Читать книгу Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag - Gerhard Ebert - Страница 12
10. Kein Feuer, keine Kohle
ОглавлениеSobald Gelegenheit war und Zeit dafür, streifte Uwe auf der Suche nach der großen Unbekannten durch die Straßen seiner Heimatstadt. Erfolglos. Aber: Unerwartete Überraschung, als er faulenzend zu Hause aus dem Fenster guckte.
Eigentlich war das langweilig, nur so aus dem Fenster zu schauen, aber in der Kleinstadt ein beliebter Brauch. Irgendwie war es eine Abwechslung. Man sah diese oder jene, die unten auf der Straße lang kamen und die man kannte. Wenn es Nachbarn waren, musste man artig "Guten Tag" sagen. Manche Leute kamen immer wieder zu ganz bestimmter Zeit daher. Nur selten geschah wirklich etwas Außergewöhnliches. Aber diesmal!
War doch plötzlich ein weibliches Wesen um die nahe Ecke gebogen, das ihm mit seinem wiegenden, lockeren Schritt prompt das Blut pochend durch alle Adern jagte. Das geschah unabwendbar und unfassbar, noch bevor er wirklich genau hatte sehen können, dass es sich tatsächlich um das Fräulein handelte, das ihm nun schon seit Wochen überhaupt nicht wieder aus dem Kopf ging. Von innerer Erregung erfasst, doch irgendwie instinktiv ein bisschen ins Fenster zurückgeduckt, sah er alsbald deutlich: Es war sie! Eindeutig! Ja! Ja! Es war sie! Da schritt sie hin, kam näher.
In Uwes Kopf wirbelten die Gedanken, überschlugen sich geradezu. Sollte er so ausgesprochen demonstrativ am Fenster bleiben? Sie ging drüben auf dem Fußsteig, musste ihn also nicht unbedingt gesehen haben. Sollte sie aber doch, was durchaus wahrscheinlich war, würde von ihr als eine Reaktion gewertet werden, wenn er jetzt vom Fenster wegging. Sie konnte es als Desinteresse auslegen, auch als Feigheit. Das wollte er vermeiden.
Andererseits: Gar schnell und also einigermaßen kopflos auf die Straße und zu ihr zu eilen, verbot sich. Was hätte er sagen sollen? Bestimmt wäre nur irgendetwas Blödes herausgekommen. Ja, wenn er tollkühn wäre, so ein richtiger Casanova wie im Kino! Außerdem, wurde ihm klar, hatte er verschlissene Hausschuhe an, und darin irgendwelche Annäherung zu beginnen, wäre nichts als absurd und lächerlich gewesen. Seine Gedanken überstürzten sich. Und sie lief dahin unten auf der Straße, schaute nicht einen Moment hoch zu ihm und war vorbei.
Aussichtslos an so eine Frau heranzukommen! Uwe blickte ihr verzweifelt nach, bis sie oben am Ende der Straße um die Ecke bog. Er konnte also nicht einmal feststellen, in welche Haustür sie gehen würde. Das wäre eine Chance gewesen, ihr vielleicht näher zu kommen. Er hätte ausspionieren müssen, ob sie etwa gar dort wohnt, oder wen sie besucht. Jetzt war nur die Möglichkeit zu warten für den Fall, dass sie und ob sie zurückkommt. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Schon schmerzten die Ellenbogen vom Aufstützen auf dem Fensterbrett. Schließlich wurde Mutter ungeduldig. Er ahnte, was sie dachte. Statt ihr bei der Vorbereitung des Abendbrotes ein bisschen zur Hand zu gehen, trödelte er nichtsnutzig herum. Draußen dunkelte es bereits.
"Was ist?" fragte Mutter plötzlich hinter seinem Rücken.
Was sollte sein? Uwe hatte keinen Grund, seinen Kopf noch länger zum Fenster hinaus zu stecken. Jedenfalls keinen, den er Mutter hätte mitteilen können. Also schloss er schweren Herzens das Fenster und half still und in sich gekehrt, den Tisch zu decken. Dass ihm dabei ein Teller herunterfiel, der in viele Stücke zersprang, war für Mutter einmal mehr das Zeichen, dass ihr verträumter Sohn fürs Lebenspraktische offenbar nicht so recht taugte. Und Uwe empfand diese zusätzliche Demütigung vom Schicksal besonders schoflig.
