Читать книгу Ein stilles Dorf in Kent - Gerda M. Neumann - Страница 8
ОглавлениеKapitel 2
Raymund Fisher ging hinaus in den Garten. Leise rief er nach Marmalade. Das Katzenmädchen schob sich mit durchhängendem Kreuz unter der Buchsbaumabgrenzung zum Gemüsegarten hindurch, streckte sich behaglich und spazierte heran, strich um die Beine seines Besitzers und wandte sich neugierig Olivia zu. Folgsam hockte diese sich nieder und kraulte die junge Dame hinter den Ohren. Leise erzählte sie ihr, wie hübsch sie sei, doch nicht lange, dann musste sie lachen. »Wie viel närrisches Zeug man aus dem Stegreif zu reden imstande ist!« Sie streckte sich nun ebenfalls. Einen Handstandüberschlag oder andere unerwartet ausgreifende Aktionen verkniff sie sich angesichts des Katzenmädchens. Seit den Balletträumen ihrer Schulzeit halfen ihre die seinerzeit vieltrainierte Übungen, ihrem inneren Menschen Luft zu verschaffen und sich zu entspannen. Das ging nun nicht, aber es bedeutete ihr gerade nicht viel. »Ach, Raymund, wie schön es bei dir ist! Schau mal«, sie schlenderte zu den Rosen hinüber, »das dunkle Rot der jungen Blätter über einem Meer blauer Frühlingsanemonen.«
Während er sein Rosenbeet betrachtete, nahm der Onkel zum ersten Mal Stellung: »Puck, selbstverständlich kannst du Rogers Ansinnen ablehnen.«
Olivia sah ihn an: »Warum hast du mir nichts gesagt?«
»Du weißt, dass ich die Dinge nicht gern unnütz herum rolle. Er sollte es dir zuerst einmal selber erzählen, handelt es sich doch um sein Problem. Ihm würdest du helfen, nicht mir, jedenfalls nicht in erster Linie.«
»Aber du nimmst es genauso ernst?«
»Bis zum Tode von Mrs Large nahm ich es ernst, weil ich Roger sehr ernst nehme. Aber ich sah weder eine Möglichkeit noch wirklich eine Notwendigkeit zum Handeln. Jetzt, denke ich, ist der Zeitpunkt zum Handeln gekommen, weil Rogers Verdacht für mich unabweisbar zu sein scheint, ich sage scheint, und außerdem ein erster Ansatzpunkt für Fragen greifbar ist.«
Er sah sie offen an. Langsam schlenderten sie an den verschiedenen Rosen entlang. Schließlich blieb Olivia stehen: »Der einzige Schluss, den deine Äußerung zulässt, ist der, dass auch du den Tod von Mrs Large für Mord hältst.« Sie sah ihn fest an. »Demnach wäre die Überzahl der Todesfälle ebenfalls auf Mord zurückzuführen. Und da Morden kein Gesellschaftssport ist, hättet ihr einen Serientäter unter euch.«
»Vermutlich eine Täterin.«
Olivia wartete.
»Die meisten Toten sind Frauen«, ergänzte ihr Onkel, »ich glaube, man darf das aus Rogers Befund schließen. Es geschieht vollkommen gewaltfrei und aus präziser Kenntnis der Verstorbenen. Nur so ist es möglich, dass Dr. Chalklin immer eine natürliche Todesursache diagnostiziert. Deshalb halte ich es für die Handschrift einer Frau.«
»Wenn auch du den Tod der Mrs Large für Mord hältst, wäre das trotz Dr. Chalklin der Zeitpunkt, die Polizei zu benachrichtigen.«
»Die wird uns auf den Totenschein zurückverweisen.«
»Also steht Dr. Chalklin zwischen euch und der Polizei.«
»So kann man es sehen.«
»Hältst du es wirklich für vollkommen zwecklos, mit ihm über den letzten Fall, nur über den letzten, noch einmal zu reden?«
»Es ist zwecklos. Roger hat es versucht und wurde kompromisslos abgeschmettert. Chalklin lässt nur Fakten gelten.«
»Hmm, mit so einem Menschen kann man sich im Grunde nicht persönlich unterhalten.«
»Das unternimmt auch niemand. Aber bevor er beginnt, dir leid zu tun, kann ich dich beruhigen: Er hat ein kleines Apartment in London. Dorthin fährt er, sobald die Praxis geschlossen ist. Das Leben dort scheint mir ein durchaus geselliges zu sein, sonst müssten allmählich kauzige Züge an ihm sichtbar werden. Das ist nicht der Fall.«
Ihr Schlendern durch den Garten kam vor dem Wintergarten wieder zum Stehen. Gemeinsam sahen sie auf die ruhige Rasenfläche, die geraden Linien des Buchsbaums und die überall neu erwachenden Stauden. »Mein Problem ist«, hob Raymund an, »dass ich niemanden außer dir sehe, der sich dieses Falles annehmen würde. Und gleichzeitig habe ich beträchtliche Angst um dich.« Wieder sah er seiner Nichte ernst und offen in die Augen. »Wir haben eine Feindin, dürfen allerdings bereits hier nicht vergessen, dass das Geschlecht unseres Gegenübers nur eine These ist. Sehr streng betrachtet, ist bereits die Annahme einer Feindin eine These. Nehmen wir an, diese These stimmt. Dann müssen wir uns ganz klar darüber sein, dass die Frau gefährlich ist. Tatsächliche Gefahr für dich, vor allem für dich, in der Konsequenz sogar für mich, besteht aber erst, wenn klar wird, was du tust.«
