Читать книгу Ein stilles Dorf in Kent - Gerda M. Neumann - Страница 14

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Das Abendessen begann mit Avocadoscheiben, die Raymund wie angekündigt mit Peperoni bestreut hatte, dazu Tomaten und Brot. Olivia hatte die Küchenvorhänge wie zwei Abende zuvor zugezogen und die beiden Kerzen auf dem Esstisch angezündet. Und sie steckte in ihren eigenen schmalen schwarzen Hosen. Das großgeblümte Gebilde aus Wangaris Laden lag bei den anderen seiner Art oben in Anns Zimmer.

»In eurer Bücherei ist ganz schön Betrieb, ich bin ein wenig überrascht. Die meisten leihen auch wirklich Bücher aus.«

»Sicher. Deswegen kommen sie ja.«

»Schon, aber es ist doch auch ein Treffpunkt, oder nicht? Viele reden miteinander, in allen Räumen. Ich kenne eine Dorfbücherei, in der heiliges Schweigen selbstverständlich ist.«

»Das ist aber doch Unsinn, oder? Es handelt sich ja nicht um eine Bibliothek, in der gearbeitet wird. Schließlich darf man alle Bücher mit nach Hause nehmen. Natürlich reden die Leute gern, erst einmal über Bücher. Von da kommt man weiter zu allen möglichen Sachen, das ist ganz natürlich. Aber die, die von vorne herein lieber über andere Dinge reden, treffen sich dazu auch woanders. Glaube ich zumindest.«

»Raymund, was weißt du über Lady Cardoon?«

»Hat sie dich gebissen?«

»Sie konnte sich gerade noch zurückhalten, in aller kühlen Herablassung natürlich, aber nur, weil ich vorgab, nicht die zu sein, für die sie mich hielt, nämlich deine detektivische Nichte.«

Raymund lehnte sich grinsend zurück: »Man erinnert sich also tatsächlich an diese Geschichte. Ich wusste es! Ein Teil des sogenannten kollektiven Gedächtnisses. Mrs Graham weiß es jetzt auch wieder und die Erinnerung rollt. Bin gespannt, ob etwas davon an meinen Ohren vorbeizieht – aber etwas viel wichtigeres: Was hast du über dich erzählt – heute – ganz allgemein?«

»Nur, dass ich meine Cousine bin, die – oh mein Gott, Raymund! Heute Vormittag habe ich einen Fehler gemacht!« Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an.

Er wartete gelassen und aß seine Avocado weiter.

»Dilettantenscheiße! Richtige Dilettantenscheiße!« Erschrocken richtete Marmalade sich unter ihren weichen Decken auf und starrte zum Tisch hinüber.

»Kein Grund zur Beunruhigung«, teilte Raymund ihr nüchtern mit und zu seiner Nichte gewandt: »Könntest du etwas genauer werden?«

»Das Wort stammt von Marlene Dietrich und trifft meinen Fehler haargenau.«

»Die Herkunft dieses spannenden Wortes beschäftigt mich gerade nicht so sehr!« Raymund legte das Besteck beiseite und lehnte sich zurück, schließlich fragte er: »Hast du Fulham erwähnt? Bitte erinnere dich genau.«

Exakt das war es, was Olivia während seines Nachdenkens versucht hatte. »Nein, das nicht. Aber ich erzählte von meinen Großeltern, dem Verschwinden meines Vaters und dem daraus sich ergebenden Umzug nach Salzburg. Von meiner Mutter und ihrer Arbeit im Fundus der Festspiele und was ich dort trieb, jedenfalls ein wenig darüber.«

Raymund hüllte sich erneut in Schweigen. Als er sich aufrichtete, begann er, mit dem Zeigefinger unsichtbare Linien auf die Tischplatte zu zeichnen: »Wir müssen die Trennlinie zwischen Viola und Olivia verschieben und jetzt sehr genau festlegen. Mein Vorschlag ist folgender: Olivia ist Übersetzerin und Journalistin und lebt in Fulham. Nichts mehr über ihre Verhältnisse. Wie kämst du auch dazu, über sie zu reden. Im Verzweiflungsfall ist sie die Tochter eines Cousins von mir. Ich darf sie dann noch immer als ›Nichte‹ bezeichnen, da wir uns recht nahe stehen. Das müssen wir uns beide merken!«

