freigeben. Tommy fragte, ob er für mich auch eine Karte kaufen sollte, wenn er beim Kartenbüro der Ökista vorbeischaute. Ich sagte ihm lässig, dass ich meine Eltern interviewen würde, ob sie für mich einen kleinen Urlaub springen ließen. Doch ich kannte die Antwort schon. Meine Mutter war dermaßen entrüstet, dass sie einen hysterischen Anfall bekam und mir mit schlimmen Sanktionen drohte. Sie wollte mich von meinem Eurotrip mit der Interpol holen lassen.

Mike hätte mir sogar das Geld geborgt, aber wie sollte ich es ihm je zurückzahlen ohne Taschengeld. Ich war noch minderjährig und musste tun, was die Eltern sagten. Obwohl ich für einen Monat in einer Druckerei einen Ferienjob anzunehmen gedachte, drohten sie mir, mich als vermisst zu melden. Sie sahen in meinen neuen Freunden eine massive Bedrohung und eine extrem verderbliche Sippe.

Aber bis zu jenem bewussten Tag unseres Seelenexperimentes und der Reise ins Unbewusste, glaubte ich noch daran, mit ihnen aufbrechen zu können. Richard war mit von der Partie und setzte sich vergeblich dafür ein, dass ich mich ihrer Reisegesellschaft anschließen konnte. Er kam mit in unsere Wohnung und sprach mit den Eltern, was sie mehr beunruhigte, als überzeugte. Er schilderte die Route und erklärte, dass nichts dem Zufall überlassen wurde. Man würde mit der Bahn die ausgewählten Punkte ansteuern, sich überall einige Tage aufhalten, die Sehenswürdigkeiten fotografieren und nach dem Ablauf eines Monats wieder heimkehren.

»Aber nicht einmal denken!« wiederholte mein Vater ständig und meine Mutter sagte, sie würde uns die Polizei an den Hals hetzen.

Zum ersten Mal tauchte das vage Gefühl auf, ich könnte durch meine Eltern eine Bedrohung für die Aktivitäten der Gruppe darstellen und es sollte sich noch herausstellen, wie richtig diese Intuition war.

Die letzten Tage bis zum großen Ereignis verbrachte ich fast asketisch. Ich übte fleißig meine Stellungen, meditierte, las Carlos Castaneda und Timothy Leary und aß nur gesunde Speisen – die der Haushalt eben zu Verfügung stellte. Grießkoch mit Walnüssen und Obst. Ich holte meine Spielsachen aus der Sperrholzkiste und gab mich der Erinnerung hin. Ich mied zersetzende Konfrontationen mit meinem Vater und traf mich mit den Leuten zu fruchtbaren Diskussionen. Über allem hing aber der Schleier der Ungewissheit, was der Tag X bringen würde. Nicht alle Beteiligten waren so sicher, dass unser geplanter Trip klappen würde. Ich könnte auch durchdrehen und den Verstand verlieren und wer war dann schuld? War das die richtige Entscheidung? Die Augen meiner Freunde sprachen Bände...

Dann kam der Abend und ich unterhielt mich mit dem Bruder und wir hatten einigermaßen entspannte Stunden, die Aufregung aber nahm ich in den Schlaf mit. Zuerst lag ich wach und wälzte mich im Bett herum, als müsste ich für immer von meiner Familie Abschied nehmen. Ich bezweifelte aber nicht die Richtigkeit meiner Entscheidung. Tommy hatte ja grünes Licht gegeben, was mich sehr beruhigte. Ich wusste, dass er und die anderen keine leichtfertigen Probanden waren. Endlich sank ich in einen leichten Schlaf. Im Traum ging ich durch Wiens Gassen, ohne Ziel und ohne einer Menschenseele zu begegnen, bis ich zu einem grünen Hügel kam. Auf der Anhöhe stand eine Kirche. Ich öffnete das Tor und stand vor einem Stall. Die einzelnen Krippen waren abgeteilt und mit Stroh ausgelegt. In einem Abteil liebte ich ein fremdes, aufregendes Mädchen. Danach erwachte ich innerlich froh, denn ich hatte mich in einer nächtlichen Pollution in mein Leintuch erleichtert. Ich trank meinen Kaffee, absolvierte ein leichtes Übungsprogramm und wusch noch Geschirr ab. Dann erzählte ich, wir würden einen Ausflug machen und ich käme wie ausgemacht um zehn Uhr abends. Ich wollte nicht im Streit gehen und keinen Krieg auslösen. Die Eltern freuten sich über das abgetrocknete Geschirr und die leere Spüle. Ich nahm den Mistsack für den Hof in die Hand und machte mich auf ins Café Hummel.

Erwartungsvoll betrat ich das Lokal. Es war halb elf Uhr und meine Freunde besetzten einen Fensterplatz. Sie hatten gerade ein Wiener Frühstück mit einer Kanne Kaffee, Semmeln, Butter und Marmelade bestellt. Zum Essen brachte Tommy eine Miniaturschatztruhe zum Vorschein. Er hatte zwei Schwarze Mikros halbiert und noch einmal dieselbe Ration für Eventualitäten zurückgehalten. Ich fragte ihn, warum er das LSD teilte, wenn uns vier Probanden ohnedies ausreichend Mikros zur Verfügung standen. Er versicherte mir, dass die Wirkung dieser Trips wesentlich stärker ausfallen würde, als man mir vielleicht über Mikros erzählt hatte. Jene Person, von der er LSD beziehe, würde die Droge zuvor austesten, um eine zuverlässige Angabe über die Dosierung machen zu können. Ich könne mich darauf verlassen, dass diese Schwarzen Mikros rein und stark wären und es nicht notwendig sei, eine höhere Dosierung für den ersten Trip einzunehmen. Wir alle würden vollauf genug haben, sagte er lächelnd. Dann nannte er die Höhe der Dosis in Mikrogramm.

