Читать книгу DIE LSD-KRIEGE - Gerald Roman Radler - Страница 4
DIE FOLGEN DES FIEBERS
ОглавлениеAls der Morgen durch die Ritzen der Fenster schlich, sank das Fieber. Ich hatte mich schon so an die Überfülle dieses Zimmers gewöhnt, dass mir der Raum ohne Kugel, Flammen und dem Gefühl mit Watte ausgepolstert zu sein, leer vorkam. Ich drehte den Kopf. Dort saß mein Vater, bleich und übernächtig und sah aus wie immer. Er meinte ich hätte eine schwere Lungenentzündung. Meine Temperatur sei nach Mitternacht auf über einundvierzig Grad gestiegen und ich hätte fantasiert, aber jetzt ginge es mir offensichtlich besser. Es erstaunte ihn, dass ich mich an jede Einzelheit unserer Nacht des Schreckens erinnern konnte. Ich gab ihm trotz meiner Erschöpfung eine detaillierte Schilderung meiner Optik auf seine Gestalt. Er hatte mir als Strohhalm gedient, an dem ich mich am Höhepunkt meines Fiebers anklammern konnte. Ich war davon überzeugt, dass ich nicht mehr am Leben wäre, wenn nicht mein Vater die Nacht an meinem Bett verbracht hätte. Entweder hatte er sich verpflichtet gefühlt, sei es aus Sorge um meine Gesundheit, oder weil er den Auftrag von meiner Mutter erhalten hatte, an meinem Lager zu wachen. Er hatte intuitiv das Richtige getan und gesehen, dass ich einen roten Faden benötigte, falls ich ins Leben zurückkehren wollte, wofür ich ihm sehr dankbar war. Warum ich in dieser Nacht meine Mutter nicht zu Gesicht bekam, ist mir bis heute ein Rätsel. Eigentlich fiel die Krankenbetreuung in ihr Ressort. Dieses spontane, wohltätige Verhalten meines Vaters gehörte zu den gezählten positiven Erinnerungen meiner Kindheit, die ich mir vor Augen hielt, als seine Verbindung zu mir längst nur mehr abstrakter Natur war. Sicher stand er mir, gerade durch diese gemeinsamen Stunden geistig näher, als die Mutter, an der sich mein Bruder hauptsächlich orientierte.
Insgesamt betrachtet fürchteten wir beide den Vater. Die Mutter war launisch und aufbrausend, erschien uns aber irgendwie menschlicher und zugänglicher, zumal wir mit ihr auch wesentlich mehr Zeit verbrachten.
Die überstandene Lungenentzündung schnitt nicht nur durch das bewusste Erleben des Fiebers mein Leben in zwei Teile. Es sollte nach meiner Genesung noch ein unangenehmes Nachspiel geben. Ich neigte mit einem Mal zu Infektionen der oberen Atemwege. Ich bekam mehrmals im Jahr eine Bronchitis, die jedes Mal mit Antibiotika bekämpft wurde und in eine unkontrollierbare Allergie überging. Sobald die Bäume ausschlugen, schwollen meine Augen zu, ich wurde von hartnäckigen Niesanfällen gepeinigt und aus meiner Nase floss andauernd eine klare Flüssigkeit, die mit unzähligen Papiertaschentüchern aufgesaugt werden wollte. Nach der Niesorgie stellten sich Atembeschwerden ein, die später gepaart mit dem Schulstress zu einem quälenden Asthma heranreifen sollten. Warum dieser nahtlose Übergang vom akuten Infekt zu einer chronischen Krankheit stattfand, könnte daran liegen, dass mein Vater keine noch so harmlose Verkühlung tolerieren wollte. Seine Hypochondrie bedeutete für Johnny und mich ein Bombardement an Penicillin. Für ihn war ein Schnupfen eine gefürchtete Erkrankung, deren Symptomatik man schleunigst bekämpfen musste. Er jagte uns namenlosen Schrecken mit seiner Angst vor Ansteckung ein. Ließ man eine Grippe anstehen, konnte man mit dem Leben für seinen Leichtsinn bezahlen, so übertrug er uns seinen obsessiven Defätismus. Unser Hausarzt kannte ein probates Mittel gegen die Virenphobie. Der Alkohol war sein treuer Gefährte, mit dem er jeder Attacke auf seine Gesundheit trotzte. Er erwartete, bei seinen zahlreichen Hausbesuchen, eine Flasche ausgesuchten Scotch, am Tisch zu sehen. Mein Vater hielt also immer einige Flaschen Whisky in Reserve. Ob Dr. Ladengrau wirklich den Alkohol forderte, oder sich nur an das Bestechungsritual meiner Eltern gewöhnt hatte, blieb ungewiss.
Bestochen wurden Handwerker, Verkäufer, Lehrer, Arbeitskollegen und Ärzte, mit teilweise untauglichen Mitteln, wie Schokolade und Kaffee. Wechselnden Erfolg konnten die Eltern bei sinnvolleren Geschenken verbuchen, wie Kuverts mit Geldbeträgen unterschiedlicher Größe, Cognac und Whisky. Weinbrand war für die Kommis und alle herbeigerufenen Handwerker in niederer Position vorgesehen, von denen man nur bescheidene Erleichterungen in einer unerfreulichen Angelegenheit erhoffte.
