Читать книгу Ein stilles Dorf in Kent - Gerda M. Neumann - Страница 7
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Оглавление»Roger, du bist dran«, äußerte Raymund beiläufig und griff zu seiner Teetasse.
Roger schnaufte tief und geräuschvoll, reinigte seine vor Schreck überlaufende Nase noch geräuschvoller und setzte sich stöhnend wie ein alter Mann wieder in seinen Sessel.
»Also weißt du, alter Freund, du wirst doch nicht angeklagt – wenigstens will ich hoffen, dass es am Ende so ist.« Raymund behielt seine Leichtigkeit bei. »Erzähle einfach von deinen Beobachtungen. Ich bin sicher, Olivia und Leonard werden sie zuerst einmal als unerwartetes Gesprächsthema auffassen.«
Pfarrer Mottram leerte seine noch dampfende Teetasse in einem Zug. ›Vermutlich Raucher‹, schloss Olivia im Stillen, ›ein wenig ungewöhnlich für diesen Typ Ehemann.‹ Er stellte die Tasse ab und stützte die freigewordene Hand auf das vorgeschobene Knie. »Sie werden gleich verstehen, warum mir das Reden so schwer fällt. Die Sache ist die, in meiner Gemeinde mehren sich seit einigen Jahren die Todesfälle unter den älteren Mitbürgern. Nicht gerade spektakulär, aber doch deutlich nicht mehr normal, wenn ich das so sagen darf. Ich weiß eigentlich nicht einmal, an welchem Punkt ich ernsthaft ins Grübeln kam. Ich sprach mit meiner Frau darüber und praktisch, wie sie ist, schlug sie vor, so etwas wie eine Statistik zu erstellen. Wir taten das auf der Basis des Kirchenbuches für die letzten zehn Jahre.« Nach kurzer Pause, in der die Falte über seinem Nasenrücken sich zur Furche vertiefte, nahm er Olivia fest in den Blick: »In den letzten drei Jahren starben pro Jahr nahezu doppelt so viele Mitbürger zwischen sechzig und achtzig wie in den sieben Jahren davor.« Er schwieg.
Olivia sah, dass er eine Reaktion von ihr erwartete. »Darf ich fragen, was dieser Befund in absoluten Zahlen bedeutet?«
Roger Mottram atmete hörbar durch. »Ja, selbstverständlich. In den ersten sieben Jahren, die wir durchsahen, waren es drei, gelegentlich vier Todesfälle, in den letzten drei Jahren zunächst acht, im letzten Jahr zehn.« Er sah Olivia ernst an: »In absoluten Zahlen scheint das nicht viel zu sein, schließlich handelt es sich um ältere Menschen. Aber wir hatten in den letzten Jahren keine schweren Erkältungswellen, keine ungewöhnlichen Grippeserien, warum dann also? Und warum so konstant?«
»Gab es in den anderen Altersgruppen auch veränderte Todesraten?« erkundigte Leonard sich sachlich.