Ich sagte »aha, verstehe!«

Doch ich konnte nichts mit dem Gesagten anfangen. Die anderen schienen es besser zu wissen. Sie grinsten mich schelmisch an und Crisly klopfte mir auf den Rücken. Kurz hielten wir die winzigen Krümel in der hohlen Hand, dann leckten wir sie ab.

Wir bissen auf den winzigen Eckchen herum und ich hatte einen sauren Geschmack im Mund. Ich fürchtete, dass sich die Substanz irgendwie im Mund verlieren – oder ich sie versehentlich ausspucken würde.

Crisly zahlte die Zeche und wir traten in die blendende Vormittagssonne. Mir war aber keinesfalls heiß, sondern eher kühl und ich fröstelte innerlich. Sollte die Droge schon zu wirken beginnen? Wir stiegen in ein Taxi, denn vor dem Lokal befand sich ein Standplatz, so hatten wir keine Wartezeit. Am Weg zum Wilhelminenberg hatten wir einen jähen Lachanfall und ich sah Mike die Röte ins Gesicht schießen. Tommy wirkte kurzfristig verwirrt und er wandte rasch seinen Kopf nach links und rechts. Seine anfallartige Hektik erschreckte mich momentan zutiefst. Mein Herz klopfte etwas zu stark. Nach einigen Minuten legte sich das Pochen, dafür wurde meine Atmung seltsam tief. Ich wunderte mich sehr betroffen über meine eigene übertriebene Reaktion. Ich seufzte mehrmals, da ich eine nicht näher zu definierende Anstrengung empfand. Ich hatte ein wattiges Gefühl im Schläfenbereich und meine Augen schienen auszutrocknen. Die Säure zog meine Wangeninnenseiten zusammen, Speichel rann über meine Zunge und ich schluckte die metallisch schmeckende Flüssigkeit. Als wir ausstiegen, sahen sich Crisly und Mike an.

»Na bumm«, sagte Mike einfältig, »heavy«.

»Hullo«, rief Crisly aus und warf die Arme in die Luft. Ich wusste, sie meinten, die Wirkung setzte unerwartet und rasch ein. Ich war etwas verwirrt von einem nie gekannten Zustand, der sich ohne Vorwarnung einstellte. Mir war, als würde ich benommen einer Hülle gewahr, die bisher mein Leben gefiltert hatte. Ich verstand den Sinn dieser Wahrnehmung nicht, bis zu dem Augenblick, als ich durch die Hülle in die Welt herausbrach. Meine Sinne waren nicht länger im Gefängnis, sondern boten einen faszinierenden Ausblick. Ich war wie ein Baby, das soeben geboren wurde und staunte über die Vielfalt der Eindrücke. Die Watte um mich herum, die mich betäubt hatte, löste sich rasch auf. Ich dehnte und streckte mich. Mike sperrte das Gartentor auf. Er grinste und schüttelte den Kopf, als ich mich dehnte. Dann nickte er wissend und tat es mir gleich. Er stöhnte und es knackte in seinen Knochen. Ich dachte bei mir, Mike sei vom LSD so dünn geworden. Er kicherte, als hätte er meine Gedanken laut gehört. Es hätte mich überhaupt nicht gewundert, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. Auch ich schnappte eine Woge Gedanken meiner Freunde auf, die sich aus ihren wilden Mienen wie Papierdrachen lösten und mir entgegen flogen. Erst nachdem sich alle seufzend gestreckt hatten, gingen wir auf das hölzerne, rustikale Häuschen zu. Rund um das Häuschen war ein lieblicher, blumenreicher Garten angelegt. Tommy verhielt sich eher ruhig.

Mein Körpergefühl veränderte sich von Minute zu Minute und mich durchrieselte eine wohlige Energie, die ich vorher nie gekannt hatte. Ich streckte mich und atmete tief. Vor dem Häuschen war eine quadratische Terrasse angelegt, mit einem niedlichen Tisch und vier Sesselchen.

Schneewittchen und die vier Zwerge.

