Читать книгу Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag - Gerhard Ebert - Страница 3
1. Krieg
ОглавлениеUwe hörte die Nachricht zunächst noch ungläubig im Radio. Immer wieder wurde sie wiederholt. Dazu Hitlers schnarrende, geradezu gewalttätige Stimme – mit ein paar Worten, die sich Uwe fürs ganze Leben einprägen sollten: „Seit heute Nacht wird zurückgeschossen!“ Dieses „Zurückgeschossen“ hallte wie ein Schuss im Raum. Es sollte heißen, begriff Uwe, dass nicht die Deutschen, sondern die Polen die Bösewichte seien. Offenbar hatte das irgendwie eine Bedeutung, wer den ersten Schuss abgegeben, wer also mit dem Krieg angefangen hatte. Angeblich also nicht Hitler.
Aber Krieg war Krieg! Was das für die Deutschen eigentlich bedeutete, konnte Uwe nicht im Entferntesten ermessen. Der Neunjährige hatte im Grunde keine Ahnung, nur vage Vorstellungen, alle entstanden aus Erzählungen seines Vaters über dessen Erlebnisse im 1.Weltkrieg. Beispielsweise hatten damals nachts im Schützengraben fürchterliche Metzeleien stattgefunden. Vater war als junger Mann mit gerade einmal achtzehn Jahren eingezogen und sofort an die Front in Frankreich transportiert worden. Nur dank der Erfahrung und Umsicht eines Kameraden, der des Nachts den Feind hatte heran kriechen hören, war er damals davon gekommen. Sie hatten den Franzmann ins leere Schützenloch springen lassen und dann von oben hineingeschossen. Vater erzählte das böse Erlebnis scheinbar gern. Was allerdings irgendwie befremdlich war. Uwe war stets unangenehm berührt. Wie konnte man solch entsetzliches Ereignis aus dem Krieg immer wieder als Lebensbonmot feilbieten! Zumal Vater damals wenig später am Fuß verwundet worden war. Eine Granate hatte eine Ferse arg zugerichtet.
Krieg also! Aufmerksam registrierte Uwe, wie die Menschen reagierten. Tante Luise lamentierte. Auch sie hatte den 1.Weltkrieg erlebt und in gar nicht guter Erinnerung. Eine Hungersnot stünde bevor, klagte sie, und bald würden in der Zeitung die vielen, vielen Todesanzeigen stehen. Mutter schien besonders betroffen. Sie zuckte immer wieder völlig ratlos mit den Schultern und barmte, als ginge die Welt unter.
Als Vater an diesem Tage endlich von der Arbeit nach Hause kam, hatte er offenbar noch einen kurzen Besuch in einer Kneipe gemacht, jedenfalls schien er leicht betrunken. Mutter wagte keine Äußerung, nicht einmal, dass sie ihn vorwurfsvoll anblickte. Offenbar hing Vaters Verhalten mit der Kriegs-Nachricht zusammen. Oder? Uwe war zu neugierig.
„Weißt du schon...?“ fragte er schließlich, kam aber nicht bis zum Ende.
„Lass Vati in Ruhe!“ herrschte Mutter ihn sofort an.
„Hol Bier!“ sagte Vater und drückte ihm den Krug in die Hand. Er schien irgendwie innerlich zu beben, zu zittern, empfand Uwe. Er schwieg, griff zu Krug und Geld und machte sich still auf den Weg zum Gasthaus um die Ecke, wo er gelegentlich für Vater Bier holte und dort, eh der Wirt einschenkte, gern ein bisschen zusah, wenn Gäste Billard spielten. Jetzt war Ruhe, niemand in der Gaststätte. Der Wirt nahm sich Zeit an seinem Zapfer.
„Wie geht’s deinem Vater? Muss er los?“ fragte er plötzlich, während das Bier in den Krug lief.
Uwe erstarrte. Noch eben auf dem kurzen Weg zur Kneipe hatte er gedacht, dass ihn das alles eigentlich wenig angehe. Weil: Für die Soldaten war er nun wirklich zu jung mit seinen neun Jahren. Und der Krieg, so böse er auch sein mochte, musste sich irgendwo in der Ferne abspielen, denn alle Landesgrenzen, wie Uwe schnell anhand einer Karte eruiert hatte, befanden sich im Osten wie im Westen sehr weit weg von seiner Heimatstadt Glauchau. Jetzt diese Frage! Uwe stotterte betroffen, dass er keine Ahnung habe und eilte los. Zu Hause trank Vater sein Bier und untersagte, das Radio einzuschalten. Dann schickte er die Kinder ins Bett. Mutter nahm stumm Bruder Karl an die Hand. Uwe wagte keine Widerrede. Ratlos schaute er Vater an, als er „Gute Nacht“ zu ihm sagte.