»Verstehe. Um beim Anfang zu beginnen: Warum sollte ich mit dem Zug kommen?«
»Nun, in unseren ersten Jahren hier, in der Zeit also, in der deine detektivischen Fähigkeiten offensichtlich wurden, hast du uns gelegentlich besucht. Irgendwer hat sich deinen alten Saab bestimmt gemerkt. Seit Anns Beerdigung warst du nicht mehr hier, das heißt, wenn du dein Aussehen ein klein wenig verändern würdest, könntest du als eine andere Nichte durchgehen, keiner hier weiß die Zahl meiner Verwandten. Das wäre für dich sehr viel sicherer.«
»Du hast wirklich Angst?«
»Lass uns jetzt nicht über wirklich und theoretisch debattieren. Ich gebe zu, dass ich sicherlich nicht folgenlos mein Leben mit Kriegsgeschichte verbracht habe. Eines der obersten Gebote ist, dass der Feind nie wissen darf, was man im Schilde führt. Schon vor zweieinhalbtausend Jahren schrieb Sun Tsu in China, dass jede Kriegsführung auf Täuschung gründet. Die Menschen haben sich nicht verändert, also wollen wir das beherzigen.« Er lächelte. »Marmalade braucht ihr Futter. Also lass uns hineingehen.«
Ein ingwerfarbener Pfeil tauchte umgehend von irgendwoher auf und schloss sich der Kolonne in die Küche an. Raymund öffnete eine Dose mit Lachs, füllte die genaue Hälfte des Inhalts auf einen Teller und zerteilte die Masse in kleine Bissen. Der Teller hatte seinen Platz neben der Küchenanrichte, das Trinkwasser wurde erneuert, dann ging Raymund in den Wintergarten, er zögerte kurz, schloss dann aber energisch die Tür zum Garten und streckte seinen Arm Richtung Teetisch aus: »Lass uns hier Platz nehmen. Der Garten ist groß, ich bin überzeugt, bei normaler Lautstärke kann niemand mithören. Aber Schlachtpläne entwirft man grundsätzlich in geschlossenen Räumen. Wobei mir auffällt, dass ich gerade über dich verfüge. Das liegt mir völlig fern. Du hast natürlich die Freiheit, abzuwinken.«
Olivia schlang die Arme um ihren Onkel: »Nein, habe ich nicht, weil ich sehe, welche Sorgen du dir machst. Wäre es nur ein Problem von Pfarrer Mottram, dann vielleicht. So nicht.« Sie drückte ihm einen Kuss auf jede Wange und gab ihn frei. »Ein technisches Problem ist die Zeit. Dieser Fall kann sich hinziehen. Also werde ich meine Arbeit mit hierherbringen und schauen, alles gleichzeitig zu machen. Das schadet nichts, ein Prickeln in den Adern erhöht die Lebendigkeit. Damit bist du einverstanden?«
»Selbstverständlich, mehr als das. Ich werde mich zu deinem Hüter machen und zu deinem Koch und zu deinem Assistenten, wenn ich das kann.« Beide waren nach dieser Entscheidung sehr vergnügt.
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Die Dämmerung senkte sich bereits über die dreieckige, ziemlich große Rasenfläche, die den Mittelpunkt des kleinen Ortes ausmachte, als Leonard vom Pfarrhaus zurückkam. Gemeinsam machten die drei sich an die weitere Vernichtung des Lunches. Er schmeckte ein wenig angetrocknet, niemand hatte tagsüber weiter an die Speisen auf dem Esstisch gedacht. Aber sie achteten wenig darauf.
Neben Leonards Teller lag ein Stoß Papier. »Ich fürchte, ich war ein wenig pedantisch und kann nur hoffen, dass Mr Mottram es mir nicht nachträgt. Howlethurst ist ein ziemlich amorphes Gebilde. Stört es dich, Raymund, wenn ich die Karte ausbreite?«
Die Essensreste trockneten weiter vor sich hin, während die drei sich wie Verschwörer oder wie Generäle, das war eine Perspektivenfrage, an der anderen Tischhälfte über die Karte beugten. »Hier ist der dreieckige Green mit der Kirche an der Südspitze und den ältesten Häusern des Ortes an seinen Flanken, hier steht dein Haus. Die Hauptstraße schließt den Platz nach Norden ab. Wir wollen die Himmelsrichtungen nicht nautisch genau nehmen, denke ich. Hier an der Westgrenze von Howlethurst liegt das alte Herrenhaus, einen guten Kilometer nach Norden ein Internat, nach Nordosten schräg hinüber sicher fünf bis sechs Kilometer entfernt das Krankenhaus, erstaunlich genug. Zieht man von dort eine imaginäre Linie nach Süden zur Haupt- oder Landstraße, ergibt sich ein weiteres, sehr viel größeres Dreieck, in dem einige Farmen liegen.« Seine beiden Zuhörer nickten stumm.