Von der Erhöhung konnte man über einige Stufen in die Wiese gelangen. Langsam stieg ich wieder die Stufen hinab. Mitten auf der Treppe veränderte sich mein Zeitgefühl. Ich schien zu schweben und blickte zu meinen Partnern. Sie bewegten sich wie in Zeitlupe und mich zog es zu einem Strauch mit bunten Blüten. Die Umgebung hatte einen Weichzeichen-Filter vor meine Wahrnehmung geschaltet. Ein Schmetterling flatterte um den Busch. Ich ließ mich auf die Knie nieder und betrachteten in aus der Nähe. Er hatte ein freundliches Gesicht und wollte mit mir fangen spielen. Ich erfüllte ihm diesen einfachen Wunsch und verspürte eine nie zuvor erlebte Freude. Wir wälzten uns am Boden herum und er segelte mit akrobatischer Geschicklichkeit zwischen den Zweigen der Bäume hindurch, während ich hinter ihm herlief. Falls ich nicht Schritt halten konnte, flog er langsamer und wartete, bis ich ihn einholte. Dann setzte er sich auf meinen Oberschenkel. Rasch waren wir Freunde geworden und ich hatte meine Umwelt vergessen. Es gab nur mich, den Schmetterling und den Garten Eden. Wenn ich ihm zu nahe kam, flog er auf die nächste Blume. Entdeckte ich ihn nicht gleich, würde ich zutiefst betrübt. Dann breitete er die Flügel aus, damit ich ihn sehen konnte, schon war ich bei ihm. Ich lachte und scherzte mit dem Schmetterling. Ich merkte erst, wie erhitzt und außer Atem ich war, als Tommy auf den Knien neben mir niederging und mich dümmlich angrinste. Er wusste, dass es mir gut ging und seine anfänglichen Sorgen waren verflogen. Er suchte offensichtlich Kontakt, um an meinem Erlebnis teilzuhaben. Ich kroch auf allen Vieren zu einer anderen Ecke des Gartens, die mir schon vor unbestimmter Zeit aufgefallen war. Mitten im Rasen war ein rechteckiger Holzdeckel mit einem eisernen Ring eingelassen, der meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein bekanntes Geheimnis verbarg sich hinter der getarnten Bedeckung. Ich musste mich nur erinnern. Ich zog also an dem Ring, um den Deckel hochzuheben, allein vergeblich, es gelang mir nicht. Ich vermutete, dass der Deckel längst mit dem Erdreich verwachsen war und tiefe Wurzeln hatte, die vielleicht bis zum Mittelpunkt der Erde reichten. Ich fand es wichtig, Tommy zu erklären, dass dies der Deckel zum Erdinneren sei und wir uns genau über dem Mittelpunkt der Erde befänden. Anfangs schien er irritiert, war aber schnell in meine bizarre Fantasie integriert. Wir überlegten, wie wir es schaffen konnten, den Deckel zu heben und ob wir die rechten Recken seien. Wir befanden uns plötzlich in der Geschichte von Avalon. Das Schwert, das im Amboss steckte. Die Lady of the Lake, die das Schwert aus dem See streckte …

Dann wurden wir abermals abgelenkt durch unbestimmte Geräusche und Bewegungen.

Crisly spielte »Auto fahren«. Er hielt ein imaginäres Lenkrad in den Händen und kurvte in Schlangenlinien zwischen den Bäumen. Seine Lippen verursachten ein aufröhrendes Brummen und blubberndes Gurgeln. Zuerst kam mir sein Spiel kindisch und albern vor, doch je länger ich ihn beobachtete, desto mehr musste ich lachen und steckte Tommy an, bis wir dasaßen mit Tränen, die von den Wangen über unser Gewand ins Erdreich liefen. Die Tränen waren zu schillernden Fäden geworden, die sich zum Erdreich zogen. Erstaunt und ungeschickt tippte ich mit dem Zeigefinger an die erstarrte Flüssigkeit, die ich ausgeschieden hatte. Ich versuchte aufzustehen, doch Hunderte Spinnweben hatten einen Kokon um mich gebildet und hielten mich am Boden fest. Tommy erging es nicht anders. Ich erschrak vor seinem Anblick. Nicht nur sein Körper, sondern sein ganzes Gesicht war mit bunten Zwirnen eingesponnen. Wir begannen uns hektisch, von dem Gespinst zu befreien. Mike stand vor uns. Wir hatten ihn nicht kommen gehört. Als er uns ansprach, war der Spuk vorbei und wir fuchtelten nur mehr panisch mit den Armen in der Luft. Mike hatte nur ein verächtliches Auflachen für uns über. Er selbst hatte eine dunkelviolette Gesichtsfarbe und riesige Augen, die wie schwarze Spiegel aussahen. Er forderte mich auf, ihm zu folgen.

Ich stand leichtfüßig auf und hängte mich an seine Fersen. Er führte mich irgendwie umständlich über die Terrasse ins Haus. Wir betraten die stille, muffige Dunkelheit des Wohnbereichs. Ein Geruch nach Holz schlug mir entgegen. Mikes ernstes Gesicht tauchte auf und mir fiel auf, dass er sich mehr mit Mimik als durch Worte verständigte. Dann sagte er, er könne mich am Horror bringen und sah finster und irre drein. Ich aber war noch gestärkt von meinem Erlebnis mit dem Schmetterling und lachte ihn aus.

»Das glaube ich nicht«, sagte ich. Er lachte höhnisch auf und öffnete die Lade eines Tisches.

Plötzlich hatte er einen Revolver in der Hand. Da ich die einzelnen Szenen nur im Augenblick verstand, während der vorhergehende Moment sofort verblasste, nahm ich die Situation wahr, wie sie sich im Entstehen darstellte. Er zielte auf mich und ich erinnere mich, wie ich zuerst dachte, wir hätten Rauschgift genommen und unsere Handlungen wären außer Kontrolle geraten. Mich quälte der dringende Verdacht, Mike wäre durchgedreht und würde mich gleich erschießen. In der nächsten Sequenz glaubte ich, Mike würde Spaß machen. Er wollte mich bloß erschrecken, um mir die Unsinnigkeit der Möglichkeit eines Horrortrips vor Augen zu führen, wenn man innerlich solid war und sich wohl fühlte. Sein Gesicht war hochrot und seine Augen schwarz und glänzend wie Insektenaugen. Ich schluckte und blickte in die Mündung seiner Waffe. Die Wirklichkeiten wechselten einander rasend schnell in meinem Kopf ab, ohne zu einer stabilen Realität zu gelangen.