Mir imponierte, wenn Dr. Ladengrau seinen Schwenker füllte und mit dunkler, voller Stimme die Heilwirkung des Alkohols pries. Er war niemals verkühlt, starb jedoch frühzeitig an einer Leberzirrhose. Obendrein schwärmte mein Vater von einem HNO-Arzt, der angeblich wahre Wunder vollbringen konnte. Als ich ihn das erste Mal zu diesem Wundertäter begleitete, erfuhr ich den Grund der Ehrfurcht meines Vaters für diesen Mann.
Es gab binnen kurzem eine Gelegenheit, gemeinsam in die Wollzeile, zu pilgern. In dieser belebten Straße in der Innenstadt lag die Ordination des Arztes. Wir waren beide stark verkühlt und ich hatte leichtes Fieber und wiederholt Nasenbluten beim Schnäuzen bekommen. Die Blutung erwies sich als bedenklich schwer, zu stoppen. Wir warteten von sechs Uhr bis neun Uhr abends in einem feudalen, riesigen Wartezimmer mit Biedermeiermöbel und wertvollen Teppichen. An den Wänden hingen Gemälde, die mein Vater bei jedem Besuch aufs Neue akribisch untersuchte und von allen Seiten beäugte, vermutlich um bei den übrigen Patienten den Eindruck eines Kunstsachverständigen zu erwecken. Da er aber von seinem Vater einige Kunstgegenstände vererbt bekommen hatte, konnte sein Interesse gleichermaßen daher rühren. Ich hatte mich vor dem riesigen Süßwasseraquarium auf eine lange Wartefrist eingestellt und beobachtete zuerst gespannt, dann gelangweilt und schließlich schläfrig das Treiben der stummen Fische, die ständig ihr Maul bewegten, als würden sie miteinander sprechen. Mein Vater huschte mit wacher Umsicht in der Stube des Arztes umher und jedermann musste den zutreffenden Eindruck haben, er wäre oft hier. Er verhielt sich eigentlich genauso wie im Kunsthistorischen Museum.
Mir fielen die freudlosen Sonntage ein, die ich mit ihm dort verbracht hatte. Im Schneckentempo waren wir durch die vornehmen Hallen und Gemächer geschlendert. Mein Vater hatte vor jedem Kunstwerk langwierige Vermutungen über die Maltechnik des Meisters angestellt. Soweit er sich besinnen konnte, hatte er zu jedem Bild eine Geschichte auf Lager, oder er berichtete über den tragischen Tod eines Genies. So vergingen Stunden, in denen ich auf die Erläuterung des letzten Gemäldes und die frische Luft vor dem Museum hoffte. Im Naturhistorischen Museum fühlte ich mich bedeutend Wohler. Die Säugetiere hatten es mir angetan. Zu meinem Leidwesen interessierte sich mein Vater ausschließlich für Insekten. Vor den Kästen der Schmetterlinge und Käfer verbrachte er viel Zeit. Holte er erst einmal seine Brille aus dem Etui und beugte sich zu den ausgestellten Exemplaren hinab, hatte ich verspielt. Ich stellte mich auf ein quälendes Schleichen der Uhrzeiger ein, währenddessen ich allerlei Instruktives über Chitinpanzer, lateinische Bezeichnungen und Farbenpracht der Käfer erfuhr.
Ich schreckte aus meinen Reminiszenzen als wir an der Reihe waren und eine zierliche Frau unseren Namen flüsterte. Frau Henriette Flossy, so war der Name der Gattin und Assistentin des renommierten Arztes bat uns, weiterzukommen. Sie residierte als Vorzimmerdame in einem noch prunkvolleren Raum, der das schmucke Wartezimmer in den Schatten stellte. Sie setzte sich auf einen Thron mit geschwungenen, feudal gepolsterten Armstützen und einer verzierten Samtlehne, die weit über ihren Kopf hinausragte. Ihre zierliche Gestalt wirkte grotesk hinter dem kunstvoll geschnitzten Tisch. Erwartungsvoll wie eine Schülerin legte sie ihre gepflegten Hände possierlich auf die enorme Arbeitsfläche mit den säuberlich geschlichteten Karteikarten. Mein Vater ergriff die Gelegenheit ihrer Ergebenheit beim Schopf und begann sofort über die gemeinsame Vergangenheit der Gemälde, ihrer beider Eltern zu referieren. Anscheinend waren die Familien in der Vergangenheit besser miteinander bekannt gewesen. Im Anschluss sprach er über den Verlauf seiner und meiner Erkältung. Dabei spickte er seine Ausführungen mit allerlei lateinischen Wörtern. Überhaupt hatte ich rasch den Eindruck, dass ihm außerordentlich viel an Henriette lag, die mich immer wieder wohlwollend anlächelte. Hinter ihr auf der Wand hing ein Ölportrait, welches sie selbst darstellen sollte. Der Maler hatte sie wie eine, in der Zimmerecke herum lehnende Biedermeierpuppe, abgebildet und traf mit dieser Vorgangsweise ins Schwarze. Tatsächlich hatte sie viel Ähnlichkeit mit dem Gemälde. Ihre rotgesprenkelten Porzellanwangen, der dunkelrote Schmollmund und die zierliche Stupsnase waren lebensnah getroffen. Obendrein trug sie Stoppellocken und ein niedliches Kleidchen, obwohl sie die vierzig sicherlich überschritten hatte. Ich starrte sie fasziniert an und hörte gar nicht mehr, was mein Vater mit rotem Kopf zu ihr sagte. Er war ganz sicher verliebt in sie, oder hatte gar eine Affäre mit ihr. Er versuchte ihr gerade umständlich zu erklären, dass ein bestimmtes Kunstwerk in der Wohnung, früher an der Wand seiner längst verschiedenen Tante am Hamerlingplatz gehangen ist und er sich daher den rechtmäßigen Besitzer nennen konnte. Ich wunderte mich über das angeschnittene, heikle Thema. Henriette überlegte nüchtern, wer das Gemälde gestohlen, oder gekauft haben mochte, sodass es in den Besitz der Flossys geraten war. Sie schien sich keiner Schuld bewusst zu sein und auch meinem Vater lag es fern, sie zu verurteilen. Ich nahm an, die beiden hatten einen Verdacht über die Wanderung des Kunstwerks zwischen den bekannten Familien.
