Читать книгу DIE LSD-KRIEGE - Gerald Roman Radler - Страница 3
EIN KIND DER MENGENLEHRE
ОглавлениеMeine Geburt fiel auf das Jahr 1960. Mit diesem Datum verbinde ich den Beginn eines neuen Lebensprinzips. Ich war eines der vielen wohl behüteten Kinder der Kriegsgeneration. Meine Eltern gaben mir den altertümlichen Namen Arthur. Vielleicht dachten sie an König Artus und wollten mich ermahnen, ein ruhmreiches Leben zu führen, um eine einmalige Epoche einzuleiten. Sie zogen mich in einem Plastikpalast groß, der angereichert war mit den Errungenschaften der unbegreiflichen neuen Technologie, die besonders meinen Vater faszinierte. Er war ein leidenschaftlicher Verfechter des Kunststoffes. Er glorifizierte diese unverwüstlichen Materialien, da sie immer noch bestehen würden, wenn er schon längst begraben war. Er trug Polyesterhemden und kaufte Plastiktischtücher, damit auch er Anteil an dieser Ewigkeit nehmen durfte.
Sessel in unvereinbaren Farben, an denen die nackte Haut kleben blieb, standen bald um den Esstisch. Er war so begeistert von Resopal, dass er mit der Handkante liebevoll über die glatten, fein gemusterten Platten der Küchenschränke strich. Er hatte noch vor meiner Geburt die dunklen, gediegenen Möbel seiner Eltern, die bis zu ihrem Tod in der Wohnung gelebt hatten, gegen eine abwaschbare Einrichtung eingetauscht. Ich kannte das ehemals teure Inventar nur noch von vergilbten Fotos. Wie hätten sich die Eltern meines Vaters über den Ausverkauf gekränkt, wenn sie noch am Leben gewesen wären!
Mein Vater hatte seine Jugend im Krieg verloren und den Großteil seiner Energie damit verwirtschaftet, dort anzuknüpfen, wo er vor dem Einrücken angefangen hatte. Unbegreiflicherweise hatte er sich freiwillig für den einjährigen Wehrdienst gemeldet und dann begann auch schon der Zweite Weltkrieg. Sein Vater hätte ihn vor den sieben kommenden, mageren Jahren bewahren können. Er war ein einflussreicher Hofrat bei der Bundesbahn und es wäre ein Leichtes gewesen, ihn sofort einzustellen und als unabkömmlich anzugeben.
Aber mein Vater wollte fort von zu Hause. Es war seine einzige Chance, dem Kokon der Mutter und dem gestrengen Vater den Rücken zu kehren. Kriege scheinen nur aus einem Grund erfunden worden zu sein: Sie schenkten dem Muttersöhnchen die Möglichkeit, das warme Nest zu verlassen. Ich selbst begriff schon als Kind, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Er beteuerte ständig, wie wenig ihn die herumliegenden Toten am Schlachtfeld belastet hätten. Die herabfallenden Bomben hatte er wohl als störend empfunden, doch war er stets erfolgreich ausgewichen.
Immerhin wäre der Krieg seine schönste Zeit gewesen, sagte er, wenn er in romantischen Erinnerungen schwelgte. Er prahlte mit Erzählungen von fremden Ländern und rassigen Frauen, die sich ihm in Düsseldorf, Paris, Warschau und Moskau hingegeben hätten. Zumindest in seinen eigenen vier Wänden schwang er sich zum Abenteurer im Ruhestand auf.
An so manchem dämmrigen Sommerabend lag mein Vater am Bett und erzählte mir Episoden seines Glücksrittertums, die er mit Lehren spickte. Die Konturen der Möbel gingen ineinander über. Die Gestalt des Vaters wurde immer dunkler und bald hörte ich nur mehr seine Stimme, bis das Neonlicht in der Stolzenthalergasse anging. In meiner kindlichen Vorstellungskraft umschiffte mein geliebter Vater als Sindbad der Seefahrer die sieben Meere und kehrte als Münchhausen – auf einer Kanonenkugel reitend – heim, um sich niederzulassen und zu heiraten. Besiegelt wurde das endgültige Ende seiner wilden Epoche durch die eher zufällige und von ihm sicher nicht erwünschte Schwangerschaft meiner Mutter. Sie hatte ihm vorgegaukelt, die Pille regelmäßig einzunehmen.
Vermutlich wünschte sie sich schon lange eine lebendige Puppe zum Spielen. Er hatte ihr blind vertraut und selbst nicht Obacht gegeben. Als sie in anderen Umständen war, hatte er angenommen, dass dieses Medikament, dass die Kongestion der Frau irgendwie verhindern sollte, noch nicht so ausgereift war, wie allgemein behauptet wurde.
Meine Mutter war innerlich leer und freute sich auf ein Baby. Sie nannte mich völlig unzeitgemäß Arthur. Mein Vater ertrug ihre Schwangerschaft mit gemischten Gefühlen. Er war seelisch erschöpft, wollte bereits in Ruhe gelassen werden und in Beziehungslosigkeit bequem dahindämmern. Die Einstellung meiner Eltern lieferte die ideale Voraussetzung für die Gründung einer neuen Familie!
Bei meiner Geburt träumten die Menschen von einer besseren, mechanischen Welt, in der sie Zeit finden würden für die kleinen Freuden des Alltags. Die Tage der Unrast waren vorbei. Es wurden Speisen aufgetragen, dass sich der Tisch bog. Niemand hatte es mehr nötig sich in einem Geschäft um limitierte Nahrung anzustellen und womöglich unverrichteter Dinge mit knurrendem Magen umzukehren. Es wurden Reserven angelegt, so frisch war die Erinnerung an Ausnahmezustände. Der Rückzug in die eigenen vier Wände war für meine Eltern notwendig und erholsam, nach den Jahren der Angst und der Unsicherheit.
Für mich aber bedeutete dieses Kasper-Hauser-Dasein ein frühzeitiges Verkennen der Grundbedingungen des Lebens. Ich hielt die häusliche Struktur für die Welt. Ich brauchte nur den, von meinen Eltern vorgegebenen Schablonen genügen. Flugs erfüllten sie mir – im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten – sämtliche ausgesprochene Wünsche. Meine Anliegen waren von den Vorstellungen meines Vaters manipuliert. Er informierte mich zuerst, wonach es einem Buben gelüstete. Dann wartete er geduldig. Sollte ich das suggerierte Bedürfnis aufgesogen und in meine forschende Fantasie integriert haben, rieb er sich still die Hände. Ich bekam sogleich Bücher oder Spielsachen geschenkt, die ihm Freude bereiteten. Wie zufällig erwähnte er dann, dass er als Kind ähnliche Dinge besessen hatte. Wahrscheinlich hatte sein Vater ihm genauso eingeredet, woran es ihm angeblich mangelte.
Vielleicht wollte er eine genaue Kopie der häuslichen Eintracht erzwingen, die er während seiner Adoleszenz genossen hatte und im Krieg doch schrecklich vermisste. Immer wieder musste ich mir anhören, wie sehr er seinen Vater verehrt und seine Mutter geliebt hatte. Er wurde nie müde zu erzählen, dass sein Vater ein blitzgescheiter Jurist und seine Mutter eine warmherzige, gehorsame Frau gewesen war, die nie dem Willen des Mannes zuwider handelte. Stets beugte er sich den Ratschlägen seines Vaters, die dank seiner umfassenden Weisheit immer die Richtigen waren. Er präparierte mich schon für die kommenden Jahre, damit ich keinen Widerspruch leistete, wenn ich größer wurde.
Meine Mutter meinte, er brach das Herz seiner Eltern, als er vergnügt in die aussichtslosen Gefechte des zweiten Weltkrieges zog. Er leugnete diesen Zusammenhang, oder schwächte ihn ab. Vielleicht meinte er es ehrlich und hatte wirklich nicht die blasseste Ahnung, wie seine Entscheidung zu Hause aufgenommen wurde. Er wollte hinaus in die Welt und da er so geborgen und umsorgt war, kam ihm die Gelegenheit recht, auf diese Weise einen Ausbruchversuch zu wagen. Sein Wunsch der Enge seines begrenzten Aktionsradius den Rücken zu kehren, ohne zum aufmüpfigen Sohn zu mutieren, war völlig legal und dem ungeachtet staatlich sanktioniert. Dieser Entschluss würde einem gesetzestreuen Rechtsanwalt, seinem Vater, schon einleuchten. Er nannte ihn in seinen überbordenden Erzählungen einen eingeschworenen Pazifisten, der sich zu allerlei heiklem Diskurs mit anders denkenden Menschen hinreißen ließ. Die Überzeugung seines Vaters hatte praktische Vorteile. Er getraute sich seinen Standpunkt auch in der Öffentlichkeit zu propagieren, eine Qualifikation, die ja den meisten Familienangehörigen eigen war, nur meinem Vater fehlte. Er fürchtete stets die irreversiblen Schäden eines konsequenten Verhaltens und versuchte sich auf diplomatischem Gebiet. Vaters Erzählungen umschrieben elegant die stille, aber chancenlose Renitenz gegen seine Eltern. Immer wieder betonte er, dass ihm ein unüberlegtes, eigenständiges Handeln Verkrüppelung, oder sogar den Tod einbringen können hätte.