»Verstehe.«

Ein Lächeln stahl sich zurück in Raymunds Augenfalten. »Du bist die Tochter meiner Schwester. Darüber, wie sie ihren Ehemann verlor und welche Konsequenzen sich daraus für sie ergaben, wurde sicher irgendwann geredet, von mir vielleicht nicht, aber von Ann vermutlich schon. Wer diese Fakten mit Olivia in Verbindung bringt, hat halt irgendetwas verwechselt. Darauf kannst du bestehen, denn wer außer Aphra darüber spricht, hat es nicht aus erster Quelle, behaupte ich jetzt mal. Evelyn Cardoon jedenfalls nicht. Ann konnte sie nicht leiden.«

»So definitiv?«

»Ja. Du musst dir klarmachen, dass Ann hier aufgewachsen ist, und diese Distel auch, sie kennen sich oder kannten sich, seit sie laufen können, gingen zumindest anfangs in dieselben Schulen und so weiter. Als wir vor vier Jahren hierher kamen, erfolgte eine Einladung ins Herrenhaus, nur für Ann, nicht für mich. Wir nahmen folglich an, um die alten Zeiten aufleben zu lassen. Damit wollte sie mich sicherlich nicht langweilen – Ann brauchte gerade mal diesen einen Tee mit Evelyn Cardoon, um zu beschließen, ihr weitest möglich aus dem Weg zu gehen.«

»Aber warum? Wenn sie Ann eingeladen hat, wird sie doch auch gastfreundlich gewesen sein.« Olivia erkannte ihre Tante in dieser etwas rüden Reaktion nicht wieder.

»Ann kehrte damals einigermaßen fassungslos zurück. Sie konnte nicht verstehen, dass ein Mensch sich sein ganzes Leben hindurch so wenig verändert haben sollte – das waren ihre Worte.«

»Und was meinte sie damit?«

»Evelyn Cardoon hat wohl in der Schule schon versucht, die erste Geige zu spielen und den anderen zu sagen, wo es langgeht. Ann mochte das damals nicht und erst recht nicht als reife Frau. Wie du dir das bei einem zweisamen Tee konkret vorzustellen hast, überlasse ich dir. Ann meinte damals, es müsse erlaubt sein, soviel Zucker in den Tee zu tun, wie man wolle oder auch gar keinen. Wenn dabei schon Schwierigkeiten auftauchen, sollte man die Beziehung nicht ausbauen – nun ja.« Raymund lächelte ein wenig traurig.

Nach einer Pause fuhr er nüchtern fort: »Evelyn Cardoon ist der letzte Spross eines sehr alten Geschlechtes und in ihr scheinen sich wie zu einem Finale alle negativen altadeligen Eigenschaften versammelt zu haben, lass es mich so zusammenfassen. Ich persönlich habe so gut wie nichts mit ihr zu tun, ich erzähle nur, was ich gehört habe.« Raymund nahm sein Besteck wieder auf.

»Trotzdem passt die Reaktion nicht zu Ann«, grübelte Olivia über ihrem Teller.

»Nun ja…« Raymunds Blick verlor sich im Garten. »Ich nehme an, du weißt, dass Ann in diesem Haus aufgewachsen ist. Kurz nach dem Tod ihres Vaters wurde auch ihre Tante Sophie, die Schwester ihrer Mutter, Witwe und bei einem längeren Besuch hier in Howlethurst beschlossen die Schwestern, in diesem Haus gemeinsam alt zu werden. Anns Mutter starb als erste und vor fünf Jahren dann Tante Sophie. Ann erbte das Haus, das weitere kennst du.«

»Ja, stimmt, aber Anns Reaktion auf den Besuch im Herrenhaus erklärt das noch nicht, oder bin ich so blind?«