Was geschah tatsächlich? Da wir nur ein Bewusstsein für das Jetzt hatten, registrierten wir ausschließlich die momentane Stimmung. Es gab keine logischen Zusammenhänge. Ich wurde von einem Wahnsinnigen, der nicht begriff, was er tat, bestialisch ermordet und gleichzeitig erlaubte sich ein Freund einen Spaß mit mir. Beide Wirklichkeiten schrieben ihre eigene Geschichte, jede Realität ging für sich einen anderen Weg, ganz so wie Schrödingers Katze. Von dieser armen, eingeschlossenen Katze wusste niemand, ob sie in dem Karton noch lebte, oder schon tot war. Bis zum Zeitpunkt des Öffnens gab es keine verlässliche Information. Entweder lebte sie, oder war verstorben.

Plötzlich legte Mike die Waffe in die Lade. Seine Züge waren von der übermenschlichen Kontrolle, zu wissen, in welcher Realität wir uns befanden angespannt und verzerrt. Ich hatte meine Lektion gelernt. Er hatte mir die totale Kontrolle über verschiedene Aspekte des Seins transportiert, ohne in eine spezielle Situation abzugleiten. Ich schwitze stark. Ich hatte dunkle, nasse Flecken auf meinem T-Shirt und sie rochen unerträglich scharf. Ich würgte. Mike rümpfte die Nase. Seine Gestalt ähnelte einem Skelett und seine Knochen unter der Kleidung rieben trocken aneinander. Seine Gelenke knackten bei jeder Bewegung. Ich lachte hysterisch und vom Garten her stimmte Crisly in mein Gelächter ein. Wieso wusste er, was hier im Haus vor sich ging? Wir atmeten tief durch und gingen in den sonnigen Garten. Ich war sehr nachdenklich geworden und Mike betrachtete mich eingehend von der Seite. Tommy saß dumpf brütend im Schatten auf der Hollywoodschaukel und wippte langsam hin und her.

Dann plötzlich wurde unsere Idylle brutal gestört. Schlagartig veränderte sich unser Trip. Ein außerirdischer Eindringling drückte die Klinke der Gartentüre nieder. Er gab seltsame Laute von sich. Ich versuchte das Stammeln und Quaken, wenigstens optisch zu entziffern. Doch ich trat auf der Stelle und ein Prickeln und Brausen stieg meinen Rücken hoch. Wieder hatte ich den metallischen Geschmack im Mund und zog die Wangen ein. Mein Gesicht wurde heiß und ich war desorientiert. Dann wurde ich aus der Flut von Eindrücken, die über mich hereinzubrechen drohte, herausgerissen. Ich erwachte verwundert wie aus einem langen Schlaf. Ein Mädchen gestikulierte wild und lachte hoch und hemmungslos. Ich erschrak aufs Neue und das Grauen stand uns Vieren ins Gesicht geschrieben. Tommy hutschte so heftig, dass sich die Schaukel tänzelnd zum Terrassenrand bewegte. Mike bewahrte halbwegs die Form, da er die Fremde aus der anderen Welt von irgendwo her kannte. Er erklärte mir, sie sei die Tochter des Nachbarn, die sich offensichtlich freute, jemanden im Garten anzutreffen. Sie suchte einfach die Gesellschaft von ein paar interessanten Jungs, da sie wohl behütet war und keine Gelegenheit hatte einen Kontakt zu Hippies zu pflegen. Wir sollten uns natürlich verhalten, sie würde keinen Verdacht schöpfen. Wir würden sie jedoch so rasch wie möglich abwimmeln, entschied Tommy. Crisly meinte, er hätte keine Lust hier Smalltalk zu führen und dann fragte er, ob das Mädchen Bescheid wüsste von unseren Aktivitäten. Mike verneinte. Sie sei ein völlig normaler, unkomplizierter Teenager, der sich von vier ausgeflippten Burschen im Nebengarten angezogen fühlte und Vaters Abwesenheit nutzte, um ein wenig zu flirten, erklärte er stockend. Wir mussten schon einen seltsamen Eindruck bei ihr hinterlassen haben. Wir standen, wie Verschwörer im engen Kreis und tuschelten. Als unsere Beratung abgeschlossen war, gingen wir wie Schauspieler mit Lampenfieber auf das Wesen zu.

Renate war der Name des kleinen, lustigen, etwas pummeligen Mädchens mit den rotlackierten Fingernägeln. Wir hatten keine Augen für ihre großzügig dargebotenen Reize. Die Wölbung ihrer Brust und die weiblichen Hüften machten keinerlei Eindruck auf uns. Die bemalten Fingernägel erschreckten mich. Die Finger sahen wie blutige Stumpen aus und wirkten auf meine bunt durcheinander gewürfelte Psyche wenig verlockend. Ihre verführerisch roten Lippen waren verschmierte, schlecht fixiert Flecken. Die Stellen, die sich wie Abziehbilder abzulösen begannen, flatterten im Brodem ihrer ausgesprochenen Worte. Ich starrte sie mit wachsendem Unverständnis an.

