Читать книгу Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag - Gerhard Ebert - Страница 10
8. Blitze aus heiterem Himmel
ОглавлениеKaum hatte man sich in der Stadt irgendwie mit der amerikanischen Besatzung abgefunden, machte das Gerücht die Runde, die Russen würden kommen. Uwe hatte zwar von martialischen Nazi-Plakaten über eine angebliche bolschewistische Gefahr nicht viel gehalten, aber ein bisschen mulmig wurde ihm doch bei dem Gedanken, den „roten Untermenschen“ ausgeliefert zu werden. Auf gar keinen Fall bei den Russen landen wollte Tante Betty. Entschlossen packte sie ihre Habe, obwohl sie in Bremen ja ausgebombt war, und der Rest ihrer Möbel im Hause ihres Bruders stand.
Uwe schien diese Flucht vor den Russen etwas kopflos. Bei der Gelegenheit wurde ihm wieder bewusst, wie sehr er seine Tante verehrt hatte. Seine Zuneigung hatte allerdings nachgelassen, nachdem sie ihm keine Chance mehr geboten hatte, ihre so verführerischen Brüste zu bewundern. Als Tante jetzt ihre Absicht verkündete, alsbald nach Bremen zu verduften, löste das bei Uwe keinerlei Bedauern aus. Vielleicht lag es auch daran, dass er längst begriffen hatte, dass eine Tante für seine wachsende Sehnsucht nach einem weiblichen Wesen nicht das geeignete Objekt war. Abschied denn also, Lebewohl!
Tatsächlich, das Gerücht stimmte! Die Amerikaner zogen mit ihren Jeeps und Panzern über die Zwickauer Mulde ab, und schon einen Tag später marschierte aus dem Osten kommend ein Trupp Russen heran. So ganz und gar finster sahen sie nicht unbedingt aus, eher müde und erschöpft. Aber wie alle Nachbarn hielt auch Uwe gebotenen Abstand und beäugte alles aus gebührender Entfernung. So viel kriegte er mit: Der Trupp nahm in der nahen Kaserne Quartier. Das einzige Gefährt, über das die Sieger verfügten, war ein klappriger Panjewagen mit zwei Gäulen davor, die ziemlich ausgehungert schienen. Bald stellte sich allerdings heraus: Es war nur der Vortrupp gewesen.
Über Nacht kam die Rote Armee sozusagen echt. Uwe wurde aus dem Schlaf gerissen. Das Haus bebte. Draußen auf der Straße erscholl ein gewaltiger Lärm. Uwe machte das Fenster auf und schaute vorsichtig hinaus. Panzer! Riesige finstere Kolosse ratterten in der Dunkelheit. Gespenstig! Gnade jedem Haus, wenn die Monster vom Kurs abkamen. Niemand wagte, Licht zu machen oder gar auf die Straße zu gehen. Aber alle Nachbarn waren hellwach. So zwanzig, gar wohl dreißig Panzer tobten lärmend vorbei. Dann war Ruhe, unheimliche Ruhe.
Am nächsten Morgen schien nichts geschehen. Was nicht stimmte. Die Straße, auf der die Ungetüme gekommen waren und deren Asphalt sich sowieso nicht im besten Zustand befunden hatte, war aufgewühlt und zur Minna gemacht. Nachbarn regten sich auf. Aber Vater bemerkte beim Abendbrot ruhig, das sei alles keiner Aufregung wert, weil mit barbarischem Krieg nicht zu vergleichen. Tatsächlich: Die Familie war heil davongekommen, man hungerte zwar, war aber einigermaßen gesund. Nur das zählte! Und das bedeutete: Man konnte sich für das Leben interessieren. Was Uwe vielleicht gar nicht so bewusst geworden wäre, wenn er nicht eines Tages ein Erlebnis gehabt hätte, das ihm bislang noch nie widerfahren war.
An Uwe ging eine junge Frau vorbei! Einfach so! Eigentlich und wirklich nichts Ungewöhnliches. Doch die Erscheinung just dieses bestimmten Fräuleins traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Unfassbar! Eine Welle bislang unbekannter Emotion schoss ihm plötzlich heiß und gewaltig durch alle Glieder, ohne dass er sich irgendwie hätte wehren können. Was er übrigens weder gewollt noch getan hätte, denn es war ein unheimlich berauschendes Gefühl von kribbelnder Aufgeregtheit. Dass es so ganz und gar unerwartet aufwallen konnte, war so phantastisch wie rätselhaft. Beinah hätte er in seiner totalen Verwirrung versäumt, sich umzudrehen und der Unbekannten, die solche Erregung auslöste, noch schnell nachzusehen. Was groteskerweise neue Verwirrung auslöste.
Die Unbekannte, die soeben an ihm vorübergegangen war, hatte nämlich Beine, die nach seiner damaligen Auffassung ganz und gar nicht als ideal anzusehen waren. Sie schienen irgendwie krumm, jedenfalls nicht echt gerade gewachsen. Nur leicht krumm zwar, aber eben irgendwie krumm. Jedenfalls glaubte Uwe, dies trotz seiner Verwirrung deutlich mitbekommen zu haben. Es schien ihm, als hätte die Unbekannte sozusagen minimal O-Beine, die Uwe eigentlich und grundsätzlich bei Frauen gar nicht mochte. Das hatte sich nun einmal so entwickelt im Rahmen seiner von der Phantasie immer wieder neu ausgefertigten Vorstellung von einer ideal schönen Frau.