Da flog die Türe zur Ordination auf und ein gewaltiger Riese stand vor mir, der mit Donnerstimme: »Bitte Herr Infektionsrat!« sagte und meinem Vater die Hand schüttelte.
Woraufhin mein Vater ihm seinerseits mit »meine Verkehrung, Herr Doktor Flossy«, sich tief verneigend, seine Hochachtung zollte. Das Monster sah mich hinter seinen Hornbrillen mit violett blitzenden Augen an und sagte, ohne eine Antwort zu erwarten: »Sie haben den Junior mitgebracht, soso, aber welchen? Den Älteren vermutlich! Arthur? Jajajaja!«
Dabei griff er meine vorgestreckte Hand und zermalmte sie beinah. Ein knirschendes Geräusch war zu hören. Ich unterdrückte den jähen Schmerz und ließ mich von einem drängenden Schieben seiner Klaue, die noch immer meine Hand umklammert hielt, in ein winziges, weißes Zimmerchen bugsieren. Mein Vater hatte sich schon auf einen Hocker gesetzt und mit der Aufzählung verschiedenster Symptome begonnen. Er ornamentierte die langwierige Anamnese einmal mehr mit lateinischen Wörtern wie »Rhinitis, Sulfonamide, Bronchialkatarrh, Tussis und Peristaltik«.
Der Arzt ließ sich nicht beirren. Er wusste längst, was er zu tun hatte. Er öffnete Vaters linken Nasenflügel mit einer Zange, klappte seinen illuminierten Kopfspiegel hinab und starrte in die rosige Höhlung. Er hieß meinen Vater »Kuckuck« sagen. Dann wiederholte er das Spiel mit dem rechten Nasenloch. Er selbst sprach das Wort so seltsam aus, als hätte er starke Polypen. Es klang wie »Gun-gung« und ich unterdrückte einen Lachanfall. Mein Vater hatte mir eingeschärft, dieser Koryphäe, die wir konsultierten, Respekt zu zollen, da Flossy der einzige Arzt in Österreich sei, der eine Maschine besitze, die den, für einen Schnupfen charakteristischen Nasenschleim, absaugen konnte. Jetzt wohnte ich seiner Fertigkeit in Verbindung mit der hoch entwickelten Technik bebend bei. Flossy ergriff eine lange, gebogene Hohlnadel, die in einem gelben Schlauch mündete, der zu dem Apparat mit unzähligen schwarzen Knöpfen führte. Er versenkte die lange gebogene Hohlnadel im Nasenloch meines Vaters. Das Gerät schlürfte mit schmatzenden Geräuschen unglaubliche Mengen eines Sekrets ab, das unappetitlich durch den Schlauch rutschte. Mein Vater saß mit glücklichem Gesichtsausdruck still da und hatte die Hände wie zum Gebet gefaltet. Das waren also sein Gott und seine Kirche.
Dann war ich an der Reihe und die Prozedur wiederholte sich. Meine Nase begann, prompt zu bluten. Dr. Flossy ließ sich nicht durch die dunkelrote Flüssigkeit beeindrucken und beendete seine Arbeit. Durch die Kraft des Saugapparats konnte kein Blut zu Boden fließen. Danach gab er mir einfach eine Art Mullbinde, die ich an die Nase drücken sollte. Er warnte mich, den Kopf in den Nacken zu legen, wie ich es von meinen Eltern gelernt hatte, da sich sonst ein Blutgerinnsel bilden konnte. Heiter meinte er, ich würde dann ersticken und dafür sei es noch zu früh. Ich ließ das Blut also mit vornüber gebeugtem Kopf abfließen und beobachtete den Arzt. Er hantierte am Schloss eines Glasschrankes, in dem zahlreiche unetikettierte Fläschchen mit Tabletten aufbewahrt waren. Er gab zwei der Phiolen meinem Vater und erklärte ihm die Einnahmevorschriften. Nebenbei zog er eine Spritze auf, die er mir mehr oder minder im Vorbeigehen in meine rechte Gesäßbacke drückte. So ging er dem Risiko, Angst vor Injektionen zu erleiden aus dem Weg. Er sagte, meine Probleme würden bald gelöst sein. Ich würde ein hoch dosiertes Medikament bekommen, das sämtliche unangenehme Beschwerden beseitigen und die Infektion außer Kraft setzen werde.