Der Pfarrer schrak zusammen: »Das weiß ich nicht exakt zu sagen. Wir haben nur die Fälle zusammengezählt, von denen ich sprach.« Er sah Leonard ein wenig verstört an: »Wir können das nachholen, wenn Sie das für wichtig halten.«
»Ob es wichtig ist, wissen wir erst hinterher«, reagierte Leonard beruhigend, »wenn Sie wollen, kann ich es gern nachher für Sie auszählen.«
»Wenn Sie dazu bereit wären… wir könnten es zusammen machen. Dann gewinnen wir wissenschaftliche Klarheit – gewissermaßen. Das wäre tatsächlich beruhigend.«
Raymund verteilte erneut heißen Tee, dieses Mal sagte er kaum ein Wort. Olivia sah ihren Onkel aufmerksam an. Sie wagte nicht zu schließen, was der alte Fuchs im Schilde führte. Leonard nahm sich erneut des Themas an: »Haben Sie mit jemandem über Ihre Entdeckung gesprochen? Zum Beispiel mit dem zuständigen Arzt?«
Wieder holte Mr Mottram tief Luft: »Ja, das tat ich.«
»Und?«
»Ja, wissen Sie, seitdem bin ich eigentlich erst richtig beunruhigt. Dr. Chalklin hörte sich meine Sorgen ruhig an. Danach bat er lediglich um eine Liste der Todesfälle der in Frage stehenden Jahre. Kein Wort mehr. Ich brachte sie ihm und eine Woche später bat er mich am Abend zu sich und ging die Liste durch, indem er mir zu jedem Fall die Todesursache erläuterte. Alles schien so normal, dass ich mich fast schämte, ihm so viel Mühe gemacht zu haben. Wieder ließ er sich kein Wort zu viel entfallen. Als Arzt darf er das einerseits nicht, andererseits könnte ihm mein Berufsstand doch eine Ausnahme von seiner Schweigepflicht ermöglichen.«
»Warum steigerte dieses Gespräch Ihre Unruhe?«
»Ja, wieder eine berechtigte Frage.« Er sah Leonard eine Weile lang schweigend an. »Ich fürchte, diese sachliche Neutralität machte mich fertig. Er stellte medizinische Tatsachen fest, zu denen sich nichts hinzufügen ließ. Dabei muss man sich doch wundern dürfen! Selbst die Wissenschaft müsste ihren Fortschritt einstellen, wenn die Forscher verlernen würden, sich zu wundern – aber das sah er nicht ein.«
»Ist Dr. Chalklin ein guter Arzt?« Olivia sah über ihre dampfende Teetasse hinweg zu Mr Mottram. Der musterte sie eine geraume Weile, währenddessen sie feststellte, dass er zwar etwas ruhiger geworden war, aber auch sehr viel ernster.
»Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Seine fachliche Kompetenz bestreitet niemand, jedenfalls hätte ich das nie gehört. Ebenso wenig weiß ich von gravierenden Fehlentscheidungen. Er hält engen Kontakt zur medizinischen Forschung, er ist neuen Medikamenten oder sonstigen Therapien gegenüber aufgeschlossen. Alles bestens. Und doch will mir scheinen, dass da etwas fehlt. In meinen Augen ist die Medizin keine reine Naturwissenschaft, doch das bestreitet Dr. Chalklin entschieden.«
»Behandelt er Migränepatienten?«
»Persönlich weiß ich von einem Fall. Er nahm eine genaue Untersuchung vor, befragte sein pharmazeutisches Handbuch und verschrieb Tabletten, die auch halfen. Ansonsten hätte er seinen Patienten sicherlich zum Spezialisten überwiesen. Streng sachlich das Ganze.«
»Wie lange ist er Arzt hier in Howlethurst?«
»Bald dreißig Jahre müssen es sein; er war schon da, als meine Frau und ich hierherkamen vor vierundzwanzig Jahren.«
»Wie gut kennen Sie einander?«
»Auch das ist schwer zu sagen. Natürlich kommt in so vielen Jahren alles Mögliche zur Sprache. Aber was nicht zu Sprache kommt, ist vermutlich wesentlich mehr und wäre bedeutend interessanter. Ich denke, ich kenne ihn nicht sehr gut. Und auch sonst niemand hier.«
»Mit wem haben Sie noch über Ihre Beobachtung gesprochen?« schaltete Leonard sich dazwischen.