Es musste schon etwas Besonderes sein, einen so einflussreichen Vater zu haben, der seinen Sohn vor dem Einrücken bewahren konnte. Er aber schwärmte vom Kriegshandwerk und berichtete von den militärischen und zivilen Vorzügen, die ein Offizier im Krieg nutzen konnte. Dank der Uniform hatte er sich allerorts Respekt verschafft und persönliche Gewinne verzeichnet. Mir imponierte mehr der Charakter seines Vaters. Ich lauschte den Geschichten über ihn mit gespitzten Ohren und war gleichzeitig zutiefst deprimiert, dass mein Vater den Krieg verherrlichte. Er sagte keineswegs, dass die Staatsmänner, die einen Krieg angezettelt hatten, Vorbildfunktion hätten, aber er sah im Krieg eine Art kostenlose Bildung und Selbstverwirklichung. Nie hatte ich ihn nur einmal von dem Gräuel des Schlachtfelds reden hören. Über die Scharmützel erzählte er immer nur in lustigen Anekdoten. Er hätte einen Angriff verschlafen und erwachte erst, als die Meisten seiner Kollegen schon gefallen waren. Er fotografierte die Toten für sein Album. Wenn er guter Dinge war, zeigte er uns die grässlich verunstalteten Leiber, als handelte es sich um nette Urlaubserinnerungen, die man immer wieder gerne durchblätterte.
Halb verweste Soldaten lagen grinsend mit freigelegten Zähnen, um die bereits die Lippen fehlten, im Sand. Bei einigen dieser schwarz-weißen Bilder stand er in Positur mit nacktem Oberkörper und wildem Haupthaar neben einem Gefallenen, lachend auf eine Granate gestützt, als wolle er sagen: »Seht her, ich lebe noch, ich bin ein bisschen klüger gewesen!«
Zu oft berichtete er vom Krieg und den vielen Städten, die er gesehen hatte. Dazu kam noch, dass er sich brüstete, in jeder nur erdenklichen Gegend eine Freundin gehabt zu haben, bei der er jederzeit Unterschlupf gewährt bekam. Sie waren alle perfekt gebaut und drängten ihn, für immer zu bleiben. Er aber zog einfach zur Nächsten weiter. Meine Mutter lachte nur gemein über seine feilgebotenen, pikanten Ausführungen. Sie rächte sich an ihm, indem sie ihn als dekadenten Schwerenöter bezeichnete, der als Strafe für seine Energieverschwendung bereits frühzeitig seine Virilität eingebüßt hatte.
Niemals hatte ich den Eindruck, dass ihr weder seine distinguiert vorgetragenen Angebereien etwas anhaben konnten, noch grämte sie sich über seine sexistisch vorgetragenen Erlebnisse, die auf dem gleichen Niveau seiner Husarenstücke zu finden waren. Vielleicht hielt sie seine leichtfertigen Bekenntnisse ohnehin für Erdichtungen. Er war Beamter der Landesregierung und jeder sollte wissen, wie leicht ihm seine Dienstzeit von der Hand ging. So sonnte er sich unaufgefordert vor jungen Verkäuferinnen in den Innenstadtgeschäften im Licht seiner Erzählungen. Für ihn würde das Wochenende am Mittwoch beginnen, sagte er, oder dass er gerade die Zeit zwischen dem zweiten Frühstück und dem Mittagessen mit einem Einkaufsbummel in der Kärntnerstrasse füllte. Er war in den Läden unseres Bezirks gerne gesehen, da ihm immer absurdere Kuriosa über sein Beamtenleben einfielen, die in die Nähe der Geschichten eines Herzmanovsky Orlandos rückten. Gerne gab er die Episode von den schamlosen Flirts mit seinen zwei Sekretärinnen preis. Anschaulich erzählte er, dass er sie zwischen den Oberschenkeln fasste, um sie sodann mit sicherem Griff auf den Aktenschrank zu setzen. Sie sollen sich dabei köstlich amüsiert haben. Damals war mir nicht ganz klar, was er mit seiner Schilderung bezwecken wollte, oder worin der Witz an diesem Unterfangen lag. Im Grunde war er stolz darauf, dass seine Hand nur ein hauchdünner Slip von ihren Schamlippen trennte. Es war die Vorstellung von der Berührung mit der ungenügend aufgesogenen, warmen Feuchtigkeit, die ihn zum Wortexhibitionisten stempelte. Er nutzte jede Gelegenheit, diese delikate Situation vor lüsternem Publikum wiederzugeben. Es fiel kein Wort über den Wert der Frau und auch meine Mutter beanstandete nie wirklich sein Verhalten. Seine Art wurde immer als humorvoll, spaßig und umgänglich interpretiert. Es gab eine Menge Dokumentationen seines Bonmots, aber sie gingen immer auf Kosten der Mitmenschen, während er absolut keine Kritik ertragen konnte, oder sie so zerredete und damit abschwächte, dass der eigentliche Inhalt völlig verloren ging.
Mein Vater trainierte mich schon als Bub zum Einzelgänger. Ich sollte mich von der Masse abheben. Er glaubte, wir wären einfach besser als der Rest der lächerlichen Menschheit. Er witzelte über alle und jeden, egal ob Maurer oder Arzt. Er lehnte jedwede Bekanntschaft ab. Er hatte ein probates Mittel gefunden, Fragen zu stellen, die eingeladenen Besuch bloßstellte. Er verulkte jeden, der sich unserer Familienidylle näherte. Aber auch bei meiner Mutter und für sich selbst wandte er diese Methode an. So verwehrte er jedem Eindringling den Zutritt. Ich durchschaute sein Spiel, solange ich ein Kind war, nicht. Für mich waren alle Menschen tatsächlich minderwertig. Sie hielten seiner Prüfung niemals stand, oder es war ihnen einfach zu aufreibend, sich einer dauerhaften Bloßstellung auszusetzen. Er konnte sicher sein, dass keine Fremden unser heiliges Leben störten. Nur bei den Vertretern, die meine Mutter geschäftlich besuchten, hielt er sich einigermaßen zurück. Besonders bei mir und meinem Bruder unterband er mit fadenscheinigen Argumenten jeglichen Kontakt zu Gleichaltrigen.
»Da kennen wie lieber keinen«, pflegte er zu sagen, wenn ich von einem neuen Freund, oder einer Freundin erzählte. Entweder waren sie zu arm, zu dumm, zu waghalsig, oder zu reich.
»Ich habe nichts gegen ein paar nette Freunde, aber solche Menschen passen nicht zu uns!« war sein Argument, mit dem er einen weiteren Umgang unterband.
Er nahm mich oft auf seinen Spaziergängen durch die Innenstadt mit. Ich durfte meinen Vater einmal in der Woche um vier Uhr Nachmittag vom Büro abholen. Er zeigte mir die Armseligkeit der Menschen auf der Straße. Das war der Beginn einer Tätigkeit, die ich Jahre später mit meinem besten Freund tagtäglich realisierte und keinen Moment daran zweifelte, dass ich sie erfunden hatte.
Mein Vater und ich tranken eine Afri-Cola im Schanigarten, oder saßen einfach nur im Park und verfolgten das bunte Treiben des achten Bezirkes und lachten über die Leute, die vorbeigingen.
Die Loslösung von der Menschlichkeit und des Mitleids vollzog sich bei mir schon im knabenhaften Alter, als ich mit meinem Vater die Kärntner Straße und den Graben entlang spazierte. Er richtete die Leute aus, währenddessen er mich, wie nebenbei anhielt, ihm die aufregendsten Frauen, die mir auffielen durch den Ausruf: »Pupperl!« zeigen sollte, falls ihm eine der auserkorenen Schönen durch die Maschen seiner Wachsamkeit schlüpfen sollte. In diesen Belangen war der biedere Familienmensch den Hippies äußerst zugetan. Die beliebtesten Ziele seiner Betrachtungen waren junge Mädchen mit Stirnband, Minirock und Lederstiefeln. Er drehte sich ungeniert nach ihnen um und stieß Laute aus, die man verwendet, um ein leckeres Essen auszuzeichnen.
Er hatte oft Glück. Die Hippiemädchen waren enthemmter als die bürgerlichen Mädchen. Sie wandten sich ihm zu und lächelten. Sie hoben den Minirock, oder steckten kokett eine Haarsträhne in den Mund. Mein Vater straffte dann seinen Oberkörper und zog die Luft pfeifend ein. Er sah wie ein italienischer Dandy aus, mit seinem schwarzen, damals noch dichten Haar und der sauberen Rasur. Ich glaube, es gefiel den ganz jungen Mädchen, bewundert zu werden.
So lernte ich, in den blonden, schwarzhaarigen und rotgelockten Hippiemädchen eine eigene begehrenswerte Rasse zu sehen, die man einfach anders als den Rest der Bevölkerung behandeln musste. Nach so einer fruchtbaren Begegnung mit einer Nymphe sagte er oft mit erhobenem Zeigefinger: »Die Buben muss man klopfen …«
Ich ergänzte dann wie ein Homunkulus: »Die Mädchen muss man schonen, wie goldene Zitronen!«
Er spottete auf seinen Kreuzzügen mit mir vornehmlich normale Frauen und Männer aus. Er beanstandete Gurkennasen, Schweinsfüße, Fledermausohren, Sparkassamünder, Lappengesäße, Stopfganswangen und Triefaugen. Die Welt war eine Zirkusvorstellung und mein Vater war der Dompteur. Ich liebte ihn für seine Einlagen und lachte aus vollem Hals.