So war es. Am Heimweg überfiel mich grundlose Fröhlichkeit. Ich fühlte mich stark und munter. Meine Müdigkeit und virenbedingte Dumpfheit war tatsächlich wie weggeblasen. Auch mein Vater, der eine kleine orangefarbene Pille eingenommen hatte, wirkte entspannt. Er plauderte gelöst mit mir und wir beschlossen zu Fuß über den Stephansplatz nach Hause zu gehen. Wir kamen gegen Mitternacht an. Meine Mutter war noch wach. Sie wartete auf ihre Heuschnupfenpulver. Der Vater verteilte gut gelaunt die Medikamente und ich nahm auch eine rötliche Pille ein.
Ich lag schon im Bett und hörte die Eltern wie aus weiter Ferne sprechen. Einzelne Muskelpartien begannen zu zucken. Ich musste lachen, wenn eine Kontraktion besonders lange anhielt, oder eine Sehne stark hüpfte. Ich sah helle Bögen hinter den geschlossenen Augen flimmern. Ich bekam Luft durch die Nase, musste nicht husten, hatte kein Fieber und ein unbeschreibliches Glücksgefühl hatte von mir Besitz ergriffen. Es war wunderbar. Das Leben erfüllte mich mit Hochgenuss. So sollte es immer sein, dachte ich bei mir, in meine Tuchent gekuschelt. Mein Vater lobte anderntags die Behandlungsmethoden des Mediziners über die Maßen. Er stand schon längst unter dem Bann des Medizinmannes.
Nach diesem Ordinationsbesuch begeisterte es mich immer wieder, in die Wollzeile zu pilgern. Ich nahm gerne die Wartezeit bei den stummen Fischen in Kauf und freute mich schon auf Frau Henriette, die Biedermeierpuppe. Worüber ich mich aber am meisten freute, waren die Pülverchen, geheimer Herkunft. Niemals verriet Dr. Flossy den Namen der Medikamente, obwohl mein Vater ihn eindringlich bat, die Spezialität preiszugeben, da er im Notfall in einer Apotheke das zuträgliche Mittel erstehen wollte. Der Arzt lachte nur und meinte, er würde es schwer haben, dieses Rezept einzulösen. Dabei ließen wir es bewenden. Uns wurden die zur Gesundung nötigen Stoffe bedenkenlos und in ausreichender Menge ausgeliefert. Oft musste ich nur eine winzige grüne Tablette am Tag nehmen und mein, im April ausgebrochener Heuschnupfen, war kaum mehr lokalisierbar. Einen Nachteil gab es doch: Ich selbst spürte mich kaum mehr. Ich fühlte mich wie in einer schweren Trance. Meine Gliedmaßen waren kalt und taub. So konnte ich natürlich keinen Juck- oder Niesreiz mehr bekommen. War ich ernstlich erkältet und gelbes Sekret rann aus der Nase, bekam ich so starke Antibiotika verabreicht, dass ich innerhalb von zwei Tagen kein Eiter mehr schnäuzte und der Kopf frei war.
Merkwürdig fand ich den Umstand, dass ich immer öfter erkrankte. Wahrscheinlich schuf ich mir mit der raschen Unterdrückung jeglicher Krankheitsbilder den Nährboden für weitaus hartnäckigere Infektionen, die ihrerseits wiederum nur mit starken Chemikalien besiegt werden konnten. Niemand fragte sich, wieso ich so anfällig geworden war und aus welchem Grund meine Epistaxis eine Dauereinrichtung wurde. Die Intervalle zwischen den Blutungen wurden immer kürzer, während die Dauer des unfreiwilligen Aderlasses immer länger wurde. Ich wurde in eine Panikstimmung versetzt, die meine Eltern schürten, indem sie aufgeregt auf und ab liefen und »um Gottes willen«, riefen und »da kann man sterben«, oder »er wird noch ausbluten, der arme Bub«.
Abgesehen von meinen Krankheiten, verbrachte ich ohnedies eine Menge Zeit zu Hause. Ich durfte mich autonom in der Wohnung bewegen, solange ich meinen Vater nicht störte, der völlig erschöpft vom Büro heimkehrte und augenblicklich in Hauskleidung schlüpfte und sich zur Rast aufs Bett begab, um nachzudenken. Dabei legte er eine Hand an die Stirne, oder er spannte mit den Kuppen der ersten zwei Finger die Schläfenhaut. Es störte ihn nicht weiter, dass meine Mutter selbstständig arbeitete, den Haushalt führte und sich mit unserer Erziehung beschäftigte.
Als kleines Kind war meine Freiheit, wenn ich es recht bedachte, doch ein wenig eingeschränkt. Ich hatte einen Zwinger, in dem ich mich im Kreis bewegen konnte. Man nannte diesen, nach oben offenen, quadratischen Holzkäfig Gehschule. Mein Bruder, der zwei Jahre später das Licht dieser Welt erblickte, erbte diesen elenden Pferch. Er zeigte die Tendenz, über den Rand seiner Voliere zu klettern. Daher wurde er mit einem Brusthalfter an die Gitterstäbe fixiert. Auch im Urlaub, den wir vornehmlich in Italien verbrachten, wurde er mit einer hellbraunen, ledernen Leine an einen Sonnenschirm gebunden. Diese Befestigung wählten die Eltern, um ihn am Fortlaufen zu hindern, wenn sie sich zum Schwimmen entfernten, oder ein Eis kaufen gingen. So rannte er wie ein Verrückter im Kreis, bis er strauchelte, dann weinte er bittere Tränen und das Spiel begann von neuem.
