Читать книгу Ein stilles Dorf in Kent - Gerda M. Neumann - Страница 16

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Sira machte sich bald wieder an die Arbeit, während Susan und Olivia in Ruhe weiter Tee tranken. Doch der Tag war allzu strahlend, um lange im Haus zu bleiben. »Lady Cardoon ist in den Bus nach Tonbridge gestiegen… ich kann sie mir gar nicht in London vorstellen…, aber vielleicht will sie da ja auch gar nicht hin. Jedenfalls ist sie weg und wir könnten einen Spaziergang zum Herrenhaus machen. Ich bin da noch nie gewesen.« Olivia war selbstredend einverstanden und mit einigen Hinweisen von Sira machten sie sich auf den Weg.

Sie gingen die Hauptstraße hinunter, vorbei am Hotel und am Pub. Die Gestalt mit dem wehenden Blumenrock, die Olivia schon früher gesehen hatte, überholte sie auf ihrem Fahrrad. Jetzt im Vorbeiflug sah Olivia, dass sie kurzgeschnittene rote Haare hatte und ihrer äußeren Erscheinung zum Trotz schon älter war, an die Sechzig, könnte sein. »Wer ist das?«

»Sie sitzt oft am Postschalter im Dorfladen und wenn sie das nicht tut, radelt sie durchs Dorf. Vielleicht trägt sie Telegramme aus.«

»Heutzutage? Vielleicht. Vielleicht ist das Leben auf dem Lande unveränderlicher als man glaubt.« Olivia wunderte sich jedenfalls.

Sie überquerten die Straße, die nach Norden durch den Wald, in dem das Internat lag, nach Sissinghurst führte. Kurz darauf bogen sie nach links in eine schmale Fahrstraße ein, die in ein Wäldchen verschwand. Wie an den Waldrand geschmiegt stand hier ein kleines Haus, schwarz-weiß und mit bleiverglasten Fenstern, umgeben von einem schwarz gestrichenen Zaun, der Garten angefüllt mit Farnen und Gräsern, im Sommer blühten sicherlich Blumen in den Zwischenräumen. Es schien bewohnt zu sein, der Schornstein rauchte. Hinter der nächsten Kurve gab der kleine Wald den Blick auf das weich gewellte Weideland frei. In einer Mulde lag das alte Tudorhaus. Olivia erkannte es sofort. Raymund hatte mehr als recht! Es musste einem einfach gefallen.

»Zwick mich!« murmelte Susan leise. Die beiden jungen Frauen waren inzwischen über anfängliche Förmlichkeiten hinaus. »Das ist wie aus einer alten Geschichte ›Es war einmal…‹« Langsam folgten sie der schmalen Straße. Dabei sahen sie immer wieder einen Teil des Hauses, doch allmählich immer weniger und nichts vom Garten. Das Schild ›Gästezimmer‹ nahmen sie als Aufforderung, in den Privatweg abzubiegen. Durch ein schwarz gestrichenes Holztor kamen sie an der Rückseite des Herrenhauses in einen dreieckigen Hof, rechterhand von einem langgestreckten Stallgebäude begrenzt und geradeaus von einer Gartenmauer. »Und nun?«

Susans enttäuschtes Gesicht hätte Olivia fast gerührt, doch dazu war sie zu spürbar auf dem Kriegspfad. »Wir scheinen den Hintereingang genommen zu haben, warum auch immer ›Gästezimmer‹ daran steht. Schließlich wird Lady Cardoon nicht den Stall vermieten.« Ein gleiches Schild fand sich ungefähr dreißig Meter weiter an einem Fußweg zwischen einer Hainbuchenhecke. Er führte zu einer schwarzen Gartenpforte, hinter der sie einen ersten Blick auf den Garten werfen konnten. Buchsbaumumrahmte Blumenbeete beherrschten den Eindruck. In den Beeten regte sich der Frühsommer. Susan begrüßte in ihrer Begeisterung jede Osterglocke, die im Verblühen noch über den Rand eines Beetes winkte, Olivia ließ derweil ihre Augen möglichst unauffällig über die Fenster gleiten. Es war nichts und niemand zu bemerken. Ein lautes Quaken schreckte sie beide aus ihren Betrachtungen. Laut schnatternd watschelte eine große weiße Ente auf dem schmalen Pfad zwischen den Buchsbaumbegrenzungen von der Hausecke heran. Zielstrebig steuerte das Tier auf die Pforte zu und baute sich laut rufend vor den beiden Friedensstörerinnen auf. Fassungslos starrte Susan das aufgeregte Tier an: »Ist das nun Jemima Puddleduck oder ihre Cousine Rebecca? Was meinst du?«

»Frag sie mal«, schlug Olivia vor. Im gleichen Augenblick sah sie einen Mann in Arbeitskleidung um die Ecke schlurren, dessen faltiges Gesicht sie an eine Luftaufnahme der Alpentäler denken ließ. Sein Alter zu schätzen, war hoffnungslos. Konnte sein, dass er kurzsichtig war, jedenfalls hellte sein Blick sich erst auf, als er nah herangekommen war. Die freundliche Begrüßung quittierte er mit einer ruhigen Bewegung seiner Hand über den weißen Entenkopf. Ein letzter Schrei aus voller Kehle, dann schloss das Tier den Schnabel und senkte den Kopf.