Leider machte er vor der eigenen Familie mit seinen Tiraden aus triefendem Hohn nicht halt. Hätte er seine Ablehnung ausschließlich auf die Außenwelt verlagert, ich wäre allenfalls ein verschrobener Sonderling geworden. Da sich aber seine Verachtung auch auf das Zentrum des Nestes richtete, lernte ich nie den Zusammenhalt und das vorbehaltlose Wohlbefinden in einer Beziehung kennen und zu schätzen.
Im Speziellen stellten die Eltern meiner Mutter begehrte Objekte seiner geschmacklosen Späße dar. Das waren einfache Leute und wussten natürlich, dass sie nicht ernst genommen wurden. Mein Großvater bezeichnete den Vater als Snob und hielt nichts von seinem Charakter. Ich aber bekam von meinem Vater zu hören, er sei neidisch auf das anständige Gehalt, welches er von der Landesregierung bezog. Er stellte die Eltern seiner Frau als armselige, ungebildete Leute hin, die vom savoir vivre keine blasse Ahnung hatten. Er ließ keine Gelegenheit aus, klarzustellen, wie wenig er für sein Geld leistete und prahlte ohne Unterlass mit seinen zwei schicken Sekretärinnen, die ihm auf seinen Dienstwegen begleiteten. Wann immer sich eine Gelegenheit bot, zeigte er ihre Fotos auf schnittigen Kühlerhauben greller Sportwagen, die er am Parkplatz vor dem Volksgarten von ihnen schoss. Dazu ließ er seine willigen Dienerinnen einfach auf irgendeinem fremden, auffälligen Wagen posieren und knipste sie, als wäre er ein Fotograf eines erotischen Magazins. In der Mittagspause präsentierte er sich dem mondänen Publikum des Burggartens eingehängt mit ihnen. An jedem Arm schmiegte sich eine der Schreibdamen, deren Kleidung für die damalige Zeit hip und modisch war.
Einige Male bekam ich die Gelegenheit das Triumvirat zu begleiten. Mein Vater war der Hahn im Korb. Ich gab mich klassenbewusst und zeigte mich repräsentativ, wenn wir so durch die Innenstadt stolzierten. Fräulein Kandls dürre Gestalt war in einem Hosenanzug versteckt. Ihr Gesicht, mit dem Hexenkinn und der gebogenen Hakennase war ausgesprochen hässlich. Sie schnupfte, schnäuzte und hustete das ganze Jahr. Fräulein Kofler war eine dralle, gebleichte Blondine im Minirock mit zahlreichen Pickeln. Sie lachte fast ununterbrochen. Mein Vater nannte sie »die verseuchten Pupperln«. Ich tat es ihm gleich. Zum Dank durfte ich mich bei Fräulein Kofler einhängen, der es Vergnügen bereitete, mich wie ihren Liebhaber zu behandeln. Sie drückte mich an ihren stechenden Busen, der durch die gebräuchliche Form des Büstenhalters wie ein spitzer Trichter vorstand. Ich genoss meine Gastrolle in der Öffentlichkeit. Er scherzte auf unseren kleinen Ausflügen mit ihnen, genauso wie er sie mit ihren Marotten aufzog. Emanzipierte Frauen hätten seinem Verhalten einen Riegel vorgeschoben. Sie aber kicherten über seine geschmacklosen Witze, als wären seine frauenfeindlichen Demonstrationen erheiternd und kurzweilig. Er spickte ihre infantilen Kommentare mit einem ständig Daher gesagtem »ojegal«, »na sowas« und »pfui«.
Dennoch war er stets darauf bedacht, einen soliden, treuen Eindruck zu erwecken. Alles was er tat und sagte war schließlich nur schalkhaft gemeint und somit völlig harmlos. Wir Kinder glaubten ihm jedenfalls. Wenn meine Mutter sich anfallsweise doch ernstlich aufregte, weil ihre Schmerzgrenze überschritten war, dann war er mit phrasenhaften Abschwächungen zur Stelle.
»Aber Ditterl«, sagte er.
»Du arme Idiotin, was weißt du schon!« klang es aber schon damals in meinen Kinderohren und ich fand es lustig.
Ditterl war die Schmälerung ihres vollen Namens Editha und eine gleichzeitige Degradierung auf ihre Funktion als weibliche Brust, die recht kräftig ausgebildet war. Meine Mutter war überhaupt stämmig gebaut. Sie hatte ein ausladendes Hinterteil, kräftige Waden und als ehemalige Schwimmerin einen breiten Rücken und muskulöse Oberarme. Sie war stets bemüht, sich modern zu kleiden. Sie war nicht sonderlich groß, aber sie trug toupierte Haare und Stöckelschuhe, was ihre Gestalt imposanter erscheinen ließ. Sie war grell geschminkt, trug bunte Kleider mit Gürtel und dazu passende Pumps mit Bleistiftabsatz. Mein Vater nahm starken Einfluss auf ihre Verwandlungskünste. Fand er Gefallen an den lackierten Nägeln eines Models in einem Magazin, war meine Mutter angehalten, ihre Hand- und Fußnägel in einer bestimmten Farbe anzumalen. Sah er auf der Straße eine Frau mit roten Haaren, schickte er meine Mutter zum Friseur, damit sie die Farbe wechselte. Meine Mutter wollte seinen Fantasien nachkommen und verzieh ihm seine Seitenhiebe auf ihre Bildung und ihre Erziehung. Meine Eltern bezeichneten ihre Beziehung immer als harmonisch.
Von all den Kränkungen, mit denen sich die Erwachsenen das Leben verpatzten, ahnten wir natürlich nichts. Die witzigen Beschwichtigungen des Vaters genügten anscheinend, um jeden Verdacht der Infamie zu zerstreuen.
Was tat er denn schon Schlimmes? Ich fungierte als Alibi auf seinen Streifzügen. Mit seinem Sohn als unparteiischem Kontrollorgan im Gefolge würde er schon nichts Verbotenes anstellen, dachte meine Mutter wohl.
Großmutter blieb genauso wenig verschont von seinen Angriffen, wie der Rest der Verwandtschaft. Sie war eine stille, zurückhaltende Frau, die einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn besaß. Weil sie ihre Gedanken zumeist für sich behielt, behauptete mein Vater, sie hätte überhaupt keine Meinung. Sie wäre teilnahmslos und ihr sei eigentlich alles egal. Sie ging mit Entgegnungen sparsam um, so wurden ihre klugen Aussprüche oft überhört.
Das Schlimmste aber war, dass er meinen kleinen Bruder Johnny als debilen Zwerg bezeichnete. Er ärgerte sich maßlos über dessen introvertierte, scheue Art. Während ich seine Lehren wie ein Schwamm aufsaugte, verleitete die Schüchternheit und Schreckhaftigkeit meines Bruders zu ungerechten Äußerungen. Er war nur knapp zwei Jahre jünger und wir Erwachsene ließen keine Gelegenheit aus, ihn zu verspotten, bis er weinend bei Mutter Schutz suchte und sie als Markise gegen unsere Boshaftigkeit gebrauchte. Sie drückte ihn verteidigend an sich und herrschte uns an, ihm fernzubleiben. Wir bezeichneten das Verhalten meines Bruders abfällig als »Das-Wieder-Zur-Mama-Laufen« und amüsierten uns köstlich über seine weinerliche Art.
In einem unheimlichen Punkt wurden wir allerdings gleich behandelt. Da spürte ich schmerzlich, dass ich mit meinem Bruder auf einer Stufe stand und nicht zu den Erwachsenen zählte. Wir sollten dem Vater bei seinem Nachmittagsschläfchen beiliegen. Das Wochenende stellte eine fixe Vorgabe dar, in deren Ablauf wir integriert waren. Nach dem Essen musste es still sein. Mein Vater wollte schlafen. Eines von uns Kindern wurde ausgewählt.