Lassen sich die menschlichen Geschicke überhaupt zwingen? Uwe bezweifelte das immer heftiger. Warum musste einen ein völlig unbekanntes Mädchen so ganz und gar aus dem Gleichgewicht bringen? Und wenn, dann wäre es doch - schicksalsmäßig gesehen - nur recht und billig, wenn's bei dem Mädchen auch irgendwie einschlägt. Wozu sonst die ganze Aufregung?
Das stand für Uwe inzwischen fest: Diese kleine Hübsche hatte, als sie unbeschwert die Straße lang ging, auch nicht ein bisschen zu ihm hochgeschaut. Offen war allerdings, auch das stand fest, ob sie ihn nicht vielleicht doch gesehen, es aber bewusst vermieden hatte, es ihm zu zeigen. Und überhaupt! Wieso bildete er sich ein, dass dieses Mädchen irgendein Auge für ihn haben könnte! Schließlich war er ihr ja völlig unbekannt!
Einige Zeit später schien das Schicksal Uwe denn doch ein klein wenig mehr gewogen. Aber wirklich nur ein klein wenig! Und eigentlich machte es alles nur noch komplizierter. Im Einkaufstrubel der Hauptstraße erblickte er nämlich plötzlich seine heimlich Angebetete. Doch nicht allein! Sie lief munter plaudernd mit einem jungen Mann, den er mit Entsetzen als seinen Freund Günter erkannte. Prompt schlug ihm das Herz gnadenlos bis in den Hals. Was nun?
Erst einmal heimlich hinterher! Das war das Mindeste. Und sich nicht entdecken lassen. Auch klar. Und während Uwe erst einmal möglichst geschickt wie ein Detektiv hinterherlief, überlegte er fieberhaft, wie er sich verhalten sollte. Immerhin gab es zum Beispiel die Möglichkeit, die beiden Bummler einzuholen und Günter betont nebenbei zu begrüßen. Was vielleicht helfen könnte herauszubekommen, ob da gar eine enge Freundschaft im Gange war. Eine Freundschaft? Waren die beiden etwa fest zusammen?
Schon der Gedanke löste bei Uwe ein Gefühl aus, das er bisher nicht kannte, das ihn aber übermächtig ergriff. Eifersucht! So unmäßige Erregung konnte nur Eifersucht sein. Uwe begriff, dass er in solch unerhörter Erregung unmöglich vor die beiden treten konnte. Er hätte sich auffällig so dämlich benommen, dass Günter wahrscheinlich gefragt hätte, ob ihm etwas fehle. Und die kleine Hübsche hätte wahrscheinlich sogar irgendetwas geahnt und still und vielleicht sogar boshaft in sich hinein geschmunzelt. Nein, solch eine Niederlage durfte er sich nicht zufügen.
Uwe entschied, die beiden zunächst einmal weiter zu verfolgen. Was nicht so einfach war. Einmal, ganz plötzlich, wäre beinahe alles schief gegangen. Günter drehte sich nämlich überraschend um und kam ihm entgegen. Offenbar hatte er etwas vergessen, war an einem Geschäft vorbeigelaufen, wo er eine Besorgung hatte machen wollen. Und die Kleine lief nicht etwa weiter, sondern machte mit ihm kehrt. Zum Glück fand Uwe hinter einer Litfaßsäule Deckung.
Fast war er jetzt entschlossen, das Versteckspiel zu beenden und aufs Ganze zu gehen. Was sollte schon geschehen, wenn er, den Ahnungslosen spielend, auch in das Porzellangeschäft gehen würde, in dem die beiden eben verschwunden waren? Aber Uwe fand so schnell nicht den Mut. Noch bevor er sich zu dem Schritt durchgerungen hatte, tauchten die beiden wieder auf der Straße auf. Jetzt hakte sie sich auch noch bei ihm ein! Uwe ließ alle Hoffnung fahren. Diesen ersten Fall ernsthaften Interesses für eine Frau musste er wohl ad acta legen. Jedenfalls rein büromäßig gesehen. Ob sich Gefühle allerdings so einfach kommandieren ließen, musste er noch ausfinden
Schon redete er sich ein, dass im Grunde noch alles offen sei, so intim die beiden auch taten. Weswegen er sie weiter verfolgte. Es konnte kein Fehler sein herauszubekommen, wo die Schöne wohnt. Und seinem Freund Günter würde er nicht die leiseste Möglichkeit geben etwa anzunehmen, er, Uwe, interessiere sich für das Mädchen. Nicht, weil er dem Freund ungern in die Quere kommen wollte, sondern weil der nicht unbedingt wissen sollte, dass er, Uwe, sich ausgerechnet in dessen Freundin verliebt hatte. So trottete er denn hinter den beiden her und haderte mit sich und der Welt.