Mike bot ihr einen Platz auf der Terrasse an. Sie plapperte unerträglich monoton über die Begebenheiten ihres Lebens, seit Mikes letztem Gartenbesuch. Ich verstand nur, dass sie sich befruchten lassen wollte und auf der Suche nach einem Samenspender war, der ihr den einzigen Wunsch – nämlich den der Nachkommenschaft – von Herzen gern erfüllte. Was sie wirklich sagte, verstand ich natürlich nicht. Aber jedes Mal, wenn ich sie anlachte, fauchte sie, leckte die Lippen und stöhnte wollüstig, während sie die Oberschenkel öffnete und wand. Vielleicht war ihr Auftauchen in einer anderen Situation höchst willkommen, heute aber völlig unpassend. Die anfängliche Höflichkeit war verflogen. Tommy, der nur eine freundlich grinsende Maske aufrecht zu halten versuchte, sprang plötzlich auf und lief sozusagen im Sturzflug – mit vornüber geneigtem, gekrümmtem Oberkörper – die Stufen hinab in die Wiese, wo er stolperte und der Länge nach hinfiel. Ich fing hysterisch zu lachen an. Meine Stimme war extrem laut und hoch. Das Mädchen zuckte zurück, als hätte ich es geschlagen. Ihr Verhalten wurde mit einem neuerlichen Lachanfall quittiert. Sie duckte sich tatsächlich, wie unter einer Flut von Ohrfeigen. Ich hatte keine Kontrolle mehr über meinen Körper. Meine Beine zuckten wild und ich zitterte am ganzen Körper. Tommy lachte ins Gras, seine Hände krampften sich in das Erdreich. Crisly konnte auch nicht mehr an sich halten und schlug sich und mir abwechselnd bei jeder Geste und jedem Wort, dass Renate von sich gab auf den Oberschenkel. Allmählich wurde sie so verunsichert, dass sie fast zu weinen anfing. Sie sah von einem zum anderen. Mike, mit seinem verzerrten, dunkelroten Gesicht machte auf mich einen irren Eindruck. Ständig zuckten seine Mundwinkel, weil er sein Lachen unterdrückte und es immer wieder schaffte, für ein paar Sekunden eine todernste Mine aufzusetzen. Sofort aber verlor er mit einem kurzen hohen »Ti-hi-hi« die Kontrolle über seine Sprache. Er baute sich vor Renate auf und erzählte zwischen seinem »Ti-hi-hi« und dem schizophrenen Zucken seiner Gesichtsmuskulatur, wir hätten etwas getrunken und seien nicht mehr wirklich in der Lage eine Unterhaltung zu führen. Nach dieser Eröffnung ließ er sich rücklings in die Hollywoodschaukel plumpsen, die endlich vom Rand der Terrasse rutschte und mit Mike von der Anhöhe in ein Rosenbeet fiel. Mike lag am Rücken und starrte reglos in den Himmel.

»Exodus«, sagte Tommy, der seinen Kopf in Renates Richtung wandte und die Augen aufriss.

»Er ruhe in Fischers Fritze«, sagte ich, von Lachkrämpfen gepeinigt. Crisly neigte sich zu Renate vor. Sein Gesicht war sehr nahe an ihrem Haar. Die Nickelbrille war auf seine Stupsnase gerutscht.

»Jetzt ist er tot«, flüsterte er. Renate schrie auf.

»Fuck«, rief Mike und richtete sich auf. Dornen hatten ihre Spuren auf seiner Stirne und seinen Händen hinterlassen. Er hielt eine abgebrochene, rote Rose in Renates Richtung.

Renate offenbarte eine traurige, verwirrte Physiognomie. Ihre Augen schienen die Wangen hinab zu rutschen, dann lief sie gehetzt zum Gartentor. Das Tor klemmte. Gebannt starrte ich ihr nach. Sie rüttelte an der Schnalle, dann schwang die Türe lautlos auf. Sie schluchzte noch einmal auf, dann war sie verschwunden. Einerseits war es gut, dass Mike einen Teil der Wahrheit gesagt hatte, andererseits bezweifle ich, dass sie ihm Glauben geschenkt hatte und sich ihren Reim auf unseren Zustand machte. Wir rochen ganz sicher nicht nach Alkohol.

Schnell vergaßen wir die Episode und erheiterten uns über den Einbruch dieses Fremden Wesens. Ich nannte Renate ab jetzt immer so, wenn sie im Gespräch war: das fremde Wesen.

Tommy, Mike und auch Richard hatten bald nach unserer Reise ein Verhältnis mit ihr. Vielleicht kompensierten Mike und Tommy mit ihrer Affäre zu Renate die Ereignisse am Wilhelminenberg. Richard machte sich ohnedies an jede verfügbare Frau heran. Er wollte Punkte sammeln, damit er nichts bereuen musste, wenn er einmal alt und impotent sein sollte, verkündete er stets im Brustton der Überzeugung.

Momentan saß der Schock durch Renates Eindringen in unser Schlaraffenland tief. Irgendwie waren die paradiesischen Zustände brutal unterbrochen worden. Wir entschieden also schweren Herzens, unsere Zelte abzubrechen.

