Читать книгу Ein stilles Dorf in Kent - Gerda M. Neumann - Страница 10

Kapitel 4

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Der nächste Tag begann mit leichtem Nebel. Olivia saß an dem weißen Gartentisch in Anns Zimmer und übersetzte in Ruhe zehn Seiten des neuen Romans von Neville Seymour. Sie hielt ihn für einen der bedeutendsten unter den Gegenwartsautoren in England. In ihren Augen war er ein Dichter, ein Nachfahre von Virginia Woolf und Dylan Thomas. Sie hatte das Glück gehabt, ihn dank ihrer Freundin Amanda persönlich kennenzulernen. Grausigerweise waren sie alle am selben Abend als Gäste des Schriftstellers Keith Aulton in dessen unerwarteten Tod verwickelt worden. Ihre Beharrlichkeit und ihr Verständnis hatten diesen Todesfall schließlich aufgeklärt. Offenbar hatte Seymour sie nicht vergessen, denn ein Jahr später hatte sein Verlag bei ihr angefragt, ob sie die Übersetzung seines neuen Romans ins Deutsche übernehmen würde. Ihr hatte der Atem gestockt – und sie hatte angenommen, es war die bisher größte Herausforderung an ihr Können als Übersetzerin.

Jetzt saß sie also in Anns Zimmer an dem alten Gartentisch an der Arbeit, die ihre Konzentration vollständig von der übrigen Welt abzog. Als sie ihr Tagespensum geschafft hatte, holte sie sich einen Apfel aus der Küche und machte sich an einen Artikel für den ›Guardian‹. Diese Übersetzung ging wesentlich zügiger von statten. Der Nebel hatte sich derweil verzogen, was zu dem zweifelsfreien Schluss führte, dass sie von ihrem Fenster aus so gut wie niemanden beobachten konnte. Das Lindenspalier war dagegen.

Um halb zwölf stand sie vor der schwarzen Haustür. Sie trug ein Herrenhemd in dunklem Lila, doch dazu nicht ihr übliche schmale Hose, sondern eine weite mit großen Blüten aus Wangaris Afrikaladen. In den Blüten war auch lila. Ins Haar hatte sie ein lila Band geschlungen und einen bunten Schal um die Taille. Sie fühlte sich in dieser Aufmachung fremd genug, um als eine andere Nichte von Raymund Fisher los zu spazieren.

Der Green war menschenleer. An seinem Nordrand, die Hauptstraße entlang, radelte eine Frau in einem wehenden Blumenrock. Olivia zupfte ein paar alte Blätter aus den Pflanzen vor dem Wohnzimmerfenster und schlenderte dann um die Spitze des Platzes herum, an der Kirchhofsmauer entlang und weiter zu Mrs Grahams Haus. Davor blieb sie stehen und schaute durch das eine Erkerfenster hinein: Bücherregale, hoch und dunkelbraun, nah beieinander und sehr voll. Kein Mensch war drinnen zu sehen, auch hinter dem anderen Fenster nicht. An der Haustür konnte sie die Öffnungszeiten feststellen: von zwei bis sieben Uhr nachmittags jeden Tag außer Sonntag, das war großzügig für einen so kleinen Ort. Langsam ging sie weiter, prägte sich die Namen auf den Türschildern ein und hielt immer wieder inne, um über den Rasen zu schauen. An der Hauptstraße, die eigentlich eher eine Landstraße war, die durch einen Ort führte, blieb sie wieder stehen. Es war wirklich gar nichts los. Doch bevor sie sich entschieden hatte, welchen Teil von Howlethurst sie genauer besichtigen wollte, kam ihr der Zufall zu Hilfe. Vor einem der Häuser hinter den Linden an Raymunds Seite machte sich jemand an die Gartenarbeit. Olivia umrundete also weiter den Green und blieb neben der jungen Frau stehen. Drei Häuser weiter sah sie die schwarze Haustür ihres Onkels, demnach hatte sie Susan Large vor sich.

Sie grüßte freundlich: »Die Buschwindröschen sind wunderschön. Blühen sie immer so spät in diesem Teil von England?«

Die junge Frau richtete sich in ihrem Beet auf. Sie hatte dunkle, kurzgeschnittene Haare und für den englischen Frühling sehr dunkle Haut. Ein Lächeln streifte die weißen Blüten unter dem Haselnussstrauch, bevor ihre braunen Augen den noch dunkleren von Olivia begegneten. »Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht. Es ist mein erster Frühling hier.«

»Sie haben in einer wärmeren Gegend des Commonwealth gelebt?«

»Wie kommen Sie darauf?«

Olivia lachte: »Sie sind so beneidenswert braun, unter englischer Wintersonne wird man das nicht.«

»Ja, ich habe in Indien gelebt, zwar im kühlen Norden, aber doch unter einer anderen Sonne.« Fragend musterte die junge Frau ihr Gegenüber: »Wohnen Sie hier im Ort?«

»Für die nächste Zeit wohne ich bei meinem Onkel, Raymund Fisher, drei Häuser weiter.«

»Wenn das so ist, könnten wir vielleicht einmal zusammen einen Spaziergang machen«, Susan zögerte, »ganz allein ist es doch nicht so spannend.«

»Ja, gern! Welche Tageszeit ist Ihnen die liebste?«

»Am Vormittag ist es stiller, man kann sich dann mehr auf das Land einlassen.«

Olivia nickte zustimmend. »Morgen gegen elf Uhr, wäre Ihnen das recht?« Auf die schweigende Bestätigung der jungen Frau hin ergänzte sie: »Ich freue mich und ich werde da sein. Unter dieser schönen Perspektive überlasse ich Sie jetzt ihren Pflanzen.« Olivia neigte leicht den Kopf und ging weiter zu Raymunds Gartenpforte und ums Haus herum.

Ihr Onkel säte gerade Feuerbohnen hinter die Salatpflanzen. Marmalade saß auf den Hinterpfoten und schaute zu. Im Näherkommen sah Olivia ihr die Unschlüssigkeit an, ob sie Olivia als Mitbewohner begrüßen oder ignorieren sollte. Die hockte sich neben das Katzenmädchen und begann, ihr leise von ihrem Spaziergang zu erzählen. Onkel und Katze hörten sich die Neuigkeiten an. Als alles erzählt war, lag auch der letzte Bohnenkern in seinem Loch. Raymund erhob sich und griff nach seinem Gartengerät. Sie schauten zu, wie er Erde über die Löcher schob. »So, meine Lieben, jetzt ist Zeit für den Lunch. Ab ins Haus.«

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