Ein enger Freund war Günter nicht. Uwe hatte überhaupt keinen engen Freund, von losen Schulkameradschaften mal abgesehen. Zu Günter hatte Uwe Kontakt, weil ihre Väter Arbeitskollegen waren. Und weil ihre Eltern sich gelegentlich trafen, auch mal Silvester gemeinsam feierten, hatten eben auch die beiden Jungs Kontakt miteinander bekommen, der aber recht lose geblieben war. So wusste Uwe zwar, und das machte ihn neidisch, dass Günter sehr geschickt war im Verführen von Mädchen, aber er wusste nicht, wie weit solche Verführung zu gehen pflegte. Meist war das gewiss nur so etwas wie ein Flirt, eine Liebelei oder so.
Das war nun schon gar nicht nach Uwes Geschmack. Herum tändeln, davon hielt er nichts. Mit einer Frau nur so spielen, das fand er verachtenswert. Wobei er mangels Erfahrung ganz und gar nicht wusste, wo das Tändeln aufhörte und wahre Liebe anfing. Kurzum, er war im Vergleich zu Günter, der immerhin zwei Jahre älter war, ein unerfahrener kleiner Junge. Was ihn natürlich wurmte, weswegen er zu enge Freundschaft mied.
Er, Uwe, wäre nur immer der doofe Zuschauer gewesen, der erleben musste, wie der andere herumknutscht. Einmal zu Silvester war ihm das passiert, und das reichte ihm. Er war einer Einladung Günters zu einer Party gefolgt, und im Ergebnis hatte er zusehen müssen, wie sein Freund mit einer Hübschen schöntat und noch vor Mitternacht davonzog. Er aber hatte, noch des Tanzens unkundig, nur in einer Ecke gehockt und Trübsal geblasen. Nun also schlich er hinter diesem Günter her und musste immer wieder mit ansehen, wie oft sich die Kleine vor Lachen ausschüttete. Günter schien sie glänzend zu unterhalten.
So oft Uwe nahe daran war, die Verfolgung sein zu lassen und auf die beiden zu pfeifen, so oft trieb ihn denn doch die Neugier weiter voran. Zumal es nicht irgendwohin ging, sondern zur Oberstadt, dorthin, wo Uwe und Günter wohnten. Wobei die heimliche Verfolgung immer schwieriger wurde. Zunächst, als sie noch durch den Park gingen, konnte er sich relativ gut verborgen halten. Meist standen irgendwelche Büsche am Wege, hinter denen er in Deckung blieb. Dann aber war nur noch die nackte Straße, kein Baum, kaum mal ein Passant als Schutz. Also musste Uwe weit zurückbleiben, um nicht gesehen zu werden.
Als das Pärchen, traulich Händchen in Händchen, plötzlich in eine Seitenstraße einbog, schien alles verloren. Uwe rannte los – und konnte gerade noch sehen, wie Günter mit der Unbekannten in einer Haustür verschwand. Was er nicht sehen konnte: Beide waren nur auf die Treppenstufen getreten, die zur Tür hinaufführten, und schwätzten munter weiter. Als Uwe hastig und eigentlich kopflos bei der Tür ankam, weil er wenigstens sehen wollte, um welche Hausnummer es sich handelte, sah er beide plötzlich unmittelbar vor sich. Zum Glück waren sie so mit sich beschäftigt, dass sie ihn nicht wahrnahmen. Uwe war just in dem Moment aufgekreuzt, als sein Freund Günter das offenbar willige Fräulein in die Arme nahm und küsste.
Uwe raffte seine letzte Kraft zusammen und huschte mit weichen Knien vorbei. Hatten sie ihn gesehen? Er wusste es nicht. Und da er nicht im Boden versinken konnte, tat er so, als sei er vorbeigegangen, weil er im naheliegenden Kolonialwaren-Geschäft einkaufen wollte. Zwar war ihm klar, dass Günter wusste, dass Uwe dort nicht einzuholen pflegte, aber das war jetzt gleichgültig. Schon erreichte er die rettende Ladentür und trat ein.