Ich glaube an dieser Stelle begann sein Leidensweg, der ihn zum ewigen Wanderer stempelte. Er sollte wie Ahasverus rastlos durch die Welt ziehen, ohne je Ruhe zu finden.
So waren wir beide an die Stolzenthalergasse gekettet, nur mit dem Unterschied, dass ich mich ausreichend zu beschäftigen wusste und meinem Bruder langweilig war. Am liebsten wollte er mit mir spielen. Obwohl ich ihn für die Wissenschaften zu begeistern versuchte und bereit war, ihn als Assistenz anzunehmen, zeigt er kein Interesse an Chemie, Biologie und Astronomie. So umgab ich mich mit den klugen Geistern der Vergangenheit.
Unter der strittigen Obhut der verstorbenen Verwandten fühlte ich mich sowohl verpflichtet, als auch befähigt, meiner Bestimmung gerecht zu werden. Mein Vater hatte ganze Arbeit geleistet. Ich spürte deutlich das Entdecker-Gen in mir und bereitete mich auf den bevorstehenden Höhenflug vor. Ich saugte jede Information auf wie ein Schwamm und führte meinen Eltern wie ein Schauspieler auf der Bühne meine Fähigkeiten vor. Im Vorschulalter las ich bereits laut aus einfach gestalteten Büchern und hielt aufgeregt Vorträge über mein neu erworbenes Wissen. Stets umringte mich ein begeistertes Publikum, das mich ob meiner Intelligenz würdigte. Nichts war mir zu schwer. Misserfolg war mir fremd. Ablehnung durch Erwachsene kannte ich nicht. In der Volksschule fühlte ich mich unterfordert. Ich erkor berühmte Wissenschaftler zu meinen Vorbildern aus. Meine Mutter hatte bei unserer Geburt ihren Job aufgegeben und nahm unter veränderten Vorzeichen erst wieder einige Jahre später ihren Tätigkeit auf. Sie hatte ihren Aktionsradius nach Hause verlegt. Das Esszimmer wurde zum Büro umfunktioniert. Sie arbeitete, wann immer es ihre Zeit nach der Erledigung des Haushaltes erlaubte, schrieb Listen und Termine auf ihrer schwarzen, schweren Underwood. Oft klapperten die Tasten der Schreibmaschine bis in meine Träume und das Surren des neu eingelegten Farbbandes beruhigte mich ungemein. Sie empfing Vertreter und Kunden aus der Filmbranche. So fehlte es mir nie an einem enthusiastischen Auditorium. Ich wurde als aufgeweckter Bub bezeichnet und von den Kinobesitzern mit Näschereien, Geld und kleinen Geschenken überhäuft. Jeder bedankte sich so für die gebotene Zerstreuung. Niemand hasste mich, oder empfand mich als frühreifen Besserwisser. Manchmal trug ich ein eigenes Gedicht vor zum Tagesgeschehen, oder ich betrat das Verhandlungszimmer meiner Mutter, wo sie mit ihren Kunden über die Verteilung der Filmkopien diskutierte, um den besten Preis herauszuschlagen.
Während eines Besuches des Kinobesitzers aus Wimpassing griff ich ein Heft aus der Reihe »Jasmin«, auf dessen Titelblatt in großen Lettern »Der Papst und die Pille« geschrieben stand. Ich drehte das Heft so herum, dass es der Kunde sehen konnte und sorgte für Unterhaltung, indem ich fragte: »Nimmt der Papst die Pille?«
Aufgrund dieser Einlage mietete der Geschäftsmann alle verfügbaren Kopien aktueller Spielfilme für sein gut besuchtes Landkino.
Oft erzählten die Kunden von ihren Havarien. Es war keine Seltenheit, dass ein Vertreter, der ständig mit dem Auto durch die Provinz fuhr, Alkohol trank und dann einen Unfall hatte. Ich war der festen Überzeugung, dass der Sinn des Wortes »Havarie« Liaison bedeutete. So erfrechte ich mich bei einer anderen Gelegenheit einem Kinobesitzer zu erzählen, ein ihm bekannter Vertreter habe schon wieder ein Verhältnis. Er fragte mich, ob ich wisse, mit wem. Ich konnte ihm nur den Ort des Verhältnisses nennen, worauf er nachdenklich wurde. Später klärte meine Mutter den Irrtum auf und der Kinobesitzer brach in schallendes Gelächter aus. Er gab mir einen Geldschein und rubbelte meine Haare. Wieder konnte meine Mutter ein Geschäft abschließen.