Mit diesem gefürchteten Faktor wurde ein unseliges Zeichen gesetzt, das von Johnny und mir im Nachhinein komisch verzerrt und vereinfacht dargestellt wurde. Der Vater schlüpfte in sein Nachthemd und wir mussten mit ihm Löffelchen liegen. Dazu nahm er uns in den Schwitzkasten. Er zog uns fest zu sich. Wir hatten also keine Chance, zu entkommen, wenn er eingeschlafen war. Oft versuchte ich mich zu entwinden, um seinem heißen, erstickenden Atmen entkommen zu können. Doch er merkte sofort meinen Fluchtversuch und verstärkte den Druck seiner Arme, die er wie Schraubstöcke vor meiner Brust zusammendrehte. Er grunzte zufrieden, unsere List durchschaut zu haben und rühmte sich, seit dem Krieg eine Überwachsamkeit entwickelt zu haben, die bis tief in den Schlaf reichte. So konnte er Veränderungen in seiner Umgebung wahrnehmen und entsprechend reagieren. Bevor er einschlief, krabbelte er mit seinen Fingern geistlos unter unserem Kopfkissen und meinte, wir sollten auf die Polstergeister achten. So wähnte er uns beschäftigt und konnte getrost ruhen. Wir aber lagen wach und spürten das quälende Verstreichen der Minuten. Er schnarchte laut in das ihm zugewandte Ohr und selbst wenn mir die Gliedmaßen längst eingeschlafen waren, gab es kein Entkommen. Oft machte ich ihn scherzhaft auf seinen nach Schwefel riechenden Atem aufmerksam und bagatellisierte meine Verzweiflung, auf sein Erwachen warten zu müssen. Er entgegnete ebenfalls blödelnd, er sei eben der Teufel und am Wochenende sei die diabolische Ruhe durch seine Kontrolle über uns sichergestellt.
Meine Mutter las während dieser Zeit im Esszimmer auf dem Sofa. Sehnsüchtig horchten wir auf Küchengeräusche, die ein Ende der Tortur ankündigen sollten. Entschloss sich meine Mutter endlich, das Geschirr abzuwaschen und die Jause vorzubereiten, erwachte der grausige Moloch hinter mir aus seiner Betäubung. Ich hasste meinen Vater für seine Gefühllosigkeit. Was hätte ich alles in dieser Zeit tun können! Ich wäre sicher nicht ein Kind gewesen, das schreiend durch die Wohnung hüpfte, bis die Möbel wackelten und der Lüster bedrohlich schwankte. Ich hätte mich auf meinem Bett zusammengekauert und in meinen geliebten Büchern geschmökert. So aber war ich in den Fängen eines Riesenkraken von der Umwelt abgeschnitten. Ich war zur Untätigkeit verbannt. Die winzigste Bestrebung, mich in eine bequemere Lage zu bringen, unterband er mit einer Sperre. Wie Riemen aus Lianen zurrten sich seine Arme nur noch fester, um mich in der Bewegung zu hemmen. Ich lag versteinert mit tauben Gliedmaßen da. Selbst meine Gedanken waren nicht frei durch die qualvolle Haltung, in der ich reglos lag. Meine Mutter half mir nicht, sie sanktionierte die Misshandlung und verzweifelte Gedanken blitzten wirr durch mein Gehirn.
Warum wurde ich dermaßen grausig bestraft? Was veranlasste meinen Vater, mich mit eiserner Umklammerung festzuhalten? Welchen Vorteil hatte er von meiner Nähe? Es musste doch unbequem sein, so zu schlafen.
Meine Eltern duldeten generell keine Widerrede. Man konnte ihnen eigene Wünsche und Darstellungen nicht auseinander setzen. Sie drückten um jeden Preis ihren Willen durch, denn ihre Vorstellungen waren richtig und wichtig, da sie erwachsen waren. Ein solches Argument kam mir schon als Kind dürftig vor. In diesem Punkt war ich schon damals mit meinem Bruder einig. Wir hatten grauenvolle Angst vor diesen Samstagen und Sonntagen, an denen das Beiliegen mit dem Teufel stattfand. Ich fühlte mit meinem Bruder. Wir waren die Sklaven der Arena und bangten um unser Schicksal! Schon beim Mittagessen rätselten wir im Geheimen, auf wen die unselige Wahl fallen würde. Als der Leidensdruck zu gewaltig wurde, begann mein Bruder gleich zu Beginn des Übergriffes zu weinen. So konnte mein Vater nicht einschlafen und wurde ungehalten. Ich musste an die Stelle meines Bruders treten. Weil ich aber immer brav stillhielt, wurde ich in der Folge bald aus Vaters Diensten entlassen. Mein Bruder wurde trotz seiner Wehklagen in den Schwitzkasten genommen. Offensichtlich bereitete ihm meine Fügung ins Unvermeidliche, nur anfänglich Vergnügen. Daher ließ er allmählich von mir ab, oder drehte sich um und begann zu schnarchen. Oft verlor er nach einer Stunde das Interesse an mir und sein Griff lockerte sich, sodass ich mich einigermaßen gemütlich betten konnte. Die Gegenwehr des Bruders verschaffte ihm sadistische Kurzweil. Mein Vater schmückte seine Umklammerung mit Aussprüchen wie: »Da hilft kein Zittern und kein Zagen!« oder: »So, Johnny, Mund zu, Augen zu, jetzt wird geschlafen!«
Durch diese winzige Abänderung seines Planes wurde mir deutlich, wie richtig es war, in dieser Vergewaltigung eine Strafe zu sehen. Verhielt ich mich leise und tat, als würde ich auch schlafen, wachte mein Vater entspannt auf und Kakao und Kuchen wurde serviert. Nur durch einen nervlich derangierten Bruder zeigte er sich verstimmt und ließ sich zu beißenden Bemerkungen herab. Mein Bruder tat mir zwar unendlich leid, doch konstatierte ich bei mir jedes Mal eine Genugtuung und Schadenfreude, wenn die Reihe auf ihn fiel. Vaters Freude an Grausamkeit hatte mich bereits infiziert. Nun konnte ich mich tatsächlich dem Lesen widmen und in eine Welt, die logisch und nach streng wissenschaftlichen Prinzipien aufgebaut war, fliehen. Was sich in meiner Familie ereignete, entzog sich jeglicher Vernunft. Ich verschloss mich gegen die Tränen meines Bruders und ignorierte sein herzerweichendes Schluchzen. Später begriff ich, dass es noch eine Möglichkeit gab, meinem Elend zu entgehen. Ich leistete Frondienst in der Küche und entkam der schauerlichen Prozedur. Ich bot mich an, sofort nach dem Mahl das Geschirr zu spülen, solange die Essensreste noch nicht eingetrocknet waren. Mein Vorschlag wurde nicht nur mit Begeisterung aufgenommen, sondern mit einem Geldschein belohnt. Ich war heilfroh, meinem Peiniger entwischt zu sein. Die einzige Bedingung, die mir auferlegt wurde, bestand darin, mucksmäuschenstill zu arbeiten. Trieb es mein Vater zu weit, griff meine Mutter zwar halbherzig ein, doch ohne rechten Erfolg. Sie ermahnte ihren Mann, den Sohn doch endlich in Ruhe zu lassen, doch das Drama wiederholte sich mit bedrohlicher Regelmäßigkeit und ich konnte mich gar nicht recht entsinnen, wann es endlich endete.
Der Vater liebte uns eben und brauchte die körperliche Nähe zu uns Kindern. Er wollte das, was ihm Spaß machte. Wir waren da, um ihm seine Wünsche zu erfüllen. Wir waren lebende Spielzeuge, die zumindest den Nutzen der Bedürfnisbefriedigung erfüllen sollten. Jeder Mensch trägt andere Begierden mit sich herum. Wer weiß, wie die Wochenenden verlaufen wären, wenn mein Bruder und ich Mädchen gewesen wären. Oder waren wir so etwas wie Mädchen, im Schlaf – bei geschlossenen Augen?
Wäre nur mein Vater der einzige Unhold in der Familie gewesen, hätten wir versucht, bei der Mutter Zuflucht zu nehmen. Doch meine Mutter hatte eine zweite, unberechenbare Persönlichkeit, von der sie nichts wusste. Auf sie war also kein Verlass. Während mein Vater durch seine Gleichförmigkeit berechenbar in seinem Verhalten war, zeichnete sich meine Mutter durch Jähzorn und bedenkliche Stimmungsschwankungen aus. Es konnte leicht geschehen, dass sie sich beim gemütlichen Mittagessen am Wochenende durch eine achtlose Bemerkung beleidigt fühlte. Manchmal rutschte meinem Vater eine unpassende Entgegnung beim Scherzen heraus und sie nahm plötzlich eine steife Körperhaltung ein, wobei sie mit den Augen starr geradeaus schaute, oder wild funkelte. Sie antworte dann so lange mit unsinnigen, haltlosen Einwänden auf die Besänftigungsversuche meines Vaters, bis ein Streit vom Zaun gebrochen war. Ihre aufwallenden Gefühle konnten schnell eskalieren. Besonders wenn sie schon einige Gläschen Wein getrunken hatte, schlug sie mit der Faust auf den Tisch und stampfte mit den Füßen auf, was meinen Vater, der beim Mahl die absolute Stille schätzte, völlig entnervt aus dem Konzept brachte. Er warf ihr dann vor, vulgär zu sein, worauf ihr Zorn ins Unermessliche wuchs. Sie beschimpfte ihn dann als Schwächling und hielt ihm vor, was andere Männer für ihre Frauen tun würden. Wenn sie ihn mit ordinären Affronts belegte, konnte er glücklicherweise recht behalten. Er hatte sie solange gereizt, bis sie sich zu ihren Flüchen hinreißen ließ. Dann kreidete er ihr erneut ihre Primitivität an, was ihre Gegenwehr noch einmal anstachelte. An dem Punkt begann er, sie zu beruhigen. Aber die Schadenfreude in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Überhaupt schien es, als stiege ihre Wut in dem Ausmaß, wie sie mein Vater zu beschwichtigen trachtete. Er legte sich in all den Jahren weder eine neue Taktik zu, noch änderte meine Mutter ihre cholerische Aufführungen, denen filmische Theatralik innewohnte. Fiel mir dann noch eine witzige Glosse ein, über die mein Vater auch noch lachen konnte, war es um die Sonntagsruhe schlecht bestellt. Sie legte offen ihre paranoiden Vorstellungen dar und behauptete, die Familie hätte sich gegen sie verschworen Sie ließ keine Einsprüche gelten, die sie von der Harmlosigkeit der vorangegangenen Späße überzeugen konnten. Es musste bei meiner Mutter tatsächlich am Alkohol liegen, denn mein Vater war eigentlich immer zu dummen, beleidigenden Scherzen aufgelegt, bei denen ich eine wichtige Rolle als aktiver Mittäter spielte und seine Reden oft ergänzte, worauf wir uns beide köstlich amüsierten. Es machte keinen Unterschied, ob er eine Bouteille getrunken hatte, oder eine Flasche Bier, oder einige Gläser Orangensaft, oder Coca-Cola.