»Mottrams Daten und Erinnerungen führen zu folgendem Ergebnis: im Internat hier«, Leonards Finger tippte kurz auf die Karte, »starb in den letzten zehn Jahren niemand. An die Todesfälle auf den Farmen erinnert sich Mottram noch, an jeden einzelnen. Das hat mich sprachlos gemacht. Er hielt sie allesamt für genauso ›normal‹ wie Dr. Chalklin, aber ganz sicher ist er sich inzwischen nicht mehr – so, wir überqueren die Hauptstraße und wenden uns damit dem eigentlichen Ort zu: nochmal – hier das grüne Dreieck des Green. Vom Green nach Westen hat die Hauptstraße auf beiden Seiten eine geschlossene Bebauung, nach Norden einreihig, nach Süden eine größere Siedlung mit Mietshäusern, jeweils sechs Wohnungen pro Haus, an der Straße ein großes Wirtshaus. Dem Green gegenüber reihen sich einige Geschäfte an der Straße auf, dahinter und weiter nach Osten gibt es etliche Wohnstraßen, bis der Ort am Sportplatz endet.« Er richtete sich auf. »Lassen wir die Karte liegen, ich habe Hunger.«
Olivia blieb noch daran hängen: »Hier führt ein Fußweg von der Kirche nach Süden zu einzelnen Häusern…«
»Dort wird es dir gefallen. Die Kirche liegt auf dem höchsten Punkt. Wenn du den Kirchhof verlässt und das Wäldchen hinter dir hast, liegt dir Kent zu Füßen.«
»Warum waren wir da nie?«
»Ich fürchte, Ann hat deine Besuche genutzt, um im Land herumzufahren, Ziele genug gibt es ja.« Mit diesem Stichwort schweiften Olivias Gedanken in die Grafschaft hinaus, durch den Haselnussgang von Sissinghurst im Mai oder über die dortige Wiese mit Bäumen voll reifer Äpfel und darunter Herbstzeitlose dicht an dicht, zu den Hopfenhäusern und den Weiden voller Lämmer und den Straßenrändern voller Osterglocken, zu dem alten Haus von Rudyard Kipling aus honiggelbem Kalkstein, eingenistet in ein stilles Tal, allerdings war das bereits Sussex. Doch die Landschaft wusste von diesen Grafschaftsgrenzen nichts, und den Menschen waren sie heute auch nicht mehr wichtig. Sie dachte an ihre Tante.
Entschlossen griff Olivia sich einen Apfel und begann ihn zu vierteln. »Leonard, auf deinen Zetteln steht doch sicher noch mehr.«
»Ja, richtig. Ich habe mich für die Bevölkerungsstruktur interessiert. Ihr wisst, Kent-Sussex-Surrey sind beliebte Gegenden für Alterswohnsitze. Aber das gilt wohl eher für die Küste, für Städtchen wie Tunbridge Wells und Tenterden. Howlethurst jedenfalls hat sich kaum vergrößert, und wenn, waren es Ansässige, die nun eigene Familien gegründet haben. Es sind also keine älteren Menschen zugezogen, dennoch starben deutlich mehr als früher. Pfarrer Mottram macht sich zurecht Gedanken, auch wenn ich als harmloser Mensch immer auch eine harmlose Erklärung für möglich halte. Statistische Unregelmäßigkeiten sind so selten nicht.«
»Dein Blick auf die Karte legt nahe, dass du die Todesfälle konkret auf der Karte aufgesucht hast.«
»Auch das haben wir unternommen. Es wohnten mehr der Toten hier um den Green und in den angrenzenden Straßen als weiter nach Norden in den neueren Häusern, aber das sagt nichts aus, weil der Ort von innen nach außen ziemlich organisch gewachsen ist, will sagen, innen wohnen mehr ältere Menschen als außen. Bei den Farmen wird eine Einschätzung schwieriger. Man müsste erst einmal feststellen, wie viele Menschen auf ihnen jeweils wohnen und so weiter.«
»Die Wissenschaft versagt«, stellte Raymund trocken fest.
Leonard nickte: »So ist es, leider. Damit muss der gesunde Menschenverstand entscheiden, ob die fünf bis sechs, im letzten Jahr geschätzten zehn Todesfälle über der Norm Mottrams Unruhe rechtfertigen oder eine Kapriole der Natur sind.«
»In Prozentzahlen haben wir es mit einer Steigerung von fünfzig bis schließlich einhundertfünfundzwanzig zu tun«, ergänzte Raymund, »das ist schon fast eine Entscheidungshilfe.«
Leonards Augen suchten die von Olivia: »Du hast dich entschieden?« Sie nickte.