Einstimmig beschlossen wir zu Fuß, in die Brunnengasse zu gehen. In ein Taxi zu steigen, oder mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, schien in unserem gegenwärtigen Status unmöglich. Es war sehr heiß und wir fanden uns mitten auf der Straße diskutierend wieder. Ich starrte fasziniert in ein weiches, diffuses, rotes Licht. Wir standen an einer schwach frequentierten Kreuzung, genau unter einer Ampel. Es war alles genauso, wie vor einigen Stunden, als Renate in den Garten kam. Wir hielten ein Konzil ab, wie die vier Musketiere. Wir überlegten, wohin wir eigentlich gehen sollten. Die Ampel sprang auf Grün und als ein Schwall von Autos mit tosendem Brausen auf uns zu raste, sprangen wir geistesgegenwärtig auf den Bürgersteig. Wir setzten unsere lange Wanderung in die Stadt etwas umsichtiger fort.

Endlich schlug uns die vertraute Marktatmosphäre entgegen. Wir stiegen in den Lift, fuhren in den fünften Stock und betraten die Wohnung von Mikes Eltern. Ich war froh, endlich wieder in der Sicherheit einer abgeschiedenen Wohnung zu sein. Ich besichtigte die sauberen und schlicht eingerichteten Zimmer voller kindlicher Neugier. Ich fühlte mich wie der Entdecker neuer Welten.

»Geh jetzt ins Schlafzimmer, du wirst staunen!« forderte mich Mike auf.

Ich öffnete die Türe zum Schlafzimmer. Ich sah zum ersten Mal eine Stadtwohnung unter der Einwirkung von LSD. Ich starrte auf die dunkelblauen Tapeten. Riesige Muster drehten sich, kamen auf mich zu und wanden sich schraubenartig in die Wand zurück. Trichter bildeten sich in synthetischen Farben und schluckten als Wurmlöcher alles, was in ihre Nähe kam. Mir wurde ganz absonderlich zumute und ich riss mich rasch von dem Anblick los. Vor der Türe standen meine Freunde und brachen in schallendes Gelächter aus.

»Hast du es gesehen?«, fragte Tommy und Crisly legte mir die Hand auf die Schulter und meinte: »Jetzt kennst du es auch!«

Ich nickte stolz, die magische Wand mit eigenen Augen gesehen zu haben. Ich verstand jedoch nicht, wieso gerade dieser Raum so eine Wirkung auf uns alle hatte, nicht aber andere Zimmer, oder andere Wände dieser Wohnung. Ich begann aufgeregt zu rätseln, ob das wirklich an der Droge lag, oder wir nur sensibler gegenüber gewissen Sensationen waren, die man nur allzu gerne vernachlässigt. Ich beobachtete genau die absonderlichen Tapetenmuster in allen Zimmern der großen Wohnung. Da nichts weiter geschah, hatte ich das erste Mal den Eindruck, dass wir von der eingenommenen, verbotenen Arznei geöffnet wurden, um hinter die Dinge zu sehen. Auf einmal fühlte ich mich verletzlich, als würde ich schutzlos im Freien stehen. Alle Gegenstände waren durchlässig geworden. Ich setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Der Teppich knirschte, als bewegte ich mich auf Glas. Ich fürchtete, der Boden würde einen Sprung bekommen. Ich sah an mir hinab. Ich schien auf einem Spiegel zu stehen, der mich plagiierte. Ich beugte mich hinab. Wenn ich mich auf die Welt unter meinen Schuhen konzentrierte, nahm ich undeutliche Bewegungen wahr. Ich schluckte und die Musketiere wussten, dass ich ein Fünkchen der Wahrheit begriffen hatte, der wir alle so verzweifelt nachjagten. Nur aus diesem Grund wagten wir das Experiment, Lysergsäurediäthylamid zu nehmen, ohne je zu wissen, was uns erwartete. Denn niemand konnte auf exakte Studien zurückgreifen, die bestätigten, dass LSD keine Langzeitschäden verursachte. Es war ungewiss, ob das Gift tatsächlich irreparable Mängel, wie fehlerhafte Interpretationen der optischen und akustischen Reize hervorrief. Vielleicht erzeugte es in Wahrheit Irrtümer gedanklichen Ursprungs in der Wahrnehmung, die das Puzzle der Paranoia fertigten.

Mike holte einige Alben von King Crimson und Pink Floyd aus seiner eigenen angrenzenden Wohnung, denn wir wollten die einzigartige Qualität der teuren Stereoanlage seiner Eltern genießen. Ich setzte die Kopfhörer auf war fast augenblicklich entspannt. Ich atmete tief und driftete vollkommen weg. Rasch löste ich mich in Einzelbestandteile auf. Ich erlebte mich als eine Summe zahlloser dreieckiger Splitter, für die ich eine starke Zuneigung empfand. Die Splitter glitten durch einen leeren blauen Raum und wurden nur durch die einzelnen Töne der Musik befördert. Obwohl ich die Musik deutlich hörte, war der blaue Raum selbst völlig still. Ich konnte die Ruhe gleichzeitig mit der Musik genießen.

Ich erkannte, dass ich aus diesen glänzenden Scherben bestand. Obwohl ihre Anzahl unüberschaubar war, sorgte ich mich nicht um ihren Verbleib, denn ich hatte über alle Teile gleichzeitig den Überblick. Ich verlor mich in den Klängen von the court of the crimson king. Mit dem Anschwellen der Musik zum Refrain, begannen die Scherben spitzer und länger zu werden. Die Splitter leuchteten in prächtigen Farben und strebten zueinander. Während der folgenden Strophe trieben sie verblassend auseinander, ohne sich je berührt zu haben. Weit unter den versprühenden Klängen und Splittern bemerkte ich zwei dunkle Schatten, die sich in mein Gesichtsfeld drängten. Wie zwei Scherenschnitte aus dem Kinderfernsehen sah ich sie von der Seite. Sie bewegte ihre Arme mit dem erhobenen Zeigefinger in der typischen, kreisförmigen Lockbewegung. Ich reagierte nicht sofort. Als aber am Ende des letzten Refrains die Schattenwesen nach meinen Splittern griffen, öffnete ich die Augen.