War ich mit meiner Darbietung fertig, wurde ich wieder in mein Spielzimmer entlassen. Ich hatte mich amüsiert, für kurzweilige Zerstreuung gesorgt und mich Liebkind bei jedermann gemacht. Leider lassen sich frühzeitig einmal angenommene, schlechte Angewohnheiten selten ausmerzen und so kam es, dass ich noch lange nach diesen Tagen das innere Bedürfnis hatte, um jeden Preis zu gefallen, auch wenn ich innerlich längst anderer Ansicht war. Ich spielte praktisch den angepassten Jungen, obwohl ich schon in der Volksschule eine symptomatische Idee vom Leben hatte. Sie war noch ungeformt und stark von meinem Vater beeinflusst, aber hinter dieser Schablone zeichnete sich eine klare Struktur ab. Leider war mein Lebensmittelpunkt auf die Wohnung fixiert, so wusste ich gar nichts von der grausamen Welt der Straße. Erst bei meinen zahlreichen Kinobesuchen nahm ich an Geschehnissen teil, von denen ich nichts geahnt hatte. Geschichten voll von Intrige, Niedertracht, Missverständnis und Betrug flimmerten über die Leinwand, während ich mich sonst auf das Fachwissen konzentrierte, womit ich das kommende Leben zu meistern beabsichtigte. Nach solchen Streifen schlenderte ich betrübt nach Hause und ahnte, was auf mich zukam und in welch aussichtsloser Lage ich mich jetzt schon befand. Ich hatte keinen blassen Schimmer von den verzwickten Gefühlen der Menschen. Ich wurde geliebt, weil ich fleißig und brav war, während andere Kinder bereits im Park spielten, Fehler machten und durch ihr Leid lernten. Meine Mutter bekam für fast jede Premiere und die darauf folgende Laufzeit des Spielfilmes Karten. Ich stellte mich nach telefonischer Voranmeldung meiner Mutter einfach zur Kassa, wurde herzlich begrüßt und zu meiner Ehrenloge am Balkon geführt.
An meinem siebten Geburtstag sah ich den Streifen »mit Sieben ist die Welt noch in Ordnung«. Die Handlung kreiste um einen Jungen, der mir nicht nur äußerlich verblüffend ähnelte. Er lebte in gutbürgerlichen Verhältnissen und wurde von einer Jugendbande drangsaliert, durfte aber unter Androhung von Gewalt nichts seinen Eltern erzählen. Die Bande führte ihm im Falle der Auslieferung an die Erwachsenen die Konsequenzen in grausamer Weise vor Augen. Letztlich überwand er seine Furcht und die Gerechtigkeit nahm ihren Lauf. Die Eltern in diesem alten, romantischen Film waren stärker als mein Vater und meine Mutter. Die verloren geglaubte Harmonie wurde wieder hergestellt und das Kind hatte keine Angst mehr. Die Welt war wieder übersichtlich und berechenbar geworden. In einer gleichwertigen Situation der wahren Welt wäre der Junge und die Eltern obendrein wahrscheinlich ermordet und ausgeraubt worden.
Ich war wie betäubt, als ich aus dem Kino ging, denn ich hatte die Grundstruktur von Quälereien begriffen, ohne eine persönliche Lösung zu finden. Ich selbst war das ideale Opfer und ich fürchtete mich vor den Gassenjungen in den anderen Klassen, die mich mit hohntriefendem Ausdruck beobachteten und mich anrempelten. Ich wurde unheimlich wütend. Diese Burschen passten nicht in meine wohlgeordnete, musterhafte Fantasiewelt. Dem guten, strebsamen Kind räumte in meinen Gedanken ein gütiger Gott den Weg von Steinen und Dornen frei, um ihm einen sicheren Platz in schwindelnden Höhen zu gewähren. Mein ganzes Leben setzte sich bereits aus aufgepfropften Vorstellungen und Menschen zusammen, die mich auf die eine oder andere Weise für ihre individuellen Ziele missbrauchten.
Die Thematik des Streifens berührte mich in erster Linie, weil ich längst von Schülern höherer Klassen tyrannisiert wurde. Im gleichen Gebäude der öffentlichen Volksschule war die Hauptschule untergebracht und es verging kein Tag ohne Schikanen nach Schulschluss. Verhältnismäßig harmlos verlief das wiederholte Stellen eines Beines. Ich fiel hin und während mir die Tränen des Schmerzes über die Wangen liefen, erinnerte ich mich an den Vorfall bei den Piaristen. Ich wurde ausgelacht. Einige ältere Burschen passten mich an einer unübersichtlichen Stelle ab, rissen mir die Kappe vom Kopf und trampelten vergnügt quietschend darauf herum. Ich wusste mir nicht zu helfen. Während der Hausaufgaben kreisten meine düsteren Gedanken um eine Lösung dieser permanenten Bedrohung.
Wenn die Tyrannei der Halbwüchsigen nur mein einziger Kummer gewesen wäre. Ich fühlte mich von den zwanghaften Ideen meines Vaters terrorisiert. Die jähen Zornesausbrüche meiner komplett überlasteten Mutter knechteten mich. Zu allem Überdruss war ich auf meinen kleinen, schwachen Bruder eifersüchtig, obwohl ich ihn irgendwie gern hatte. Als jüngeres Geschwister zerstörte er mein ganz persönliches Empfinden für eine perfekte Familienidylle. Ich war bisher der absolute Mittelpunkt des Interesses der Eltern. Sicher gab es Stunden und Tage, an denen ich glücklich war, einen Gefährten zu haben, der wie ein Teddybär zu mir stand. Ich konnte mit ihm spielen, ihm alles erzählen, ihn an die Wand werfen und zwicken. Allerdings gab es einen kleinen Unterschied zwischen einem Teddybären und Johnny: Er riss mich heftig an den Haaren, lädierte meine Unterarme mit Zähnen und Fingernägel, oder lief laut weinend und schreiend zu Mutter. Für ihn galt immer die Unschuldsvermutung, weil er der kleine Johnny war und ich der schlaue, böse, große Bruder. Mit der Gewöhnung an seine Anwesenheit, veränderte sich zunehmend meine Rolle in der Familie. Ich war bis zu seiner Geburt die große Hoffnung des Vaters. Ich war auserkoren die Tradition, mit der er durch die Kriegswirren brach, wieder fortzusetzen. Meine Aufgabe bestand darin, die entstandene Fuge zu kitten, dass auch er am Ende gut aussteigen konnte. Mein Bruder war der Liebling meiner Mutter, weil er zart und durchscheinend, sensibel und anscheinend schutzbedürftiger war als ich.