Mr Mottrams Kopf flog herum: »Was sagten Sie? Ach ja richtig, entschuldigen Sie. Wer sonst noch.« Er versuchte, ruhig durchzuatmen, bevor er antwortete. »Da ist niemand. Es ergab sich vor einigen Wochen, dass ich mit dem Chief Inspector von Cranbrook sprach, zugegeben sehr neutral. Doch seine Reaktion war klar: Derartige Verdachtsmomente fallen unter seine Wahrnehmungsschwelle.«
»Und ein Apotheker?«
»Nein. Die gängigen Medikamente hat Dr. Chalklin vorrätig, besorgt sie in dringenden Fällen auch, hier auf dem Land gibt es diesen täglichen Lieferservice, sehr praktisch. Ansonsten kauft man seine Hustenbonbons in Cranbrook oder Tenterden. Alles sehr anonym.«
»Das heißt: Von Ihren konkreten Sorgen wissen Dr. Chalklin und Ihr Freund Raymund hier, sonst niemand?« fasste Leonard zusammen. »Kein alter Studienfreund wer-weiß-wo in England?«
»Nein, niemand, außer meiner Frau natürlich. Aber sie redet sicher mit niemandem darüber.«
Raymund Fisher sah in die Runde, dann erhob er sich und holte Gläser und eine Flasche Sherry. Ruhig und schweigend goss er ein, alle drei sahen ihm wortlos zu und hoben wortlos ihre Gläser. »Ich trinke darauf, dass wir dieses Problem aufklären können!« Olivia, die während dieser kleinen Zeremonie Pfarrer Mottram im Blick behalte hatte, schaute überrascht zu ihrem Onkel. »Ganz recht, Puck, wir setzen unsere Hoffnungen in deinen Scharfsinn.«
Olivias dunkelbraune Haare flogen um ihren Kopf, der Sherry geriet in schweren Seegang und beruhigte sich wieder, genau wie die glatten Haare wieder in ihre alte Position zurückglitten. »Damit wäre die Katze also aus dem Sack…«
»Lediglich Rogers Hoffnung – für eine Katze viel zu defensiv.«
Ihre dunklen Augen wanderten in den Garten hinaus, nach einer regungslosen Minute kehrten sie zum Gemeindehirten zurück. »Was ist passiert? Warum wollen Sie jetzt auf einmal aktiv werden?« Als er zurückschrak, schüttelte sie noch einmal den Kopf, dieses Mal nur andeutungsweise. »Der Fall beschäftigt Sie offensichtlich schon eine ganze Weile. Irgendetwas muss passiert sein, das Ihre Beobachtungen zu einem wirklichen Verdacht hin verschoben hat. Sonst säßen wir nicht hier.«
Pfarrer Mottram räusperte sich, rückte in seinem Sessel nach vorn und begann: »Sie haben recht. Vor zwei Wochen starb Delia Large. Ihr gehörte das schöne Haus drei Grundstücke von hier Richtung Hauptstraße. Sie war eine enge Freundin meiner Frau, deshalb kennen wir ihre Verhältnisse recht gut. Und deswegen verstehen wir ihren plötzlichen Tod überhaupt nicht. Dr. Chalklin hat Sekundenherztod diagnostiziert. Das stimmt vermutlich, aber wie kam es dazu? Sie hatte ein schwaches Herz, aber es sah nicht bedrohlich aus. Außerdem war sie gerade in der letzten Zeit sehr entspannt.«
»Gab es dafür einen besonderen Grund?«
»Sie erwartete ihre Großnichte, die den Sommer bei ihr verbringen wollte. Sie liebte diese Nichte sehr, entsprechend freute sie sich auf die gemeinsame Zeit.«
»Was können Sie mir über diese Nichte erzählen?«