„Schon gut!“ erwiderte der und drehte sich ab.
In seiner Kammer und im Bett angekommen, dämmerte es Uwe: Er war sehr wohl betroffen! Und zwar sein Vater. Der war jetzt wahrscheinlich das berühmte „Kanonenfutter“, von dem manchmal vielsagend die Rede war, wenn die Männer beim Bier protzig über ihre Kriegszeit sprachen.
In der Tat. Kaum zwei, drei Tage nach der Kriegserklärung flatterte ein Brief ins Haus, ein Gestellungsbefehl, mit dem Vater aufgefordert wurde, sich am nächsten Tag morgens um neun Uhr mit dem nötigsten Gepäck auf dem Chemnitzer Platz einzufinden. Dieser weiträumige Platz mit Verkehrsinsel und Geschäften ringsum befand sich fast vor ihrer Haustür, nur kurz um die Ecke.
Dorthin zog die Familie am nächsten Morgen zu festgelegter Zeit, um den Vater zu verabschieden, der seit gestern noch wortkarger gewesen war. Und wenn er gesprochen hatte, hatte er immer wieder unvermindert fassungslos wiederholt, dass er doch schon im 1.Weltkrieg seine Knochen fürs Vaterland hingehalten habe und jetzt viel zu alt sei fürs Kriegsspielen. Nur einmal hatte er sehr leise gesprochen, was offenbar nur für Mutter bestimmt, von Uwe dennoch aufgeschnappt worden war. Er werde nicht lange herum marschieren, hatte Vater gesagt, er wüsste schon, wie er sich verhalten müsse. Was er damit gemeint hatte, erfuhr Uwe erst ein gutes Jahr später.
Jetzt also war Abschied. Vati umarmte seine Kinder noch einmal, küsste sie innig, dann zog er Mutti an sich. Sie weinte. Als das der Bruder sah, begann auch er zu weinen. Der wusste noch ganz und gar nicht, was Krieg bedeutete, empfand aber offenbar sensibel das Beunruhigende dieses Abschieds. Uwe fühlte, dass er jetzt den tapferen Jungen zeigen musste und verkniff sich die Tränen.
So fünfzig Männer wohl hatten sich versammelt. Eine Kommandostimme ertönte, die Herren formierten sich. Uwe begriff: Alles Altgediente! Die mussten nicht erst ausgebildet werden, die kannten die Befehle. Schon zogen sie davon. Mutti, Bruder Kurt und Uwe standen wie festgewurzelt, bis der kleine Trupp die abschüssige Straße hinab marschiert und verschwunden war.
"Nun bist du der Mann im Hause", sagte die Mutter mit verschleierten Augen zu Uwe, nahm den Kurt an die Hand und lief langsam heim. Uwe trottete ratlos hinterher. Was sollte nun werden ohne Vater?
Zunächst indessen schien alles Leben weiter zu gehen wie zuvor. Nur unmerkliche Veränderungen. In der Schule wurden die Erfolge der Wehrmacht gefeiert, auf einer großen Landkarte das Vorrücken der Truppen nach Polen hinein markiert. In den Pausen standen die Schüler vor der Tafel und debattierten. Lehrer allerdings schienen die Stelle zu meiden. Und einer von ihnen, der sonst immer mit strammem Hitler-Gruß seine Stunde begann, machte das neuerdings nur noch sehr flüchtig. Bald war klar, warum. Er musste an die Front. Merkwürdig wehmütig verabschiedete er sich von den Schülern, legte gar keinen Wert darauf, als Held loszuziehen.
Auf dem Bahnhof, wurde beim Krämer erzählt, kämen jetzt immer Militärzüge vorbei, große Transporte mit Soldaten und Kriegsgerät. Manchmal hielten die Züge, und man konnte erfahren, dass sie aus ganz Deutschland auf dem Wege in den Osten waren. Uwe verspürte wenig Neigung, sich wie früher als kleiner Bub am Bahnhof auf die Mauer zu stellen und gar zu winken. Irgendwie empfand er, winkte man da eigentlich dem Tode zu. Denn dass Soldaten in Polen starben, wurde bald klar. Todesanzeigen in der Zeitung. Wie Tante Luise gesagt hatte.
Noch eine allerdings merkliche Veränderung hatte es gegeben. Was von ihm zunächst nur wie ein Spaß gesehen worden war, das Verdunkeln aller Fenster am Abend, war heiliger Ernst geworden. Wenn man jetzt abends durch die Straßen gehen musste, aus welchem Grunde auch immer, war man gut beraten, sehr aufmerksam zu laufen; denn da konnte ein Hindernis auf dem unbeleuchteten Weg sein. Alles war irgendwie unheimlich. Man ging nicht mehr gern auf die Straße abends.