Was wollte er hier? Einkaufen! Einfach irgendetwas! Ah ja, ein Päckchen Zündhölzer aus Riesa musste ihn jetzt retten. Zwar wusste er nicht, wie er zu Hause erklären sollte, warum er sich ohne familiären Auftrag plötzlich für Streichhölzer engagierte, aber irgendwie musste nun einmal gehandelt werden. Gedacht, getan. Der Ladenbesitzer musterte den unbekannten jungen Kunden durch seine Nickelbrille zwar wie einen potentiellen Brandstifter, aber Zündhölzer aus Riesa hatte er selbstverständlich am Lager. Schneller als gedacht stand Uwe wieder auf der Straße.
Erleichterung! Freund Günter hatte sein Rendezvous offenbar beendet. Jedenfalls lief er just davon und erreichte, als Uwe das Geschäft verließ, gerade eine Ecke, um die er verschwand. In aller Ruhe konnte Uwe nun noch einmal zu bewusster Haustür gehen, um zu sondieren. Er fasste sich ein Herz und betrat sogar den Hausflur, um die Namen auf den Briefkästen zu lesen. Aber sie sagten ihm nichts. Meyer, Müller, Schulze. Das Übliche. Uwe war nicht klüger als zuvor. Niedergeschlagen verließ er das Haus.
Immerhin wusste Uwe jetzt genau, wo seine Angebetete wohnt. Der dicke Wermutstropfen allerdings: Die Hübsche, die ihn so verzauberte, hatte einen Liebhaber! Und der war ausgerechnet sein Freund Günter.
Ziemlich trostlos schlich Uwe nach Hause und saß alsbald wieder einmal wortlos und in sich gekehrt am Abendbrottisch. Weshalb er sich von Mutter einen leisen Rüffel einhandelte. Die blöden Zündhölzer hatte er vorsorglich in seine Kammer geschmuggelt; er würde sie schon irgendwann irgendwie dem häuslichen Vorrat zuordnen. Mit wem aber sollte er über seinen schlimmen seelischen Kummer sprechen? Etwa mit den Eltern? Nie im Leben. Das alles ging nur ihn etwas an. Also schwieg er beim Abendessen beharrlich in sich hinein. Und sobald es schicklich schien, verkroch er sich in seine Kammer.
Uwe hatte Liebeskummer. Alsbald wurde es gewiss. Bei Goethe stieß er auf einen Vers, der ihn nicht wieder los ließ. Hieß es doch da: "Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß, wie heimliche Liebe, von der niemand weiß." Genau! Das war sein Problem! Olle Goethe kannte sich aus.
In Uwe brannte ein Feuer, und das hieß heimliche Liebe. Es musste unbedingt heimlich bleiben! Aber das fiel sehr, sehr schwer, weil er sein Geheimnis wie eine schwere Bürde mit sich herumschleppte, die sich überhaupt nicht ablegen ließ und ihn so drückte, dass zumindest Mutter spürte, wie er litt. Er war ihr echt dankbar, dass sie ihn in Ruhe ließ. Er kam im Moment einfach nicht mit sich ins Reine. Uwe hatte sich nämlich zwar vorgenommen, diese Hübsche, die einen anderen hatte und sogar in aller Öffentlichkeit küsste, einfach aus seinem Leben zu tilgen, aber das klappte nicht.
Unverhofft kam Uwe das Schicksal zu Hilfe. Wenigstens was den Namen der Hübschen betraf. Während einer seiner unruhigen Bummel-Touren durch die Hauptgeschäftsstraße entdeckte er die Angebetete, wie sie allein und offenbar gelangweilt geruhsam von Schaufenster zu Schaufenster schlenderte, obwohl so wahnsinnig Interessantes nicht zu schauen war. Sofort schlug ihm das Herz bis in den Hals. Angestrengt überlegte er. Jetzt war die Gelegenheit! Wahrscheinlich jedoch würde er sich ungeschickt anstellen. Aber dann hätte er es wenigstens mal versucht! Und im Trubel dieser Geschäftsstraße würde niemand merken, dass sich da eben ein verliebter Dussel einen Korb eingehandelt hatte.