»Susan Large hat eine etwas ungeordnete Kindheit im Rücken: Die Eltern trennten sich, als sie in der Grundschule war, der Vater ging nach Cardiff, die Mutter lebte in kurzfristigen Beziehungen und nahm sich wenig Zeit für ihre Tochter. Deshalb drängte der Vater darauf, sie ins Internat zu geben. Sie besuchte mehrere, warum weiß ich nicht. Danach ging sie nach Indien und arbeitete in einem Waisenhaus in einem Tal am Fuße des Himalaya. Im Sommer wären es drei Jahre gewesen. Ihre Großtante hoffte, dass sie sich jetzt nach einer Lebensperspektive in England umsehen wollte.«
»Wo ist sie im Augenblick?«
»Drei Häuser weiter. Ihre Großtante hat ihr das Haus hinterlassen.«
»Wo war sie beim Tod ihrer Tante?«
»In Indien.«
»Wusste sie vom Inhalt des Testamentes?«
»Nein.«
»So sicher?«
»Ja. Wir waren bei der Testamentseröffnung dabei. Ihre – und auch die Reaktion ihres Vaters – lassen keinen Zweifel zu.«
»Müssten wir uns mit dem Vater näher beschäftigen?«
»Ich denke nicht. Er lebt noch immer in Cardiff, in einer zweiten Ehe, wieder mit einer Tochter. Alle drei kamen jeden Sommer für eine Woche zu Besuch. Das übrige Jahr hindurch hielt er telefonisch lockeren Kontakt zu Delia Large. Sie verstanden sich gut, ohne einander sehr nahe zu stehen.«
»Wissen Sie etwas über das Verhältnis zwischen Vater und Tochter?«
Mr Mottram leerte sein Sherryglas, in Ruhe, stellte Olivia bei sich fest. »Ich fürchte, darüber weiß ich nichts«, bekannte er bedauernd. »Aber das könnte ein gutes Thema für Sie sein, wenn Sie mit der jungen Frau ins Gespräch kommen, meinen Sie nicht?«
»Wenn…« Sie sah einen nach dem anderen genau an: Leonard bemühte sich, ein neutrales Gesicht zu machen, Raymund schaute ernst und offen, Roger Mottram voll erwartungsvoller Hoffnung. Wie kam er nur dazu, sie war Übersetzerin und Journalistin und zwar gern. Nur weil die Neugierde sie sehr gelegentlich in einen Mordfall hineingerissen hatte, musste sie doch nicht zwangsläufig zur Wiederholungstäterin werden. Sie seufzte hörbar: »Wissen Sie, ich bin alles andere als ein Profi im Aufstöbern von Erklärungen für verwirrende Befunde oder auch für eine so klare Frage wie die: Wer hat Delia Large ermordet. Mit einem solchen Verdacht sollte man doch die Polizei in Bewegung setzen können.«
»Du übersiehst den Totenschein von Dr. Chalklin, Puck«, erinnerte Raymund sie sanft und zurückhaltend. »Aphra und Roger sind aus einer Reihe von Gründen anderer Meinung als er, aber das interessiert unter diesen Umständen keine offizielle Stelle.«
Mr Mottram erhob sich etwas schwerfällig und trat hinter seinen Sessel. Beide Hände auf die Lehne gelegt, sah er Olivia verständnisvoll an und entschuldigte sich sehr förmlich. Nichts lag ihm ferner, als sie zu bedrängen. Leonard stand ebenfalls auf: »Ich könnte Sie ins Pfarrhaus begleiten, und wir schauen, ob wir aus Ihren Kirchenbüchern noch mehr Statistiken herauslesen können und ob uns das weiterbringt. Am hellen Tag macht sich so etwas Trockenes besser als am Abend… wenn sie einverstanden sind.« Erleichtert stimmte der Pfarrer zu. Leonard umarmte Olivia: »Es wird ein wenig dauern, mir sind noch einige Fragen eingefallen.« Und schon eilte er hinter Mr Mottram durch den Garten davon.
Mit leicht geneigtem Kopf sah Olivia ihnen nach: »Kommt der Pfarrer immer so inoffiziell hinten herum zu dir?«
»Normalerweise nur, wenn ich den Türklopfer nicht höre, was im Garten immer der Fall ist.« Ihr Onkel überlegte kurz. »Genau betrachtet macht er das auch erst seit Anns Tod. Seltsam? Es hat mich, glaube ich, nie gestört.«