Читать книгу Ein stilles Dorf in Kent - Gerda M. Neumann - Страница 9

Kapitel 3

Оглавление

Am Sonntagnachmittag waren Olivia und Leonard nach London zurückgekehrt. Am Dienstagabend bezog Olivia das Zimmer ihrer Tante in Howlethurst. Es nahm fast die Hälfte des Dachgeschosses ein mit einem normalen Gaubenfenster nach vorn und einem halbrunden am Boden nach hinten zum Garten. Auf dunkelrotem Teppichboden standen weiße Möbel, die Wände waren zart altrosa, auf den leichten weißen Vorhängen blühten Rosen. Raymund hatte den Raum in den vergangenen anderthalb Tagen wieder zum Leben erweckt. Mit Rogers Hilfe hatte er einen alten Gartentisch aus dem Pfarrhaus vor das große Fenster gebracht als Schreibtisch, die Frisierkommode hatten sie etwas zur Seite geschoben, Olivia konnte sie aber durchaus noch benutzten, wenn sie wollte. Neben dem Fenster stand nun eine große Palme, und am Boden vor dem Gartenfenster hatte er die leeren Töpfe mit Zwergrosen in verschiedenen Rosatönen gefüllt.

Olivia hatte ausgepackt und ihre Arbeit wie üblich in chronologischer Reihenfolge nebeneinander angeordnet. Es brach mal wieder eine Zeit äußerster Disziplin an. Im Augenblick stand sie am Fenster und schaute hinaus auf die dreieckige Rasenfläche. Überrascht entdeckte sie, dass die frischen Triebe der Linden den Blick bereits jetzt hinderten auszuschweifen.

Sie sauste die Treppe hinunter und fand Raymund am Herd: »Du magst süßsauer noch immer?«

»Hmhm, ja, es riecht köstlich. Kann ich helfen?«

»Oh nein! Ich bin der Koch, du erinnerst dich, wir haben ein Abkommen.«

Sie strich ihm liebevoll über den Rücken und ging langsam durch die Weite des offenen Erdgeschosses. Ihr Blick blieb an Anns Klavier hängen. Sanft strich sie mit der Hand über den glänzenden Lack und die Notenbücher. »Spielst du manchmal Klavier?« mit der Frage kam sie zurück in die Küche. »Das Instrument sieht irgendwie so aus.«

Raymund nickte stumm. Nach einer Weile räusperte er sich: »Ja, seit einigen Monaten spiele ich wieder. Weißt du, es tat dem Orgelspiel in der Kirche auf die Dauer nicht sehr gut, dass ich unter der Woche meine Finger so gar nicht trainierte.«

»Kann ich mir vorstellen. Ann würde sich sicher darüber freuen.«

»Das täte sie bestimmt. Weißt du, manchmal scheint es mir, als wären wir uns dort besonders nahe. Es tut mir gut – inzwischen – ich bin gleich fertig hier«, ergänzte er mit Blick auf seine Hände, wieder munterer.

Olivia ging zum Fenster und schaute auf den Green hinaus. Hier unten konnte sie unter den Linden hindurch Bänke am Rand des Green sehen und Leute. Allerdings hatte Ann Rosen vor das Küchenfenster gesetzt, die sich anschickten, mit ihren neuen Blättern den Blick zu durchkreuzen. »Ich glaube, dies ist der einzige Green in ganz England, der von Spalierbäumen umstanden ist.«

Raymund nickte zustimmend: »Magst du Avocado lieber als Creme oder in Scheiben?«

»Ich mag beides.«

»Das ist gut! Dann gibt es sie heute als Creme mit Naan-Brot, das gibt es auch zum Curry. Und übermorgen Scheiben mit Peperoni bestreut und Tomaten – das Lindenspalier ist, so weit ich weiß, tatsächlich das einzige in England. Howlethurst hatte im neunzehnten Jahrhundert schon mal einen tatenlustigen Pfarrer. Der stellte im Laufe der Jahre fest – so will es jedenfalls die Geschichte – dass das Miteinander seiner Pfarrkinder um den Green herum weitaus streitlustiger und auch sonst schwieriger war als notwendig. Sie wussten einfach zu genau übereinander Bescheid. Er beschloss, den Blick aufeinander zuzupflanzen, gewann seine Gemeinde für diese ungewöhnliche Idee, indem er ein allgemeines Dorfverschönerungsprojekt ins Leben rief, und alle machten mit.«

»Vom Küchenfenster hier unten sehe ich immer noch ganz gut.«

»Über die freie Fläche, aber nicht in die anderen Häuser«, konterte Raymund.