Raymunds Blick kehrte wieder in den Garten zurück, fast so, als würde er seine Frau dort draußen sehen. Olivia beobachtete eine zunehmende Traurigkeit um seine Augenwinkel. »Na ja, das war so: Ann liebte dieses Haus und dieses Land. Ein wenig hatte sie immer Heimweh nach Kent. Aber sie verspürte keine Neigung, alte Beziehungen nach einem langen, freien Leben rein aus Gewohnheit wieder aufzunehmend. Also bestand sie darauf, quasi als Fremde zurückzukehren und abzuwarten, zu welchen Nachbarn sich angenehme Beziehungen ergeben würden, aus der Gegenwart heraus und zwischen den Menschen, die sie jetzt waren. Sie beschäftigte sich mit dem Umbau des Hauses und dem Garten, den sie aus der entstandenen Wildnis hervorlockte und ließ sich mit den Menschen Zeit.«

»Das klingt nach der Vorstellung von einem guten und noch langen Leben…« Olivia schauderte leicht.

Raymund schien es zu spüren. Fest legte er seine Hand auf die ihre. »Wir waren überzeugt, noch einen ganzen Lebensabschnitt vor uns zu haben. Und wir wollten ihn sehr bewusst gestalten. Der Plan war gut.« Er drückte noch einmal Olivias Hand, bevor er die seine wieder zu sich nahm. Beide vermissten Ann gerade fast schmerzlich.

Olivia wehrte sich als erste: »Und Lady Cardoon – ließ sie die Sache dabei bewenden?«

»Erstaunlicherweise nein. Sie unternahm noch einen Versuch, Ann für sich zu gewinnen, aber Ann blieb bei ihrer freundlichen Distanz.«

»Heißt?«

»Sie blieb stehen, wenn man sich traf, sprach sie im Supermarkt in Tenterden auch an, statt um die Regalecke zu verschwinden, lud sie aber nicht einmal zu einem Gegentee ein.«

»Au ha!«

»Richtig. Aber du erkennst leicht, dass sie ihr gegenüber nicht auf die Idee kam, über meine Verwandtschaft zu reden.«

»Verstanden – kurzer Blick auf den Schlachtplan: Meine Kindheit in London und Salzburg ist wirklich die meine, aber ich vermeide, sie in Fulham zu verorten, am besten überhaupt auf London zu sprechen zu kommen.«

»Ich halte das für das beste. Du kannst von Salzburg erzählen, wenn es denn sein muss. Aber deine Beziehung zu London solltest du auf Wangari Aulton und ihre Boutique in St. John’s Wood beschränken. Meinetwegen erfinde eine Boutique in Salzburg, für die du ebenfalls Stricksachen entwirfst. Und wenn du sehr dynamisch sein willst, eine in Wien. Nur bitte, lass es mich jeweils wissen.«

Nachdenklich schob Olivia die Peperonistückchen zu Mustern zusammen. »Es überrascht mich, wie unaufmerksam ich sein kann. Wenn ich mich an das Gespräch mit Susan erinnere, regt sich immerhin die Hoffnung, dass weiter kein Schaden daraus entstanden ist. Susan dürfte in den nächsten – für uns wichtigen – Wochen kaum zu einem der hiesigen Bewohner so engen Kontakt bekommen, dass sie über mich spricht.«

»Gut. Auch wenn man nie ganz sicher sein kann. Es ist wichtig, dass du dich an unsere neue Linie sehr getreu hältst. Denn auch in Susans Ohren sollte kein Widerspruch aufklingen, wenn sie von dir hört. Vergiss nicht, andere reden vielleicht gern.« Ihm entfuhr ein kurzer Seufzer: »Ich bin so pedantisch, weil ich um deine Sicherheit besorgt bin. In dieser Hinsicht ist es wichtig, dass auch Susan keinerlei Zweifel an deiner Identität bekommt. Solange behältst du einen freien Rücken.«

Olivia stimmte ihm zu: »Also zurück: Was kannst du mir über diese etwas befremdliche Lady Cardoon erzählen?«

»Ich will gerade den Eintopf holen, dann können wir sitzenbleiben. Lass den Brotkorb ruhig stehen, manchmal mag man noch ein Stück.«

Langsam und sorgfältig schöpfte er Erbseneintopf in ihre tiefen Teller. »Wieder aufgewärmt schmeckt er am besten, du wirst sehen. Nach meinem Nachmittag in der Bücherei koche ich nämlich nie.« Für einen Moment konzentrierten sie sich ganz auf den heißen Eintopf. Olivia blies sanft jeden einzelnen Löffel und genoss mit ungeteilter Aufmerksamkeit die Lieblingsspeise ihrer Kindertage. Raymund beobachtete sie dabei und freute sich.