»Wir versuchen gerade zu erraten, welche Stauden hier aus der Erde kommen und wie schön alles in wenigen Wochen aussehen wird«, erweiterte Olivia die Begrüßung.

»Ja, ganz richtig, das sind alles Stauden. Die alte Lady hat sie gesetzt.«

»…und sie sind durch gute Pflege auf dem Weg zur Unsterblichkeit…«

»So ungefähr. Ich teile sie halt immer wieder mal und nehme die alten Teile dabei weg, gebe den Wurzelstöcken neue Erde… wie das so geht… aber ich verändere damit nichts, da haben Sie schon recht.« Er räusperte sich: »Die jetzige Hausherrin ist nicht da und auch sonst niemand. Wenn Sie wollen, kommen Sie herein, ich zeige ihnen den Garten.«

»Aber…«, Susan fuhr ein wenig zurück, »das geht doch nicht.«

»Doch, geht. Ist in gewisser Weise auch mein Garten, ich pflege ihn schon ewig. Und eine solche Pracht muss man mit anderen teilen, jedenfalls wenn es die anderen auch freut… und so sehen Sie mir aus.« Er schlurrte zwei weitere Schritte vor und entriegelte die Pforte: »Bitte sehr, meine Damen. Joe, du übernimmst die Nachhut.« Sorgfältig sicherte er hinter ihnen die Pforte und übernahm die Führung. Die Ente, die scheinbar ein Enterich war, watschelte am Schluss. So bewegte sich der Gänsemarsch, oder besser der Entenmarsch, auf dem schmalen Pfad zwischen dem Buchsbaum.

Die Führung an den zahllosen Beeten entlang war so ausführlich, wie nur ehrliche Begeisterung sie zuwege bringt. Der alte Gärtner spürte sie in den vielen Fragen Olivias. »Wenn ich mich umschaue«, sinnierte sie endlich, »müsste Ihre Herrschaft Roses oder Cardoon heißen oder eine der beiden Blumen schmückt wenigstens das Familienwappen.« Abwartend sah sie ihn an.

»Was Sie nich’ sagen… keine Ahnung von einem Wappen. Aber Cardoon heißt die Familie wirklich. Die jetzige Besitzerin ist auch stolz darauf. Sie hat die vielen verschiedenen Distelarten gepflanzt. Zwischen all den Margeritenstauden sehen sie im Hochsommer auch wirklich gut aus. Hätte ich gar nich’ so gedacht… früher hatten wir nie welche, wissen Sie. Dort hinten«, er zeigte auf eine Art Gartenpavillon, der die Nordwestecke des Gartens markierte, »wachsen die größten. In guten Jahren werden die Pflanzen an die zwei Meter hoch und bekommen viele dunkellavendelfarbene Blüten, ein bisschen so wie die von Artischocken. Zusammen mit dem silbernen Laub sieht das schon gut aus… eigenwillig… aber gut.«

Olivia ging ein wenig näher. Ratlos sah sie ihren Führer an: »Aber dann blockieren die Pflanzen diese Gartenecke völlig… ist das so?«

Er räusperte sich, möglicherweise ein wenig unbehaglich, war ihr vager Eindruck, bevor er sich einen Ruck gab: »Wissen S’e, das dahinter ist das Familiengrab. Dort sind die Urnen von all den toten Cardoons… auch von den Eltern der jetzigen… und dort wird sie auch einmal enden.«

»Ach du lieber Himmel!« entfuhr es Olivia. »Entschuldigung«, bat sie gleich im Anschluss, »aber das frappiert mich etwas.«

Der alte Diener nickte verständnisvoll: »Iss so, aber eigenwillig, das auch… iss nun mal Tradition. Aber schauen Sie«, jetzt zeigte er zur Südwestecke, »der Pavillon dort ist den ganzen Sommer hindurch mit roten Rosen überwachsen, so vielen, dass man den Sommer hindurch eigentlich nirgend woanders hinschaut. So ist dann alles in Ordnung. Ich zeig’s Ihnen später mal, wenn Sie wollen.«

Susan nutzte diesen gastfreundlichen Ausblick, um sich zu bedanken und zu verabschieden. Olivia folgte ihr, nachdem sie mit ihrem Dank an den alten Gärtner die Bitte verbunden hatte, in einigen Wochen wiederkommen zu dürfen.