Vielleicht fiel ihr bei solchen Tafelrunden im veränderten, trunkenen Zustand die Wahrheit, die sie sonst erfolgreich verdrängte und verharmloste, deutlicher auf. Sie schimpfte und bezeichnete meinen Vater als Waschlappen, der sich gegen seine Kinder nicht durchsetzen konnte. Sie forderte ihn auf, uns Einhalt zu gebieten, anstatt uns gegen sie aufzuhetzen. Wir waren sofort mitschuldig, sie wurde selbst mitleidig und zog sich gekränkt zurück. Sie sprach dann kein Wort mit uns und streikte einfach. Mein Vater, der seinen Frieden um jeden Preis erhalten wollte, sah sich einer unlösbaren Situation gegenüber. Er ging unruhig umher und versuchte mit seiner Frau ein Gespräch anzuknüpfen. Dabei beschwor er sie, vernünftig und nicht mehr eingeschnappt zu sein, da ihre Verweigerung ohnedies zu nichts führe.
Nach geraumer Zeit kam unser Vater ins Kinderzimmer und eröffnete uns, wir sollten uns bei der Mutter entschuldigen. Da wir uns keines Vergehens bewusst waren und es hassten uns zu entschuldigen, schlugen wir seine Bitte zaghaft ab. Mein Vater war in derartig prekären Situationen niedergeschlagen und weichlich. Er versuchte uns dann mit leiser, sanfter Stimme zu erklären, dass meine Mutter als Frau eben kapriziös sei und auch er gerade Abbitte geleistet habe, wenngleich er der Meinung war, nichts Unrechtes getan zu haben. So sollte uns die Lüge leichter fallen. Hatte er sein Ziel endlich erreicht, gab es keinen Aufschub mehr. Im Gänsemarsch gingen wir mit hängendem Kopf hinter ihm her. Er öffnete die Pforten zum Schmollzimmer und dort lag sie, mit einem Taschentuch in der Hand und verweinten Augen, oder mit eisiger Miene und bleichem Gesicht, aus dem die Nase wie eine Lanze emporragte. Ich konnte nicht genau sagen, welche der beiden Varianten dieser Schmierenkomödie ich mehr verachtete.
»Die Kinder wollen dir etwas sagen«, hieß es dann jedes Mal. Das war der Startschuss zu einer unendlich peinlichen Aktion. Johnny dürfte es eher ein Anliegen gewesen sein, ihr um den Hals zu fallen und »Entschuldigung, liebe Mami« zu sagen, schon allein wegen des vermissten, zurückgewonnenen Körperkontakts. Ich aber ließ meine Mutter wissen, dass ich hier nur eine verhasste Maskerade aufführte. Ich murmelte eine Entschuldigung. Wenn sie dann »lauter, ich hab nichts gehört!« sagte und sich verkrampfte, indem sie die Daumen in die Fäuste steckte, war alles verloren. Dann konnte nur mehr der Vater rettend eingreifen und wiederholen, was ich angeblich gesagt hatte. Ich war jedenfalls nicht mehr in der Lage einen zweiten Anlauf zu nehmen. Die Mutter blieb böse und ich hatte die Einleitung zur Aussöhnung verpfuscht. Es gab kein Nachtmahl, kein Fernsehen.
Seltsamerweise ruhte ohne ihr Beitragen jede Aktivität. Ging unsere Demütigung erfolgreich über die Bühne, stand die Mutter übergangslos von ihrem Lager auf und drehte in der Küche das Radio auf. Dieser winzige Handgriff signalisierte völlige Vergebung. Hantierte sie mit den Gerätschaften der Küche, ohne am Radioknopf einen Sender einzustellen, bedeutete die Stille nur teilweise, ungenügende Aussöhnung. Ich wusste, sie würde noch einige Zeit damit verbringen, uns vorwurfsvoll in die Augen zu blicken und den Mund verziehen, bis sie es leid wurde, ihre Show abzuziehen.
Dieser Moment, in dem Musik aus der Küche erklang, erleichterte uns ungemein. Besonders meinem Vater merkte man ein geräuschvolles Zusammensacken an, das von einer – für ihn übermenschlichen – Belastung herrührte.
Anlässlich der nicht allzu zahlreichen Gelegenheiten, bei denen meine Mutter betrunken war, verhielt sie sich äußerst zwiespältig. Mein Vater regierte auf Alkohol eher mit Schläfrigkeit. Sein Benehmen änderte sich dabei nicht. Er übernahm die Rolle des vernünftigen Menschen, der dank seiner bewahrten Übersicht, eine entgleisende Situation wieder in die gewöhnlichen Bahnen lenkte. Dieser Umstand stieß in seinem Umfeld auf Ablehnung.
Eines Abends war meine Mutter allein zu einem Treffen der Constantin-Film-Gesellschaft gegangen. Sie war Chefdisponentin in der aufschwingenden Filmbranche. Es fand eine Premiere statt, daher konnte es sehr spät werden. So oblag es meinem Vater, uns zu betreuen. Die Großeltern wurden diesmal nicht eingeteilt. Sie hätten ohnedies um spätestens einundzwanzig Uhr nach Hause gehen wollen.
An diesem Abend war es sehr still. Es gab keine Musik und kein Fernsehen. Da er nur zwei Gerichte eigenhändig zubereiten konnte, war abzusehen, dass er sich entweder für die Zubereitung eine Eierspeise, oder der Fabrikation eines Liptauers entschied. Die Eierspeise war für ihn jedes Mal eine Geschicklichkeitsprobe, wenn er Eiweiß und Dotter von der Schale trennte und in die Pfanne kippte. Dann begann ein Wettlauf mit der Zeit, damit die Eierspeise die gebührende Konsistenz bekam. Mit einem raschen Rühren, das ihm den Schweiß der Anstrengung auf die Schläfen trieb, kämpfte er gegen die Hitze der Herdplatte. Die fertige Eierspeise verteilte er auf kleine Tellerchen und legte eine Schnitte Brot dazu.
Er schaffte schon in meiner Kindheit einen Elektroherd an, da er eine tiefe Furcht vor einer Gasexplosion in sich trug. Er wollte ausschließlich Anschlüsse für elektrischen Strom in der Wohnung installiert wissen. So wurden zwei unförmige Nachtspeicheröfen, genauso wie der wuchtige Heißwasserboiler im Bad eingebaut. Offene Gasflammen kannte ich nur von Besuchen bei der Großmutter und den wenigen Aufenthalten bei ihrer Schwester Maria, meiner »Mizzi-Tante«.
An diesem Abend gab es jedoch Liptauer. Den Liptauer rührte er mit echtem Brimsen und Butter an. Er verzichtete ausdrücklich auf Margarine und Topfen, da diese Zutaten nur einen beliebigen Aufstrich charakterisieren würden, nicht aber mit Liptauer verglichen werden könnten. Auf dieses ausschließliche Verfahren zu beharren, war sehr wichtig für ihn. Er ließ niemanden an sich heran und mischte mit ernstem, angestrengtem, verzweifeltem Gesicht die Bestandteile, als wäre er ein Alchemist, der ein geheimes Rezept mixte. Nach getaner Arbeit strich er uns die genau festgelegte Anzahl der Brote eigenhändig. Es waren immer zwei Scheiben und wir trauten uns nicht nach einem Nachschlag zu fragen, obwohl wir es gewohnt waren, unser Essen selbstständig aufzutragen. So gespannt war die Stimmung beim Abendmahl, dass wir nur das Kauen hörten und manchmal einen Lachreiz unterdrücken mussten, um den Vater nicht aus seiner Lethargie zu wecken. Kaum hatten wir unseren kargen Imbiss eingenommen, räumte er den Tisch ab und wir waren entlassen.