Und dann die Sirene! Fliegeralarm! So lange alles noch Übung war, die Sache nicht unbedingt ernst genommen werden musste, hatten die Leute fast amüsiert die Keller aufgesucht. Als es dann ernst genommen werden sollte, öffneten sie zwar die Kellertür vorsichtshalber, blieben aber draußen. Es gab ohnehin meist ganz schnell Entwarnung.
Die jedoch, die ihr Leben liebten, kümmerten sich um den Keller. So konnte man das auslegen. Aus diesem Grunde hatte Vati, noch bevor er in den Krieg ziehen musste, im Keller ein wenig aufgeräumt, hatte Platz gemacht für ein paar Stühle. Aber viel Zweck schien das nicht zu haben; denn ihr Keller unterm Haus war nur ein schmaler Gang, eine Art gepflasterte Höhle, gerade mal Platz genug für zwei, drei Holzwannen – in denen übrigens der Weihnachtsstollen lange Zeit wunderbar frisch blieb - , ein, zwei Kartoffelkisten und ein Regal für Einkochgläser. Sollte das Haus über einem zusammenfallen, war man da unten eingesperrt wie in einem Rattenloch. Aber im Keller war dennoch irgendwie Schutz. Urplötzlich, über Nacht, war diese Möglichkeit höchst wichtig geworden. Fliegeralarm, den es seit Kriegsausbruch ernsthaft vielleicht drei, vier Mal gegeben hatte, ohne dass sie auch nur ein Flugzeug gehört hatten, konnte nämlich eine wirklich echte Bedrohung sein.
Es war Nacht gewesen. Da heulten die Sirenen. Schon rief Mutter von unten nach den Jungs. Sie sollten schnell aufstehen und sich anziehen. Die Brüder zögerten. Wozu das? Gleich würde es Entwarnung geben. Doch da hörte Uwe ein Geräusch durchs offene Kammerfenster. Ein Flugzeug! In der Ferne noch, aber deutlich und unverkennbar ein Flugzeug! Schnell kleideten sich die Brüder an, eilten nach unten und zur Kellertür. Hastig verständigten sie sich. Ja, auch Nachbarn hörten ein Flugzeug. Oh! Sie schreckten zusammen. Ein, zwei dumpfe Detonationen in der Ferne! Was war das? Bomben? Ohne Zweifel Bomben! Sie zitterten, eilten die Kellertreppe hinab. Doch nun blieb es ruhig. Keine weiteren Detonationen.
Schon debattierten Nachbarn lärmend draußen auf der Straße. Auch Uwe wagte sich hinaus. Mutter sah es nicht gern, aber es war kein Flugzeug mehr zu hören. Lebhafte Erörterung auf der Straße, wo wohl die Bomben herunter gekommen sein könnten. Einige meinten, sie hätten dem Bahnhof gegolten. Vielleicht hatte dort gerade ein Militärtransport gestanden. Andere vermuteten, der unheimliche Knall sei aus ganz anderer Richtung gekommen. Endlich! Die Sirene! Entwarnung. Natürlich war an Schlaf kaum noch zu denken. Draußen wurde es schon hell, als Uwe endlich einschlummerte. Mutter musste ihn morgens rütteln, denn er hatte seinen Wecker überhört. Schule!
Dort erfuhr Uwe, wo in der Nacht die Bomben gefallen waren. Man hätte es nicht für möglich gehalten: Sie hatten eine Eisenbahnbrücke treffen sollen! Aber sie waren zehn, zwanzig Meter daneben in einen Acker geraten und hatten dort zwei große Krater hinterlassen. Sobald die Schule zu Ende war, gab es kein Halten. Die halbe Schulklasse zog los, um den Ort des nächtlichen Geschehens zu besichtigen. Doch sie kamen nicht weit.
Schon auf der langen Straße durch Lungwitz trafen sie immer wieder Leute, die nicht zum Ort des Geschehens hatten vordringen können und nun langsam zurück trotteten. Die Straße war abgesperrt, bereits weit zuvor, am Gasthaus Wechselburger Hof, einem beliebten Ausflugslokal der Städter. Zur Anhöhe oben an der Eisenbahn-Strecke Zwickau – Chemnitz, wo die Bomben gefallen waren, war kein Durchkommen. Schaulustige, die beharrlich am Gasthaus herumstanden, rieten, einen Umweg über die Felder zu nehmen oder es von der Autobahn her zu versuchen. Andere meinten, wirklich etwas Genaues sei sowieso nicht zu sehen. Die Krater würden bereits zugeschüttet. Uwe gab auf. Ihm war auch so klar: Der schlimme Krieg war auf einmal greifbar nah.