»Es ist merkwürdig, denke ich gerade«, er ließ den Löffel sinken und schaute erneut hinaus in den dunklen Garten, »ich kenne Lady Cardoon persönlich ziemlich schlecht, und doch weiß ich eine Menge über sie. Von Ann das meiste und einiges von Aphra und Roger, alles sehr zuverlässige Quellen. Ich hole etwas aus, zum Verständnis erscheint es mir wichtig. Die Familie Cardoon lebt in Kent seit mindestens fünfhundert Jahren. In der Regierungszeit von Elisabeth der Ersten bauten ihre Vorfahren das Herrenhaus, in dem sie lebt. Es ist sehr schön, jedenfalls von außen, von innen kenne ich es ja nicht. Dir wird es auch gefallen: Das Erdgeschoss besteht aus Ziegelmauern, abwechselnd mit Fachwerk, in diesem Fall sind es senkrechte Balken mit weißen Feldern dazwischen, der erste Stock ist durchgehend schwarz-weiß gestreift mit einem großen Erker, der bis ins Dach hinaufreicht. Die ganze Pracht steht in einem formalen Garten mit überquellenden Blumenbeeten im Sommer. Die Mutter der jetzigen Lady soll eine auffallende Begabung für Gartengestaltung und Pflege gehabt haben, ich habe sie nicht mehr kennengelernt. Ihre Tochter pflegt das Erbe, aber sie ist, wie wir vorhin schon festhielten, die letzte Cardoon. Nicht schön – denke ich mir.«

»Hatte die Familie Einfluss in der Gegend?«

»Ich glaube nicht, jedenfalls nicht in den letzten Generationen. Davor waren sie Großgrundbesitzer mit den Pflichten und der Möglichkeit zu Macht und Willkür, wie aller Landadel. Sie werden es unterschiedlich gehandhabt haben, es redet heute niemand mehr darüber, scheint mir. Ich weiß auch nichts über eine verzweigte Verwandtschaft. Wenn es dir wichtig erscheint, werde ich es herausfinden. Die letzte Cardoon – es ist ganz normal, dass Familien aussterben, aber für den Betroffenen habe ich mir die Situation immer scheußlich vorgestellt.«

»Klassische Frage: Wer erbt ihren Besitz?«

»Keine Ahnung. Ich werde die Frage an Roger weitergeben.«

Olivia nickte: »Mach das, schon damit er nicht vergisst, dass wir an der Arbeit sind – hast du einen Vorschlag für morgen?« Als Raymund so auf Anhieb nichts einfiel, ergänzte sie: »Unser Ausgangspunkt ist der Tod von Delia Large.«

Raymund löffelte langsam weiter, hin und wieder gab er unbestimmte dunkle Töne von sich. Schließlich ließ er seinen Löffel wieder mal sinken und lehnte sich zurück: »Man muss mit den Leuten reden, wenn man weiterkommen will. Meine Sorge ist, dass die Betroffenen ihrerseits weiterdenken, wenn du sie sich selbst überlässt.«

Ein verschmitzter Blick war die Antwort: »Tun sie sicher. Aber nicht zwangsläufig in dieselbe Richtung wie ich. Ist dir jemand eingefallen?«

»Ja, tatsächlich. Morgen ist Freitag. Freitags kommt Sira zu Mrs Large zum Putzen. Du wirst sie mögen: Sie ist groß und breit und immer guter Laune. Von jener Laune, die ansteckend ist. Wenn ich sie treffe und wir zwei beiläufige Sätze über das Wetter wechseln, ist der Tag anschließend ein guter Tag. Phänomenal…«

»Dann liegt ein guter Tag vor mir.«

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