Mein Vater war in einer Art Trauerstimmung. Er schlich abwesend durch die Räume und vermied jegliche Beschäftigung, außer der, mit sich selbst. Er saß also steif in einem Sessel, oder lag angezogen am Bett und dachte nach. Wir mussten uns geräuschlos verhalten. Jeder noch so geringfügige Ton schreckte ihn aus seinen Fantasien. Dann kam er auf Zehenspitzen in unser Zimmer und wir mussten Rechenschaft für den vorgefallenen Lärm ablegen. Da wir Szenen dieser Art künftig vermeiden wollten, verharrten auch wir in Grabesruhe. Nur mein Bruder erkundigte sich alle Stunden nach Mutters Verbleib. Darauf studierte mein Vater mit gequältem Gesichtsausdruck die Uhr und errechnete eine mögliche Rückkehr seiner vermissten Gemahlin.
Diesmal nutzte die Mathematik kaum. Erst um dreiundzwanzig Uhr wurden wir aufgefordert, uns auf die Nachtruhe einzustellen. Damit lagen wir weit über dem Schnitt des üblichen Zubettgehens. Wir dachten, es sei etwas Schreckliches passiert, denn von meinem Vater ging keine messbare Ausstrahlung mehr aus. Jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Er konnte keine Fragen mehr beantworten und die Stille lastete unerträglich auf uns. Die Uhren tickten unbarmherzig und zogen seine Augen ständig in ihren Bann. Mein Bruder glaubte sogar, die Mutter sei gestorben und kämpfte mit den Tränen.
Wir schliefen dennoch ein. Ich erwachte durch ein unharmonisches Lachen und die leise Stimme meines Vaters. Im Vorzimmer war Licht. Ich verstand nicht, was vor sich ging und der Schlaf in meinen Augen zog den kommenden Vorfall ins Unreale. Ich sah auf die Uhr. Es war kurz nach drei Uhr Morgen.
Plötzlich johlte meine Mutter laut und ihr Lachen wirkte fremdartig gemein. Sie sagte: »Nicht einmal denken!«
Dann: »Das sind meine Kinder, zu denen gehe ich, wann ich will, nicht wenn du mir es erlaubst!« Dazwischen vernahm ich die mahnende und beschwörende Stimme meines Vaters. Er klang, wie ein Priester, der in einem unbekannten Singsang eine Litanei vortrug, die meine Mutter dermaßen zu Heiterkeitsstürmen hinreißen ließ, dass sie zu krächzen und zu husten begann. Offensichtlich wollte sie mein Vater festhalten, denn er sagte etwas lauter und in bestimmten Tonfall: »Die Kinder schlafen und für dich wäre das Bett auch das Beste!«
Meine Mutter fluchte, riss sich los und stürmte durch die Küche in unser Zimmer, wobei sein mehrmals meinen Namen rief.
»Wach auf, wach auf!« krähte sie kichernd.
»Ich bin wach«, sagte ich und richtete mich auf.
Sie roch nach Rauch und Alkohol und atmete schwer. Sie umarmte mich und hängte mir ein Lebkuchenherz um. Sie beteuerte mir ihre Zuneigung und es war das letzte Mal in meinem Leben, dass ich sie so menschlich erlebte. An diesem Abend benutzte sie nicht meine Abhängigkeit, um irgendetwas von zweifelhafter Sinnhaftigkeit zu erreichen. Sie getraute sich Gefühle zu zeigen, wobei sie sich nicht selbst im Wege stand. Als sie das Zimmer wieder verließ und ich sie leise mit meinem Vater diskutieren hörte, war ich sehr traurig. Ich lag allein mit meinem Lebkuchenherz, auf dem mit Zuckermasse »I love you« gespritzt stand. Ich hatte keine andere Regung als Mitleid mit meiner Mutter. Ich konnte mir meine Anwandlung auch nicht erklären, aber sie war so stark, dass ich mir letzten Endes selbst leid tat. Dann bedauerte ich meinen Vater, ob seiner Ungeschicklichkeit und Johnny, weil er so arm war und ich ihn verspottete, anstatt ihn so wie meinen Teddybären, der seit meiner Geburt neben mir lag, zu behandeln. Ich betete zu einem Gott, den ich gerade erfunden hatte. Ich sprach mit ihm in meinen Gedanken, als würde er tatsächlich durch die Dunkelheit verborgen, in meinem Zimmer sitzen und meine Bitte verstehen. Ich bat ihn eindringlich, meine Familie vor Krankheit und Tod zu schützen. Falls er meinem Wunsch Folge leisten würde, versprach ich ehrlich, an ihn zu glauben. Ich sagte ihm, dass er seine Forderungen an mich richten solle. Ich fühlte mich verantwortlich für meine Mutter, meinen Vater und Johnny.
Der stereotype Verlauf des Lebens nahm aber keine Rücksicht auf Wünsche und Gebete. Durch meine unbegreifliche Verzweiflung, die sich in dieser Nacht so schmerzlich einstellte, spürte ich bereits, dass ich nichts verändern konnte.
Gegen den Strudel des Lebens, der mich und meine Familie erfasst hatte, war ich machtlos. Ich war überzeugt davon, die traurigste Nacht meiner Kindheit zu erleben.
Mitleid und nagende Schuld wurden meine ständigen, unsichtbaren Begleiter, die ich nicht zu entlarven imstande war. Obwohl man mir keine christliche Erziehung angedeihen ließ, nahm die Auswirkung dieser seltsamen Aufwallungen von undefinierbarem Pflichtbewusstsein allmählich Gestalt an. Es war so, als könnte ich die Dämonen der Schuld und des Mitleids nicht erkennen, weil ich nicht an sie glaubte, oder weil ich sie aus meiner eigenen Welt verbannt hatte. So wie alle christlichen Inhalte, die mir falsch erschienen und nur als Kontrollfunktion über die desorientierten, ängstlichen Gläubigen fungierten.
Die Familie meines Vaters, deren Mitglieder schon verstorben waren, bestand sehr wohl aus Christen. Seine Mutter war eine leidenschaftliche Marienanbeterin, die fast täglich in die Antonikapelle am Alsergrund pilgerte, um ein Kerzchen anzuzünden. Meine Mutter folgte ihrem Beispiel. Sie fühlte sich vom Wesen dieser feinen Dame angezogen und hoffte vielleicht auf ein heilsames Wirken der Jungfrau Maria, wenn sie sich einmal jährlich in der Antonikapelle zeigte.
Meine erste Volksschulklasse erlebte ich bei den Piaristen, einem Orden in Wien Josefstadt. Dort sollte ich eine ordentliche Erziehung genießen. Doch aus dem dringenden Wunsch meines Vaters, mich für zwölf lange Jahre unterzubringen, wurden dank einer psychosomatischen Erkrankung, nur sieben Monate. Mein Vater holte mich jeden Abend nach dem Büro ab.
Der Aufenthalt bei den Piaristen entwickelte sich zum Höllentrip. Die geistlichen Lehrer in Kutten waren zu Schlägen und Strafen aufgelegt. Kein Anlass war ihnen zu gering, mich an einem Ohr durch den Klassenraum zu schleifen, bis mir fast die Sinne schwanden. Schläge mit dem Lineal auf die Handrücken standen für alle Adepten an der Tagesordnung. Pater Quadrian, der Klassenvorstand ließ gar den Schlüsselbund auf die Köpfe der verängstigten Buben niedersausen. Er teilte Kopfnüsse aus, die ein Brausen in den Ohren anstimmen ließen. Er ließ Uneinsichtige stundenlang mit dem Gesicht zur Wand stehen und halblaut ununterbrochen das »Vaterunser« aufsagen. Beten stand überhaupt alle Stunden an der Tagesordnung. Weder begriff ich den Inhalt, noch die Bedeutung des sinnlosen Herableierns eines liturgischen Textes.
Zu Mittag gingen wir in ein gegenüberliegendes Gasthaus, in dem eine fixe Tischordnung eingehalten wurde. Die Schüler bekamen jeden Tag Reissuppe vorgesetzt, während den Geistlichen die feinsten Braten serviert wurden. Einige von ihnen speisten doppelte Portionen und tranken riesige Gläser Bier dazu. Der Reis, der in der ekeligen, stinkenden Brühe, eingeweicht war, fühlte sich im Mund leblos und glitschig an. Jeder Bissen wurde während des Kauens wattig und schien aufzugehen wie Hefe. Mir grauste unendlich vor dem Brei, der meine Mundhöhle ausfüllte. Man konnte ihn nur rasch hinunterschlucken, oder sofort ausspucken. Es gab nur diesen einen Teller Reissuppe, mehr nicht. Die Hungrigen bekamen aber auf Wunsch einen Nachschlag. Die Kellnerin ging mit einem Topf durch die Tischreihen und hielt den Schopflöffel drohend hoch. Es kam schon vor, dass manche Buben einen zweiten Teller aßen, doch die standen an Leibesfülle den Geistlichen vergleichsweise am Nächsten.
Meine Eltern wollten mir anfänglich nicht glauben, als ich die vorherrschenden Zustände schilderte, da sie ein anständiges Sümmchen für die Versorgung zu Mittag hinblätterten. Dann aber erfuhren sie von der Schulleitung, dass die Buben zu beherrschten, willensstarken Männern herangezogen werden sollten, nach dem Moto: »Ein voller Bauch studiert nicht gerne!«
Von da an steckte meine Mutter mir Salamisemmeln und Schinkenbrötchen zu, die ich unter dem Tisch im Lokal verzehrte. Beim Essen verstand meine Mutter keinen Spaß. Sie war der Meinung, die wohl durch die Entbehrungen des Krieges geprägt wurde, dass ein Mensch genug zu essen haben sollte, um sich wohl zu fühlen. Leider wurde ich eines Tages erwischt, als ich wieder langsam den Sessel hinunterglitt, um am Boden mein privates Mahl einzunehmen.