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Richard gekommen war. Er hatte mir gegenüber Platz genommen und beobachtete mich intensiv. Seine Handflächen bedeckten das Gesicht und ließen nur seine Augen frei. Tommy hockte plötzlich knapp vor mir, als wäre er soeben in meinen Gesichtskreis eingefügt worden. Er versuchte, meine Aufmerksamkeit abzuziehen. Mit dem Headset verstand ich zwar nicht, was er sagte, aber ich merkte sofort, dass er sich sorgte, ich würde zu weit wegfliegen und es könnte in der Folge zu Komplikationen kommen. Ich lachte schrill, riss die Kopfhörer von den Ohren und sagte ihm, ich hätte kein Problem mit dem Wechseln der Zustände. Er nickte bedächtig wie ein Greis. Wahrscheinlich hatte er damit gerechnet, ich würde einen Schock davon tragen, wenn er mich aus meiner Trance weckte und zurück in die scheinbare Realität holte. Ich aber war so weit weg – mich konnte weder diese, noch eine andere mögliche Wirklichkeit, die ich hinter geschlossenen Augen erfuhr, abschrecken! Nein, ich kehrte gerne zu meinen Freunden zurück!

Tommy zog sich zurück, Richard saß unbeweglich, wie in Stein gemeißelt und sah mich weiterhin eindringlich an. Das Zimmer schien in einem hellen Licht zu strahlen. Ich fühlte mich angenehm müde und durch meinen Körper rieselte eine wohlige Energie.

Wieder schloss ich die Augen. Sofort war ich verschwunden. Ich hatte das Zimmer vergessen, als ich mich prompt im blauen Raum wiederfand. Die Zeit hinter meinen Augenlidern hatte nichts mehr mit den Zeigern einer Uhr zu tun. Ich konnte mich an Richards Aussehen erinnern, aber der Eindruck, den er bei mir hinterlassen hatte, lag Ewigkeiten zurück. Es schien, als flöge ich mit Lichtgeschwindigkeit durchs All. Ich ließ den blauen Raum hinter mir. Diesmal war es mir egal, ob ich die Erde wiedersehen würde, oder für immer durch das Universum reiste. Ich erwog, in einem der eben entdeckten unendlich weiten Räume der Stille zu bleiben.

Ich schwebte schwerelos in einem tröstlich, gedämpften Licht. Der empfundene tiefe Frieden breitete sich in meinem Körper wie Balsam aus und kroch als glänzendes Quecksilber in die umliegende Dimension, in der ich mich versprühte. Mein Selbst teilte sich auf, bis die schwere metallische Flüssigkeit auch mein Bewusstsein enthielt. Ich dehnte mich immer weiter aus, während ich durch meine Expansion immer fernere Dimensionen erschließen konnte. Gleichzeitig war ich überwach und es fiel mir nicht schwer, einem winzigen Impuls folgend, zurückzukehren. Es genügte, an die alte Welt meiner Freunde zu denken, um in das Zimmer zu gelangen.

Ich hatte den subjektiven Eindruck, für eine beträchtliche Zeitspanne abwesend gewesen zu sein, die mehrere Menschenleben umfasste. Ich war völlig durcheinander durch das veränderte Zeitgefühl. Im Nachhinein war ich doch sehr, sehr weit weg gewesen und nur der Wunsch zurückzukehren holte mich augenblicklich in die einst vertraute Realität zurück, die nach diesem Erlebnis nie wieder meine Heimat sein konnte. Fortan würde ich ein Fremder bleiben, der einen Urlaub in einem unbekannten Land verbrachte und sich nach seinem Zuhause sehnte. Die Leichtigkeit, mit der ich den Zustand wechseln konnte, war in Wahrheit ein anstrengender Prozess, bei dem mir der Schweiß die Achselhöhlen herunter rann. Ich erinnerte mich in den nächsten Minuten an bizarre Galaxien und grelle, bunte geometrische Formen, durch die ich in Zeitlupe und in der Folge im Zeitraffer geflogen bin und mich entspannt und glücklich gefühlt hatte. Es war klar, dass ein Mensch nach so einem Erlebnis nicht mehr auf die gute alte Erde zurück wollte, aber wie ich hörte, fürchtete Tommy, nachdem ich wieder die Augen geschlossen hatte, ich würde eher schreckliche Dinge erfahren und einfach zu schreien beginnen. Ich berichtete ihm sofort von meiner eben absolvierten Reise in aller Stille hinter den geschlossenen Augen. Mit einem Abenteuer im Weltraum hatte er gar nicht gerechnet, sagte er erstaunt.