Dennoch diese beispiellose Erregung! Was war passiert? Uwe fand seine Fassung nicht wieder. Wie konnte ihn ein völlig unbekanntes Fräulein dermaßen aufregen, ihn urplötzlich geradezu in Wallung bringen, das zweifellos unmerklich, aber eben O-Beine hatte! Lag es vielleicht an der Art, wie sie mit diesen ihren O-Beinen lief? Tatsächlich. Wie sie sich bewegt hatte, so wiegenden Schrittes und schlaksig zugleich, das war vermutlich das Aufregende. Jedenfalls für Uwe. Ihr Schritt war nicht majestätisch gewesen, auch nicht stolz und gravitätisch. Ein bisschen schlurfig vielleicht. Rätselhaft!
Zu Hause verzog sich Uwe in seine Bodenkammer, warf sich aufs Bett und starrte an die Decke. So sehr er sich bemühte, sich an das Gesicht der Unbekannten zu erinnern, es misslang. Nicht die Spur ihres Antlitzes ließ sich in der Vorstellung entwerfen. Uwe konnte das nicht fassen. Schließlich war da ein lebendiges junges Weib an ihm vorbeigegangen. Dessen Erscheinung musste sich doch erinnern lassen! Vergebens. Nur diffuse Schemen formten sich vor seinem geistigen Auge.
Uwe erhob sich, eilte die Treppe hinab und hinaus auf die Straße. Die Hoffnung, diesem seltsam erregenden Frauenzimmer per Zufall noch einmal zu begegnen, trieb ihn durch die halbe Stadt. Vergebens. Bis in winklige dunkle Gassen der Unterstadt verschlug es ihn, wo ihm nie so ganz geheuer war, weil da irgendwelche Rüpel einfach so aus Übermut oder gar mit ärgerlichen Absichten über einen herfallen konnten. Gar nicht auszudenken, wenn die Unbekannte aus dieser Gegend stammte. Wie sollte er da Kontakt kriegen? Und Kontakt, Kontakt irgendwie, das schien ihm, müsste er wenigstens versuchen.
Langsam, ganz langsam wurde er wieder Herr seiner Sinne. Immerhin, sagte er sich einigermaßen gerührt, gibt es also in dieser rund 30000 Einwohner zählenden Kleinstadt ein junges Fräulein, das, obwohl es nur einfach an ihm vorbeiläuft, ihn völlig außer aller Fassung bringt! So dramatisch, dachte er, sich schon wieder erregend, beginnt vielleicht die wahre Liebe. Neue Aufregung überfiel ihn. Liebe! Sollte die so über einen hereinbrechen? Schließlich war er lediglich ganz arglos auf einer Straße daher gegangen.
Ein nettes Mädchen zum Plaudern, gar Küssen und vielleicht und hoffentlich sogar noch mehr hätte er schon wirklich gern gehabt. Aber bisher hatte er immer gedacht, dass er als Mann aussuchen und auswählen muss, etwa bei den hübschen Verkäuferinnen in der Hauptstraße. Man muss auf die Ausgespähte warten, bis sie Dienstschluss hat, ihr dann folgen und sie irgendwie ansprechen. Den Versuch hatte er allerdings noch nicht gemacht. Die eine oder die andere hätte ihm schon gefallen, doch er war stets zu feige gewesen.
Wenn er jetzt darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass er als Mann aktiv werden musste. Sonst würde er wohl immer allein bleiben. Aber wenn nun plötzlich auf der Straße die "Eigentliche" vorbeikommt? Eine Frau, die zwar überhaupt nicht dem sorgsam gehegten Ideal entspricht, dem man unbedingt nachlaufen würde, die einen aber dennoch entgegen eigener Absichten erregt und völlig aus der Bahn wirft?
Erschöpft vom Fußmarsch durch die Straßen kehrte Uwe nach Hause zurück. Stumm setzte er sich zu Tisch und aß das karge Abendbrot, das die Eltern für ihn hatten stehen lassen. Jeder neugierigen Frage, die sich vor allem Mutter nicht verkneifen konnte, wo er denn so lange gewesen sei, wich er aus, dann verzog er sich wieder in seine Kammer.
Es begann eine qualvolle Zeit. Manchmal hielt er seine unerfüllte Sehnsucht nach einem völlig unbekannten Mädchen für total übertrieben. Je länger er darüber nachdachte, desto grotesker schien ihm die Welt eingerichtet. Da lief einem ein Mädchen über den Weg, das zwar, zugegeben, nicht seinem Wunschbild entsprach, das aber ungeahnte, bisher völlig unbekannte Empfindungen in einem auslöste. Warum das?
Und dann: Weshalb lief das Mädchen so einfach an einem vorbei? Hieß das, dass er ihr offenbar völlig schnuppe war? Gewiss. Anders konnte es gar nicht sein. Obwohl, auch er war ja weitergegangen, anstatt prompt kehrt zu machen, dem Mädchen nachzugehen und ihm einfach zu sagen: "He, hör zu, so plötzlich das auch kommt und so närrisch es sein mag: Du gefällst mir!" Vielleicht hätte sie blöd geguckt, ihn einen Spinner genannt oder so etwas Ähnliches, und er wäre gedemütigt abgezogen. Aber vielleicht hätte sie auch gesagt: "Oh, Junge, prima, dass du den Mut hast, du gefällst mir auch!" Dann wären sie gemeinsam weitergegangen, und eine große Liebe hätte ihren Lauf genommen. Wenn! Ja, wenn das Wörtchen wenn nicht wäre!