Meine Tischnachbarn ließen mich gewähren. Ich saß an dem, den Geistlichen am weitesten entfernten Tisch und ein Mitschüler tat es mir bald gleich. Wir speisten beide unter dem Tisch und somit fehlten zwei Schüler, die das Lokal nicht verlassen hatten. Das dürfte Pater Quadrian bemerkt haben, denn er schleifte mich an den Haaren durch die Gaststätte zum Tisch der anderen Gottesmänner. Ich hatte das Bild eines skalpierten Cowboys aus einem Winnetoufilm vor mir, so stark schmerzte meine Kopfhaut. Ich konnte nicht fassen, dass dieser Pater mich wirklich an den Haaren über das schwarze, gewachste Parkett gezerrt hatte. Den anderen Jungen zwirbelte er an einem Ohr hoch und rannte im Laufschritt zu seinem Tisch. Ich musste eine Erklärung über mein gotteslästerliches Verhalten abgeben, die mir in geeigneter Form nicht über die Lippen kommen wollte.
»Das ist alter Reis und wird einfach in warmes Abwaschwasser geschüttet«, sagte ich mit erstorbener Stimme.
»Reis ist ein Grundnahrungsmittel für gottesfürchtige Menschen und Suppe ist gesund« entgegnete ein anderer Pater, der mit listigen Schweinsäuglein lachte.
»Der Reis ist verdorben und die Suppe stinkt. Deswegen essen sie auch keine Reissuppe!« sagte ich ein wenig mutiger. Der Schmerz unter meiner Kopfhaut ließ verbale Rache gedeihen.
Für dieses frevlerische Betragen wurde ich in ein christliches Fegefeuer geschickt, in dem ich die Macht der Kirche zu spüren bekam. Das Fußvolk sollte den Priestern stets gehorchen. Und ich hatte in meiner kindlichen Unvernunft die Aufmerksamkeit der Inquisition auf mich gezogen.
Die Strafen des Paters schufen ein aggressives, negatives Klima unter den Mitschülern. Gewaltausbrüche waren keine Seltenheit. Ein Junge, der von Pater Quadrian gepeinigt wurde, ließ sich im Hofturnen an seinen Mitschülern mit den Fäusten aus. Als ich an ihm vorbeilief, stellte er mir so geschickt ein Bein, dass ich in hohem Bogen mit dem Gesicht auf den Asphalt fiel. Ich stand auf und konnte nichts sehen. Über mein Gesicht lief Blut und ich war benommen. Ich war zu keiner Gegenwehr fähig.
»Ich kann nichts mehr sehen«, flüsterte ich und hoffte auf Hilfe.
Ich hörte Pater Quadrians erzürntes Schnaufen, als er mit langen Schritten auf mich zukam. Er zog mich am Ohr zu einem der Reihenwaschbecken und wies mich an, mein Gesicht zu reinigen, dann würde ich mein Augenlicht wieder erlangen. Seine Stimme troff vor Hohn. Er hatte recht. Das Wasser schmerzte auf der Haut, doch als das Blut den Abfluss hinab geronnen war, konnte ich wieder sehen. Als mir Tränen des Schmerzes und der Verwirrung in den Schürfunden brannten, wurde Pater Quadrian zornig und herrschte mich an.
»Danke Gott auf Knien, dass du gesund bist. Jetzt zu weinen ist eine Sünde wider Gott den Herrn. Er hat dir einen Engel geschickt, der dir die Augen öffnen sollte!«
Ich starrte den riesigen Moloch vor mir an und wusste, dass dieser Mann irrte und sehr gefährlich war. Ich spürte das Herannahen einer Strafe, da meine Reaktion nicht konform ging, mit den totalitären Vorstellungen des Lehrers. Meine Eltern hätten mich sofort in das nächste Spital gebracht, um den Grad der Verletzung abzuklären. Die Wunden brannten höllisch. Doch am misshandelten Ohr und an der Ungerechtigkeit, die mir widerfuhr, laborierte ich mehr. Ich wurde in das Klassenzimmer geschickt, um in mein Übungsheft fünfzig »Vaterunser« säuberlich einzutragen, während der Rowdy, der mir das Bein gestellt hatte, toleriert wurde. War er der Engel, der mir die Augen öffnen sollte?
Immer am Abend, wenn mich mein Vater von den Piaristen abholte, begann ich ein Bein steif nachzuziehen. Zu Hause angekommen, kroch ich sofort unter den Tisch. Selbst gutes Zureden, mich wieder zur Familie zu gesellen, ließ ich unerhört. Meine Mutter nahm sich viel Zeit, mich nach der Stelle, von wo die Schmerzen ihren Ursprung nahmen, zu fragen. Sie drang in mich, ihr genau zu berichten, bei welcher Gelegenheit ich mein Bein verletzt hatte. Ein herbeigerufener Arzt konnte keinen ersichtlichen Grund für mein Leiden finden und empfahl eine ambulante Untersuchung. Doch niemand im Spital konnte sich meine rätselhafte Erkrankung erklären. Der Hausarzt Dr. Ladengrau erklärte sich sofort zu einem Hausbesuch bereit, als meine Mutter die Not am Telefon schilderte. Irgendwann erwähnte dann Dr. Ladengrau einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Ende meines Schultages um siebzehn Uhr und dem anschließenden Nachziehen des Beines. Er diskutierte mit meinen Eltern in meiner Gegenwart, während ich unter dem Tisch saß, als wäre ich nicht anwesend. Er hatte mich sofort durchschaut. Ich zog mein Bein, einem inneren Impuls folgend, nach. Es war ganz so, als hätte mein verhülltes, seelisches Elend einen kreativen Ausdruck gefunden. Ich fühlte mich besser, wenn ich hinkte und mich hinterher unverstanden unter dem Tisch zusammen kauerte.
Ich beobachtete Dr. Ladengrau, als er zu meinem Vater sagte, ich verstärke einfach den Ausdruck meines Leids und da mich niemand ernst nahm, intensivierte ich die Situation des Rückzuges, indem ich mich unter den Tisch hockte. Meine Eltern begriffen, dass ich dieser Art von niederträchtiger Formung im Orden nicht gewachsen war und bald zerbrechen würde. Sie handelten rasch, steckten mich in eine öffentliche Schule und ich war geheilt.
Das letzte Indiz für eine häusliche Anwesenheit der Kirche Gottes war das Abendgebet. Bevor wir uns schlafen legten, setzte sich noch kurz ein Elternteil an den Bettrand und wir mussten unseren Spruch aufsagen, den mein Vater uns gelehrt hatte.
»Mein Herz ist klein, darf niemand hinein, als du mein liebes Papilein – oder Mamilein«, je nachdem, wer unserer blasphemischen Deklamation beiwohnte. Da von meinem Vater das Wort »Jesulein« so klaglos ausgetauscht wurde, empfand ich jenes Gebet mehr als spaßige Verabschiedung bis zum nächsten Morgen. Oft hielt ich aus gegebenem Anlass Zwiesprache mit meinem neuen Gott, der es gewohnt war, nur mir zu lauschen. War ein anderer Familienangehöriger krank, fürchtete ich rasch dessen Tod. So unterhielt ich mich im Bett liegend mit Gott und setzte meine Überredungskunst ein, ihn von der Notwendigkeit, diese Person am Leben zu lassen, zu überzeugen. Nicht zuletzt, weil sie nicht leiden sollte, noch gebraucht wurde, oder so schlecht gar nicht war, sondern nur arm und verzweifelt.
Warum wir Gebete aufsagen mussten, ließ sich mit einer konstanten Indoktrination durch Vaters Eltern erklären, die auf ihn unbemerkt nachwirkte.
Sie waren schon einige Jahre begraben, als mein Vater meine Mutter heiratete. Er erreichte sein zweiundvierzigstes Jahr, unterdessen ich das grelle Licht der Julisonne erblickte. Für mich war es schwer den Einfluss ihrer Persönlichkeit aus Erzählungen nachzuvollziehen. Ich hatte den Eindruck des gestrengen Patriarchen, der seine Frau mit eleganter Gewalt am Boden festhielt und seinen enorm hohen Bildungsgrad ausnutzte, um ihre Bäume nicht in den Himmel wachsen zu lassen.
Mein Vater eiferte ihm in allen Punkten nach. Die Abweichungen des bereitwillig angenommenen Weltbildes äußerten sich nur in seinen Lobgesängen für das Militär, das den Willen des Menschen zu seinem besten brach. Erst der Drill würde das Individuum zu einem brauchbaren Glied der Gesellschaft machen, das den Staat unterstützend funktionierte. Er erklärte mir oft den Sinn der gesellschaftlichen Ordnung und die Zweckdienlichkeit einer Regierung durch gewählte Politiker. Dabei schien mir, dass er mehr Verständnis für die Schildwachen der Paragrafen hatte, als für sich selbst, in der Rolle des Verwalteten.