Mit der Existenz eines zweiten Kindes war meine Einzigartigkeit in Frage gestellt. Ich wurde zunehmend verstimmter. Ich begann meinen Bruder bei jeder Gelegenheit, in die Finger zu beißen. Wenn ich seine kleinen, transparenten, dünnen Fingerchen sah, nahm ich sie in die Hand und biss herzhaft hinein. Die Eltern begriffen nicht, wie ich etwas derart Entsetzliches tun konnte, wo ich doch endlich ein liebes Geschwisterchen hatte. Ich verstand mich selbst nicht so recht. So befanden wir uns in der denkbar ungünstigsten Situation, die sich ein Familienpsychologe nur vorstellen kann. Ein paar Jahre später, als ich schon lesen konnte, wirkte sich meine Eifersucht bereits folgenschwer aus. Meine Position in der Familie hatte sich geändert. Ich war nicht nur gescheit und fleißig – es schlich sich das Gespenst der Malignität ein, dem ich erst Jahre später durch die damals noch amorph ausgesandten Botschaften gerecht werden musste. Wie jeder Erstgeborene war ich enttäuscht, als meine Mutter meinen Bruder präsentierte und ich begriff, dass dieser Säugling nicht geborgt, sondern von nun an das Zimmer und die Zuwendung der Eltern mit mir teilen würde. Später erkannte ich die Vorteile, einen Bruder zu haben. Mit ihm konnte ich all die Spiele erproben, welche uns auf ein Verständnis für die Hierarchie in der Welt vorbereiten sollten. Wir teilten uns so manche kindliche Seligkeit, während die Tage wie Minuten verdampften. Jahrelang waren wir von den Baukastensystemen Lego und Constri begeistert. Spielsachen hatten wir im Überfluss, wenn wir auch nicht immer das bekamen, was wir erträumten. Mein größter unerfüllter Wunsch war eine Carrera-Autobahn und eine Märklin-Eisenbahn. Viele Weihnachtsfeste lang hoffte ich unter dem Baum ein Paket zu finden, das die ersehnte Rennbahn enthielt. Jedes Jahr hielt ich am Weihnachtsabend Ausschau nach der riesigen Schachtel, die für mich oberste Priorität auf meiner Wunschliste hatte.
Ich bekam eine schmale, lange Schachtel, die eine Loopingbahn beinhaltete. Aus zusammensteckbaren, gelben Plastikschienen wurde ein Looping mit Auslaufstrecke gebaut. Dann setzte man am Anfang der Bahn ein Matchboxauto an und ließ es aus. Die erste Schiene konnte an geklemmt werden. Ich wählte den höchsten Schrank, damit ein tüchtiger Schwung garantiert war. Die teuren, gefederten Sportwägen schafften die Todesschleife, alle anderen Autos fielen am höchsten Punkt, an genau der Stelle, wo ihre Unterseite nach oben zeigte, aus der Bahn. Ich verlor bald das Interesse an diesem einfallslosen Spielzeug.
Zu meinem schönsten Besitz zählten zahlreiche Tiere mit Herz. Vom Hersteller wurden alle möglichen Arten von Tieren in sorgfältigster Verarbeitung nachgebildet. Diese lebensechten Stofftiere bekamen wir für gute Zeugnisse. Ich hatte bald ein Arsenal der Tiere mit Herz, aufgrund meiner guten Noten. So lebte ich in einem kleinen Puppenhaus mit meinem Raben Hugo, dem Dachs Diggy, dem Krokodil Gaty, meinem Hasen und meinem Fisch und anderen Tieren, die mich traurig, oder erwartungsvoll ansahen.
Die Welt im Zentrum der Familie war für mich konvergent mit der externen Welt, in der die Menschen um ihre Existenz kämpften. Manchmal überrollte mich ein Gefühl der Bedrückung, aber ich hatte keine Bewusstheit über die Zusammenhänge und Vorgänge, die mir den höchst unangenehmen Status bescherten. Ich wähnte mich definitiven Sachzwängen ausgeliefert und war ahnungslos, dass meine Eltern die Bedingungen diktierten und meine Unbehaglichkeit und Enge verursachten. Für mich stand fest, dass allerorten die gleichen Verhältnisse vorherrschten und alle Menschen mit ähnlichen Übereinkünften konfrontiert waren.
Ich glaubte, die Welt im Kindergarten, in der Schule, auf der Straße und in der Arbeit wäre ein Spiegel der Welt innerhalb unserer heimischen Idylle. Das war natürlich ein peinlicher Irrtum! Ich wurde für eine imaginäre Situation herangebildet, die außen nie stattfand, anstelle auf die kommenden Widrigkeiten vorbereitet zu werden. Deshalb reagierte ich chaotisch und unorthodox, als ich von Menschen überrascht wurde, die in mein wohlbehütetes Luftschloss einbrachen. Ich setzte mich zwar mit der Welt auseinander, aber nur theoretisch. Die Wissenschaften interessierten mich schon im Kindesalter. Aber nicht Menschenkenntnis, sondern Standardwerke über Psychiatrie verschlang ich. Ich verstand ihren Inhalt nur ansatzweise, den unergründlichen Rest reimte ich mir zusammen. Nicht Tiere hatte ich zum Spielen, um für ein Lebewesen Verantwortung zu übernehmen – ich entflammte für Zoologie und Mikrobiologie, um die Kreaturen zu bestimmen und das Unsichtbare unter dem Mikroskop zu enträtseln.