Als der Weg sich hinter einem weiteren kleinen Stück Wald zwischen die offenen Weiden senkte, fand Susan endlich ihre Sprache wieder: »Es gibt entschieden merkwürdige Züge an diesem Landstrich.«

»Du magst Gräber einfach nicht, nicht wahr?« Susan schüttelte den Kopf. »Die Gräber nicht oder die Toten?«

»Wo ist da der Unterschied?« Susan schlang die Arme um ihren Oberkörper.

»Im einen Fall sind es einfach Gegenstände: Urnen mit Asche gefüllt. Im anderen Fall irgendeine Form von Gegenüber, könnte ich mir denken…«

»Du meinst, weil ich gestern gesagt habe, die Toten können uns vielleicht hören? Dass das auf die Asche nicht zutrifft… ich weiß es nicht… Ich finde diese Totenecke jedenfalls ziemlich gruselig. Stell dir mal vor, du sitzt an einem schönen Sommertag auf der Terrasse – im Angesicht der Toten. Was immer du im Garten tust – im Angesicht der Toten. Und selbst im Haus, am Abend, wenn du drinnen die Lichter anzündest, anschaltest, was immer, von draußen der Blick der Toten. Sie sind immer da und du weißt von ihnen eine ganze Menge, schließlich sind sie alle deine Verwandten. Sicher fängst du irgendwann an, mit Ihnen zu reden, in Gedanken natürlich, aber doch. Das kann nicht gut sein, nicht für das Leben!«

Die nächsten vielen Meter schwiegen beide. »Hast du in Indien viele Tote gesehen?« nahm Olivia den Faden behutsam auf.

Überrascht sah Susan sie an. »Ja, sicher. Dort ist der Tod Teil des Lebens. Viel wirklicher als hier in England. Aber Indien ist weit weg. Es liegt hinter mir.«

Jetzt wechselte die Überraschung zu Olivia: »So schnell? Wie geht das?«

»Es ist einfach passiert. Als ich das Haus betrat. Tante Delias Anwalt hatte mir die Schlüssel gegeben, in London. Ich stand ein paar Atemzüge lang in der offenen Tür und schaute mich um. Dann schloss ich die Haustür. Als ich mich danach wieder umdrehte, schien das Haus mich zu begrüßen. Seitdem haben wir ein schweigendes Übereinkommen: Ich sorge mich um das Haus und im Gegenzug wird es mir immer Geborgenheit geben. Das, was ich nie hatte.«

»Redest du mit deiner Tante, im Geiste, meine ich?«

»Nein, das nicht. Ich frage mich manchmal, was sie jetzt an meiner Stelle täte, aber das ist etwas anderes. Tante Delia ist nicht mehr da. Das Haus ist ganz meines. Sira sagte das auch schon.« Viele Meter später fuhr sie fort: »Tante Delia war immer ein Gegenüber, eine Gesprächspartnerin, die Ratschläge gab, half Vorstellungen zu besichtigen, Ideen zu entwickeln. Nie hätte sie die Entscheidung beeinflusst. Sie ließ mich immer völlig frei. Und so ist ihr Haus jetzt das meine, da sie es nicht mehr bewohnen kann.«

In einem Bogen gelangten sie, dieses Mal aus der anderen Richtung, zu dem weißen Farmhaus mit den grünen Fensterläden in dem großen Garten. In ihm ging eine alte Frau mit zwei Stöcken langsam spazieren. Susan begrüßte etwas später Mrs Mellings Esel. Langsam und schweigend stiegen sie nach Howlethurst hinauf. In dem Wäldchen unterhalb der Kirche begegneten sie Mrs Melling selbst. Sie trug ein Netz mit Lebensmitteln, wie Olivia es seit Kindertagen nicht mehr gesehen hatte. Es funktionierte einwandfrei. Susan übernahm die Vorstellung.

»Sie sind also die Nichte von Mr Fisher?« Mrs Mellings Interesse war nicht zu übersehen.

»Eine Nichte«, korrigierte Olivia.

Der musternde Blick wurde aufmerksamer: »So, ja dann… Wir treffen uns sicher wieder.« Sie nickte beiden zu und ging an ihnen vorbei den Hang hinunter. Susan wunderte sich offensichtlich, aber sie schwieg. Sie waren den Toten und den Lebenden für ihren Geschmack wieder zu nah gekommen.

Ein stilles Dorf in Kent

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