Uwe überlegte einen Moment zu lange, und schon kam alles anders als gedacht und erhofft. Fast war er schon neben seiner Angebeteten gewesen, nur wenige Schritte hinter ihr, als sie plötzlich von der gegenüberliegenden Straßenseite angerufen wurde.
"Anneliese!" rief ein ihm unbekanntes Mädchen fröhlich, wedelte mit den Armen und eilte auch schon über die Straße.
Aha! "Anneliese!" konstatierte Uwe. Die Gerufene blieb abrupt stehen, er konnte gerade noch ausweichen. Beinahe wäre er mit ihr zusammengestoßen. Schon ärgerte er sich mächtig, dass er diese Gelegenheit nicht genutzt hatte. Günstiger hätte sich ein erster Kontakt nicht ergeben können, sozusagen emotionsgeladen durch einen Aufprall. Schließlich war nicht er, sondern sie plötzlich stehen geblieben. Aber anstatt sich tief bei ihr einzuprägen, indem er kräftig, aber ungewollt auf sie aufbrummte, war er elegant vorbeigehuscht, wahrscheinlich sogar so unauffällig, dass sie das gar nicht mitgekriegt hatte.
Missmutig lief Uwe weiter und blickte verstohlen zum Objekt seiner Begierde zurück. Anneliese, so hieß sie also, setzte inzwischen ihren Bummel mit der Freundin fort. Sie jetzt noch anzusprechen, wenn sie nicht mehr allein war, schien ihm völlig aussichtslos. Er würde sich wahrscheinlich nur lächerlich machen. Immerhin, kleiner Trost: Er kannte jetzt ihren Vornamen.
Schon trieb ihn mächtige Neugier aus Stadtmitte hinaus in die Straße und zu der Haustür, wo im Flur an den Briefkästen Namen prangten. Erregt und ziemlich abgehetzt trat er ein. Aber noch kam er nicht dazu, in aller Ruhe die Namen zu studieren. Ein aufdringlicher Hausbewohner, der just die Treppe herunterkam, erkundigte sich hilfreich, aber im Grunde misstrauisch nach seinem Begehr.
"Danke, danke", sagte Uwe und ergriff erst einmal die Flucht. Ungeduldig lief er die Straße auf und ab, immer in Sorge, diese Anneliese könnte inzwischen auftauchen. Obwohl, warum eigentlich in Sorge? Jetzt, da er ihren Namen kannte, könnte er, wenn sie allein käme, vielleicht mit ein bisschen mehr Aussicht auf Erfolg den Kontakt suchen. Doch sie kam nicht. Nein, sie kam nicht.
Also ging Uwe wieder ins Haus. Diesmal störte ihn niemand. Tatsächlich, er hatte schon fast alle Namen gelesen, dann sah er, was er beim ersten Mal übersehen hatte: An einem Briefkasten stand schlicht "Anneliese", und zwar klein und unscheinbar auf einem Zettel unter dem Schild "August Krause". Das konnte eigentlich nur heißen, dass diese Anneliese noch bei ihren Eltern wohnte und sich offenbar durchgesetzt hatte, auf ihren Namen eigene Post zu empfangen.
Prompt gebar Uwe eine neue Idee, die sofort so mächtig wurde, dass er sogleich an ihre Ausführung ging. Er eilte nach Hause in seine Kammer, wo er auf ein weißes Blatt Papier in Druckbuchstaben schrieb: "Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß, wie heimliche Liebe, von der niemand weiß." Und schon hatte er auch noch "Uwe" darunter gesetzt. Aber diese Leidenschaft hielt er nicht durch. Denn überhaupt: Was war das für eine "heimliche Liebe", die sich zu erkennen gab? Sozusagen eine "unheimliche" Liebe! Nein, das ging nicht. Also nahm er ein neues Blatt und setzte nur den Vers hin. Dann stopfte er seinen geliehenen poetischen Aufschrei in ein Kuvert, verschloss das Ding, schrieb "Anneliese Krause" darauf und eilte auch schon wieder los.
Als der Brief endlich in den leeren Blechkasten plumpste, schien es ihm, als sei sein Herz mit hineingefallen. Plötzlich war ihm klar, dass er soeben eine durch und durch hirnrissige Aktion abgezogen hatte. Aber ihm war merkwürdig leichter. Offenbar war das, was er soeben unsinnig angestellt hatte, das Äußerste, was er im Werben um eine Frau zurzeit zustande brachte.