Ich dachte die Welt sei ein wissenschaftliches Buch, dass man auswendig lernen kann und dann seine eigenen, persönlichen Einträge hinzufügt, was einem dann unübersehbar zu einem anerkannten Forscher prägt. Ich stellte mir mein Leben als Linie ohne Hindernisse am Weg des Lernens vor. Aber schon im Kindergarten und der Volksschule regierte das Gesetz der menschlichen Irrungen, Gefühle und Gemeinheiten. Alles was ich erlebte war wesentlich profaner und ich sah mich ständig den eigentümlichsten Angriffen ausgesetzt, die nichts mit Unparteilichkeit zu tun hatten. Neid und Missgunst, Intrige und Erpressung raubten mir schnell die Energie. Ich war völlig blind, obwohl meine Eltern vor mir ihre beruflichen Probleme besprachen.
Meine Mutter hatte auf freiberuflicher Basis, schwer gegen unfaire Methoden der Konkurrenz und hinterhältiges Mobbing zu kämpfen. Sie fühlte sich als schlummernde Schauspielerin, die sich brüstete, wie Elizabeth Taylor auszusehen und vergleichbare Qualitäten zu besitzen. Auf einem gerahmten Foto, das vor meiner Geburt aufgenommen wurde und in ihrem Arbeitsraum hing, fiel eine gewisse Ähnlichkeit mit Liz Taylor tatsächlich auf. Die Nase und die Kinnpartie waren das auffälligste Detail der Übereinstimmung. Den Gesichtsausdruck hatte meine Mutter buchstäblich einstudiert. Das Foto sah wie ein Filmplakat aus. Jedenfalls war ihre Selbstdarstellung allerorts Filmreif. Wenn sie mit einem Vertreter einer Filmgesellschaft sprach, stützte sie ihr Kinn auf dem Handrücken ab und sagte mit gezierter Stimme, sie hätte wegen der Schwangerschaft mit Arthur, ein Angebot nach Amerika ausgeschlagen. Ich verstand ihrer Erklärung immer schon als Vorwurf. Ansonsten wurden wir Kinder von sämtlichen Unbilden ferngehalten, als beträfen uns die Probleme der Außenwelt überhaupt nicht. Die Eltern führten ihre Auseinandersetzungen auf einer Ebene, von der wir ausgeschlossen waren. Vielleicht dachten unsere Eltern, sie könnten uns mit Schwierigkeiten verschonen, indem sie uns im Dunklen tappen ließen. Sie dachten nicht an den kommenden Morgen und wir verstanden nicht den Inhalt ihrer Debatten.
Ich hatte nicht den Eindruck, dass wir überhaupt am Leben von Vater und Mutter Anteil nehmen sollten. Ihre verschwiegenen Probleme und geheimen Angelegenheiten waren einer strengen Regelung unterworfen. Hier waren die Belange der Erwachsenen und dort war die Kinderwelt. Wahrscheinlich waren gar nicht einzelne Entgleisungen, wie Ohrfeigen, für die wir Kinder uns letztlich entschuldigen mussten, jene markanten Meilensteine, die einen Vertrauensbrauch herbeiführten. In der Art der Erziehung schlechthin war der Wurm drinnen. Bis zur Pubertät wirkten sich diese Fehler subluminal aus, weil wir sie nicht erkennen konnten. Dann begannen die Entartungen, sich auf das Familiengefüge auszuwirken. Die Eltern dachten, wir würden für immer Kinder bleiben, oder zumindest keine Änderung in unserem Wesen erfahren. Sie mussten geglaubt haben, wir würden für alle Zeit bleiben, was wir durch sie geworden sind. Dass ein Selbstfindungsprozess eintrat, war für sie nicht reproduzierbar.
In der Schule lernte ich viele nutzlose Dinge. Eins davon war unzweifelhaft die Mengenlehre. Niemand wusste so genau, wofür die Komplementärmenge und die Durchschnittsmenge eigentlich gut waren. Das Computerzeitalter war schleichend angebrochen. In hilflosen Pionierversuchen versuchten die Lehrer ihre Klassen auf eine Veränderung vorzubereiten, für die es noch kein erprobtes Mittel gab. Wir spürten schon in der Volksschule, dass etwas vermittelt werden sollte, dessen Bedeutung im Dunklen lag. Die Mengenlehre stellte den halbherzigen Versuch dar, der neuen Generation das Gehirn eines Computers nahe zu bringen. Dazu hätte es allerdings qualifizierter Mathematiker bedurft, die wussten, wovon sie sprachen.
Niemand ahnte, dass wir eine verlorene Generation waren. Verloren – weil wir einmal in der Wüste der Prozessoren und Festplatten mit einer völlig antiquierten Ausbildung hinter den rasenden Zeigern der Uhr des Fortschrittes hinken würden.
Verloren – weil wir auf eine gesellschaftliche Ordnung vorbereitet wurden, die längst der Vergangenheit anheimgefallen war.