Langsam aber sicher kreiselten wir von der hohen Energie der Droge in die tatsächliche Sphäre der Wohnung, bis wir uns wieder dort einfanden, wo wir aufgebrochen waren. Wir fühlten uns wie Blätter im Herbst, die langsam zu Boden segelten. Manchmal trieb ein schwacher Windstoß meine Seele noch bis zur Zimmerdecke, aber auch ich konnte der Gravidität nicht widerstehen. Die Wirkung wurde einfach schwächer und mit Trauer und Unbehagen, begriff ich, dass meine neuen Acid-Brüder um Mitternacht vom Westbahnhof in den Urlaub fahren und mich hier allein zurück lassen würden. Noch war ich vom Reisefieber angesteckt, so als bereitete ich mich selbst auf einen Europatrip vor. Crislys Vater kam überraschend und brachte als Geschenk für jeden eine starke Taschenlampe mit. Er war wie vor den Kopf geschlagen, als er erfuhr, ich dürfte nicht mitfahren. Er versprach, sofort meine Eltern anzurufen und erklärte sich bereit, wenn die Eltern schon nicht erlauben würden, dass er mir das Ticket zahlte und eine gewisse Summe als Taschengeld geben konnte, so würde er mir den Betrag borgen und es wäre selbstverständlich, dass er ihn nicht zurückfordern würde. Richard lachte hämisch. Er kannte meine Eltern bereits. Mir war eher zum Weinen zumute. So einen Vater hatte ich mir immer gewünscht. Ich hielt mich tapfer und beriet Tommy und Mike bei der Auswahl der letzten wichtigen Gegenstände. Richard zeigte mir seinen komplett gepackten Tramperbag und begann leise mit Mike über den Hergang des LSD-Trips zu konferieren. Dabei ignorierte er meine Anwesenheit, als sei ich im Drogenrausch und unansprechbar. Über diese Vorstellung musste ich schallend lachen und dann läutete es und Jimi stand in der Tür. Sein erster Blick war auf mich gerichtet und ich betrachtete ihn als moralische Unterstützung. Genauso war es auch. Er konnte sich wunderbar in mich einfühlen und hatte ein wenig zu Rauchen mitgebracht. Der Abend brach herein. Die vergangene Wirkung wurde durch das Inhalieren noch einmal aus unseren Körpern gepresst. Jimis angebaute Geräte glichen die angespannte Lage aus.

Crislys Vater kam dann noch mit der traurigen Mitteilung, dass mit meinen Eltern nicht zu reden und ihnen nicht zu helfen sei. Er meinte, sie verhielten sich halsstarrig und glaubten ich würde mich hinter den anderen Freunden verstecken und ihn – Crislys Vater aufhetzen und erzählen, wie schlecht sie mich behandelten. Tommy riet mir trotzdem mitzufahren, er würde an meiner Seite bleiben. Richard rief zur Besonnenheit auf und gab zu bedenken, dass ich ja noch minderjährig sei und meine Eltern die Drohung, die Polizei einzuschalten ganz sicher wahr machen würden. Tommy entgegnete, wir hätten gemeinsam LSD genommen – wir würden auch gemeinsam verreisen und das Geld käme von Crislys Vater. Ich lehnte ab, weil ich wusste, wir alle würden bald in schrecklichen Schwierigkeiten stecken. Jimi sagte, wir würden es uns hier in Wien ganz schön gemütlich machen. Gleich für morgen machten wir ein Treffen aus und es klang nicht nach Ersatz und Almosen. Damit war die Sache erledigt. Die Burschen bestellten ein Taxi und wir sahen den Gammlern mit den überdimensionalen Rucksäcken stumm nach.

Ich begleitete Jimi dankbar in die Lerchenfelderstrasse. Wir standen noch lange vor dem Haustor, wie ganz am Anfang bei unserer ersten Begegnung nach der Schule, nur dass ich jetzt alles wusste. Ich stand unter dem Eindruck der neuen Erfahrung. Ich hatte mir einen Trip völlig anders vorgestellt. Vielleicht nahm ich an, ich würde nicht mehr wissen, was ich tat und es würde so sein, wie es die Bilder und Berichte in den Magazinen Eltern, Jasmin und Praline darstellten: Ein im Unrat sitzender, junger Mann mit fetttriefenden Haaren, lehnt mit verdrehten Augen an der Wand und hat die Finger im Entzücken vor der Brust verschränkt.

Schließlich verabschiedeten wir uns mit einem Händedruck. Danach standen wir noch schweigend, mit dem Gesicht zur Altlerchenfelder Kirche gewandt. Dort hing neben dem Kirchturmkreuz ein schwerer, heller Vollmond. Irgendwann verschwand Jimi lautlos im Hausflur. Langsam schlenderte ich in die Stolzenthalergasse und versuchte das ungewöhnliche Bild meines Elternhauses einzufangen. Hier war das Zentrum meines Lebens. In diese Wohnung, in diese Familie war ich hineingeboren. Ich läutete. Die Türe wurde wortlos geöffnet. Grübelnd schlich ich die Stufen hinan. Es war alles ruhig. Ich legte mich bald zu Bett, nachdem ich noch eine Stunde meditiert hatte. Tommy hatte mir zur Sicherheit ein halbes Valium mitgegeben, falls ich doch sehr unruhig werden sollte und nicht einschlafen konnte. Ich lag am Rücken ruhig im Bett und sah hinter geschlossenen Augen goldene Kostbarkeiten. Karaffen, Schalen, verzierte Teller und Becher. Wäre ich ein begabter Goldschmied gewesen, ich hätte Motive bis an mein Lebensende gehabt. Ich brauchte kein Valium, nahm es aber aus Neugier. Zehn Minuten später war ich eingeschlafen.


DIE LSD-KRIEGE

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