»Stimmt, die oberen Stockwerke sind verdeckt und unten haben fast alle relativ hohe Pflanzen stehen.«

»Niemand lässt sich gerne allzu genau beobachten, aber niemand unternimmt gern als erster etwas dagegen. Dazu brauchte es den Pfarrer.«

Olivia wandte sich wieder der Aussicht zu. Die Häuser waren sehr verschieden, verschieden groß und verschieden alt. »Wer wohnt in dem Haus gegenüber auf der anderen Rasenseite?«

»Welches genau meinst du?« kam die Rückfrage vom Herd, der in der Mitte der Küche stand. Raymund werkelte daneben an der Vorspeise. »Das rote oder das weiße?«

»Das rote mit den symmetrischen vorgebauten Erkern und dem säulenflankierten Hauseingang. Seine unteren Erkerfenster sind nicht zugepflanzt.«

»Dort lebt Mrs Graham. Und der größte Teil des Erdgeschosses beherbergt die hiesige Leihbücherei. Tagsüber braucht sie die Fenster nicht zu schützen, weil sich das halbe Dorf ohnehin drinnen tummelt. Abends zieht sie dann schwere Portieren vor. Ich für meinen Teil glaube allerdings, dass sie im ersten Stock ein privates Wohnzimmer hat und nur mit Besuch das untere benutzt.«

»Aha…« ein wenig ratlos wandte Olivia sich ihrem Onkel wieder zu.

»Ich werde versuchen, zusammenzufassen. Mrs Graham ist heute um die sechzig Jahre alt und grauhaarig, doch Witwe ist sie schon seit dreißig Jahren, ungefähr. Sie hat einen Sohn, der im Internat von Marlborough erzogen wurde und nur die Ferien hier verbrachte. Die alte englische Geschichte: Die Frauen sind sehr früh die meiste Zeit allein.«

»Erzähl mir jetzt aber bitte keine Biographie aus dem 19.Jahrhundert. Wer hinderte sie, ihr Haus zu verlassen und ihr Leben in die Hand zu nehmen?«

»Weiß ich nicht. Ich kannte sie damals nicht und Ann auch nicht. Kurz und gut: Es war wieder der Pfarrer, Rogers Vorgänger, der anregte, in einem der vorderen Räume eine Leihbücherei einzurichten. Irgendeiner der umliegenden Landsitze, genauer ein neuer Besitzer, der die alten Bücher nicht wollte, hatte sie der Gemeinde als Geschenk angeboten. Es handelte sich um eine ziemlich umfassende Sammlung, die allerdings erst im 19.Jahrhundert begonnen worden war und enthielt, was die damaligen Besitzer selber lasen, will sagen, genau das Richtige für eine Leihbücherei und wenig geeignet, sie zu Geld zu machen. Das war der Anfang. Heute steht nur noch in der Wohnküche ein Esstisch und vor dem Wohnzimmerfenster zum Garten eine Sitzgruppe. Alles andere im Erdgeschoss ist Bücherei. Wie sie sich darin fühlt, weiß ich noch immer nicht. Zwar helfe ich jeden Donnerstagnachmittag, aber wir unterhalten uns nicht privat.«

Raymund hatte unter dem Reden die Avocadocreme fertiggestellt. Er rührte das Curry noch einmal um und ging voraus zum Esstisch. Olivia folgte ihm mit einem Krug voll frischem Wasser, doch vorher zog sie die Küchenvorhänge zu. Er quittierte es mit einem leichten Lächeln um die Augen, während er die Kerzen auf dem Tisch anzündete. »Dir ist ungemütlich?«

»Ich habe gern den Rücken frei. Noch sind die Rosen vor dem Fenster nicht grün.«

»Nein, noch nicht. Wenn es so weit ist, sollte uns nicht mehr ungemütlich sein. Ich hoffe es wenigstens.« Während sie sich die Vorspeise schmecken ließen, überlegte Raymund weiter: »Ich mache auch meinerseits die bedauerliche Entdeckung, dass ich mich nicht so unbeteiligt fühle, wie ich es unter natürlichen Umständen täte, wenn ich dir von meinen Nachbarn erzähle.«

»Was hat sich verändert?«

»Bei allem, was ich dir erzähle, begleitet mich die Frage, ob ich irgendeinen Hinweis finde, der uns helfen könnte, Licht in Rogers Problem zu bringen.«

»Auch bei Dr. Chalklin?«

»Auch bei ihm. Er bringt die männliche Ausnahme hinzu, ist mir inzwischen gekommen, als Täter für einen gewaltfreien Tod auf der Basis genauer Kenntnisse. Das ist aber auch schon alles.« Er zögerte kurz, bevor er mit leichter Selbstironie bekannte: »Hoffentlich werden wir beiden nicht krank, bevor der Fall geklärt ist, sonst müssten wir nach London zu deinem Arzt fahren, fürchte ich.«

Ein stilles Dorf in Kent

Подняться наверх