Gegen dieses starre Repetieren einer aufgezwungenen, menschenfeindlichen Ordnung, lernte ich nur allzu bald aufzubegehren. Ich lehnte schon frühzeitig jegliche Waffengewalt zur Schlichtung von Auseinandersetzungen ab. Genauso schloss ich die geistige Nivellierung zum Zweck der Hegemonie aus. Es leuchtete mir ein, dass ein Volk, das aus lauter ähnlich funktionierenden Menschen bestand, leichter zu regieren war. Doch ich sah mich nicht auf der Seite der Regenten und hatte Angst. Die Völkerverständigung konnte nicht durch Repressalien gewährleistet werden.
Erschreckende Bilder des Fernostkrieges und die unklare Bedrohung durch eine versehentlich gezündete Atombombe verdüsterten die Atmosphäre, in die geraten war.
Die Ideale meines Vaters schienen frühzeitig eingetrichterte Grundlagen. Sie waren für ihn längst nicht mehr überprüfbar.
Er bemühte sich einen guten Vater abzugeben, der meinen Eifer anstachelte, indem er von seinen verstorbenen Verwandten erzählte. Sie lebten als Gelehrte und studierte Männer. Es wäre meine Pflicht in der Zukunft ihre Tradition fort zu setzten, ermahnte er mich stets. Monströse Bilder von Forschern, die nächtelang ihr Leben in Labors opferten, um in unbekannte Bereiche einzudringen, umringten mich. Ihre nachweislichen Ergebnisse spornten mich enorm an. Sie verscheuchten die heraufbeschworenen Bilder des Krieges, der nuklearen Todesgefahr und der Suppression.
Der Onkel meines Vaters, ein grandioser Maler, lebte zurückgezogen in seinem Salzburger Turm und mied jeden menschlichen Kontakt. Die Aufzeichnungen des anderen Onkels, eines angesehenen Pathologen aus Innsbruck, fanden einen Platz unter meinen Büchern. Ich schlug oft die Seiten auf, ohne ihren Inhalt zu begreifen. Seine stumme Gesellschaft gab mir Halt und Hoffnung, selbst einmal zu den berühmten Forschern und Entdeckern zu gehören. Besonders angetan hatte es mir der Bruder des Großvaters. Er war Schriftsteller gewesen, Theaterdirektor des Badener Stadttheaters und Herausgeber einiger Lexika, die ihren Weg in die Nationalbibliothek fanden. Ihn erkor ich zu meinem Vorbild. Sein Bildnis galt mir als Mahnmal der heiligen Verpflichtung, einen steinigen Weg anzutreten.
Und mein Vater? Wo war er geblieben? Er musste sich doch wie ein Hanswurst unter all den geachteten Persönlichkeiten gefühlt haben.
Als unangekündigt und unvorbereitet die ersten Schwierigkeiten mit Autoritäten auftauchten, verbreitete er eigentlich nur mehr die Normalität und den Durchschnitt als erstrebenswertes Ideal. Vergessen waren all die propagierten, verschrobenen Individualisten unserer Verwandtschaft. Er lehrte mich die eigenen Meinungen, wie Fahnen in den Wind zu hängen. Denn ausschließlich eine elastische Richtschnur, so deklamierte er, hätte ihm den Kopf im Krieg gerettet. Das Schlimme war, er bezog alle Ereignisse der Gegenwart auf einen einstigen Ausnahmezustand, in dem er mit dem Überleben kämpfte. Angesprochen auf diese schreckliche Zeit, gab er dennoch immer eine Darstellung eines gemütlichen Spaziergangs zum Besten.
Nichtsdestotrotz hatte ich eine starke Bindung an meinen Vater. Sie lag wahrscheinlich im Verlauf einer bestimmten Erkrankung begründet.
Ich steckte mich mit allen erdenklichen Kinderkrankheiten an. Ich war oft stark verkühlt und neigte zu hartnäckiger Bronchitis. Im Alter von sechs Jahren wurde mehr daraus. Ich kam mit Schüttelfrost und Grippesymptomen nach Hause. Ich legte mich zu Bett und am Abend, als mein Vater von der Arbeit kam, war mein Fieber schon auf neununddreißig Grad angestiegen. Ich fühlte mich völlig außer Gefecht gesetzt und nahm kaum mehr Anteil an meiner Umgebung. Der Hausarzt wurde zurate gezogen. Er kam prompt und erschreckte mich mit seiner tiefen, herrischen Stimme. Ich konnte den Sinn der Unterhaltung, die er mit meinen Eltern führte, nicht begreifen. Sie machten besorgte Gesichter, schüttelten den Kopf und ich musste mich aufsetzen. Dr. Ladengrau hielt meinen Kopf und gab mir eine Tablette, die ich kaum schlucken konnte. Dann sank ich erschöpft in die Polster. Diese Anstrengung hatte mich völlig überfordert. Ich wusste nicht, was mit mir los war. Ich war eingehüllt in Watte und unzusammenhängende, törichte Worte kämpften sich einen Weg durch meine Ohren.
Inzwischen war mein Fieber auf vierzig Grad angestiegen. Gerade fühlte ich noch fremde, murmelnde Personen im Raum anwesend, dann lastete unerwartete Stille wie eine Drohung im Raum. Ich hörte jemanden stöhnen und unvollständige Sätze sprechen, auf die eine Stimme antwortete. Ich belauschte die Person, die von winzigen Kugeln erzählte, die dicht gedrängt aus der linken Zimmerecke in meine Richtung strömten und auf ihrem Weg größer wurden. Da ich diese geometrischen Gebilde anstarrte, wurde mir augenblicklich klar, dass ich selbst es war, der hier im Fieberwahn redete. Ich drehte meinen Kopf schwerfällig in die Richtung, aus der die andere Stimme monoton hallte. Auf einem Sesselchen saß ganz klein mein Vater umgeben von schalen, wirbelnden Farben, die ihn einrahmten wie ein Gemälde. Dann wieder schien zwar sein Körper winzig, seine Hände und sein Kopf mutierten ins Riesenhafte. Diese optische Täuschung war mit außerordentlich unangenehmen Körpersensationen verbunden. Ich spürte seinen Anblick als dumpfes, wattiges Ausfüllen meines Gesichtskreises. Ich sah seine Züge überdeutlich nah, als würde ich durch ein Fernglas schauen. Ich kannte die Grenze meines Körpers, die jene sichtbare Außenwelt von meiner eigenen Person teilte, nicht mehr. Ich starrte mit aufgerissenen Augen auf seine, in verzerrten Proportionen wiedergegebenen, unzusammenhängenden Sinnesorgane. Einmal sah ich ausschließlich seine Nase, ohne zu wissen, was für eine Funktion sie beim Menschen bekleidete. Dann wieder verlor ich mich im Anblick eines seiner sinnlosen Ohren. Nach einer Weile versunkener Betrachtung rutscht er wie auf einer quietschenden Schiene weit nach hinten, als wäre mein Zimmer ein Loft und er wurde winzig klein. Immer wenn ich ihn als Wichtel sah, zuckten seine Augen und die Mundwinkel nervös und seine Bewegungen nahmen clowneske Formen an. Dennoch holte mich sein Anblick für Sekunden in die Wirklichkeit zurück, dann sank ich in das Kissen zurück und starrte in eine Zimmerecke. Ich berichtete ihm mit hohlen, fremden Worten von meinen erdrückenden Fieberfantasien.
Bis mich die Kugeln erreicht hatten, rollten sie an meinem Körper entlang, dann lösten sie sich zischend auf und an ihrer Stelle loderte kurz eine grelle rote Flamme auf.
Mein Vater verlangte eine genaue Schilderung aller aktuellen Visionen. Das sprechen fiel mir unendlich schwer, dennoch brachte ich einheitliche Worte zustande. Er versicherte mir, dass meine Eindrücke normal seien und wieder meinem herkömmlichen Empfinden weichen würden. Wenn sich der Raum völlig mit den herab fallenden Kugeln gefüllt hatte und ich kaum mehr atmen konnte, war wieder ein schrecklicher Höhepunkt erreicht. Er trug mich weiter weg von allem Bekannten und allmählich wurde ich gleichgültig und erschöpft. Gerade dann bäumte ich mich vor Schmerz auf. Ich hatte Angst, erstickt zu werden, durch die nimmer enden wollende Fülle jener todbringenden, geschwollenen Kugeln, die bereits mein Innerstes einzunehmen schienen. Die Zimmerecke war ein winziger Punkt in unendliche Ferne, die stecknadelgroße Blasen gebar, welche bald in meine Brust eindringen sollten. Aber ich vergaß niemals, wo ich herkam. Denn ich hielt mich an der monotonen Stimme und diesem Bild von meinem Zwergenvater fest, der Jahrhunderte lang wie festgeschraubt immer an derselben Stelle auf seinem lächerlich verbogenen Stühlchen saß. Immer wieder fragte ich mit ersterbender Stimme, ob er die Kugeln und die Flammen auch sehen konnte, aber er beteuerte, nichts von alledem erkennen zu können. Gleichzeitig bezweifelte er meine Angaben nicht und riet mir, nicht aufzugeben.