Читать книгу Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag - Gerhard Ebert - Страница 16

14. Die Solotänzerin

Оглавление

Für Uwe begann eine Zeit fürchterlicher Einsamkeit. Er hatte keinerlei Kontakt zu auch nur irgendeinem Mädchen, was hieß, er war elendig allein. Abend für Abend lag er lange wach in seinem Bett und dachte über sein Dasein nach. Hatte er noch eben feierlich beschlossen, sich fortan ganz und gar auf die Schule zu konzentrieren und „Frauen“ erst einmal „Frauen“ sein zu lassen, kreisten seine Gedanken schon Sekunden später um die für ihn existentielle Frage, warum ihm die Natur eine derart elementare Sehnsucht nach dem anderen Geschlecht eingepflanzt hatte, aber zugleich solch demütigendes Unvermögen, an eine Frau heran zu kommen.

Diese Anneliese, der er per anonymem Brief seine brennende Liebe gestanden hatte, und die übrigens nicht mit Freund Günter liiert war, denn der hatte eine andere Freundin - diese Anneliese jedenfalls hatte er zwar noch im Visier, aber die Neigung war abgeklungen. Letztlich wohl deshalb, weil Uwe seinen Gefühlen nicht mehr traute, weil irgendwie kein Drang mehr in ihm war, ihr nahe zu kommen. Das Feuer, spürte er, das ihn noch vor kurzem ruhelos durch die Straßen getrieben hatte, war erloschen. Gar kein Impuls mehr, unbedingt ihre Bekanntschaft zu suchen.

Das war schon recht eigenartig gewesen. Einige Zeit, nachdem er den anonymen Brief geschrieben hatte, war Fräulein Anneliese doch tatsächlich eines Tages oben an der Sidonienstraße um die Ecke gebogen und wiegenden Schrittes auf der Georgenstraße näher gekommen. Er hatte sie zufällig vom Fenster aus gesehen. Aber ihr Erscheinen hatte ihn überraschenderweise gar nicht mehr aufgewühlt. Er ließ den Fall Anneliese sozusagen ganz kühl und in gebührender Entfernung an sich vorbeilaufen.

Offenbar war die erste große Liebe seines Lebens verrauscht und dahin! Jedenfalls, das empfand er deutlich, war in ihm keinerlei emotionaler Impuls, auf die Straße zu eilen und diese vor wenigen Wochen so Angehimmelte anzusprechen. Was unmittelbar vorm Elternhaus im Angesicht der Nachbarn ja tatsächlich ein gewisser Kraftakt gewesen wäre. So lief sie denn vorbei, die Anneliese, und Uwe verharrte hinter der Gardine im ersten Stock seines Elternhauses sorgfältig abgeduckt, um nicht von ihr gesehen zu werden.

Als sie um die Ecke gebogen war, gestand sich Uwe prompt den eigentlichen Grund seines Zögerns: Er hatte inzwischen eine andere Schöne im Kopf! Nämlich Jutta Göppel, die ab dieser Spielzeit neue Solotänzerin vom Kreistheater. Die war zwar unerreichbarer als alle anderen Mädchen zuvor, aber was sollte er machen? Seine Empfindungen ließen sich nicht kommandieren. Die junge Künstlerin hatte eine faszinierend blendende Figur, ebenmäßig und kraftvoll vom Scheitel bis zur Sohle. In fast jeder Operetten-Vorstellung konnte er sie aus aller Nähe bewundern, oft gewissermaßen unmittelbar, da sie meist ziemlich freizügig gekleidet aufzutreten hatte. Im Programmheft fand sich sogar ein Foto von der neuen Flamme. Das war unbezahlbar. Er konnte mit ihrem Foto ins Bett gehen, sie stundenlang anstarren und sich beliebig ausmalen, wie phantastisch Liebe mit ihr sein könnte.

Das Problem: Seine Vorstellungen von Liebe waren noch konfuser als all seine platonische Hingabe an diese oder jene Schöne. Beunruhigend war, dass solche Regungen stets sozusagen über ihn kamen. Er konnte das nicht steuern. Es gab in seinem seelischen Innersten ganz offenbar eine seltsame Macht, die ihn angesichts bestimmter Eigenheiten eine Frau so begehrlich machte, dass er in aufwallende Unruhe geriet, sobald er sie sich nur vorstellte, und die ihn in geradezu kopflos machende Erregung trieb, wenn er sie leibhaft lebendig vor sich sah.

Im Theater in den diversen Operetten-Vorstellungen hatte er durchaus schon ein Auge für diese oder jene halbnackte Tänzerin gehabt, aber jetzt bei dieser Jutta war das so, dass er seine Entscheidungen gar nicht mehr mit dem Verstand regeln konnte. Als ihm in den Sinn kam, ihr irgendein Geschenk zu machen, um bei ihr überhaupt erst einmal aufzufallen, ließ ihn dieser Gedanke nicht ruhen, bis er - nach schon verzweifeltem Fußmarsch die Geschäftsstraße auf und ab - von seiner kargen Barschaft eine schmucke Schachtel erstand, enthaltend Kamm und Bürste für eine Dame. Dies schien ihm ein durchaus passendes Präsent.

Mutig nahm er das Risiko auf sich, das kleine Päckchen erst einmal ins Elternhaus zu schmuggeln, ohne entdeckt zu werden. Im untersten Kasten seiner Kommode ganz hinten musste es verschwinden, bis sich günstige Gelegenheit fand. Der bevorstehende Faschingsball im Theater schien ihm geeignet, das Geschenk zu überreichen, denn die Solotänzerin würde sich doch gewiss nach der Vorstellung im Saal bewundern lassen, sich vielleicht sogar mit unter die ausgelassene Menge mischen. Gar nicht auszudenken das Glück, mit ihr ein, zwei Runden zu tanzen.

Aber maßlose Enttäuschung! Sie erschien zwar am Abend endlich in einer Tür an der Seite des Saals, und er konnte in aller gebotenen Eile endlich zur Tat schreiten, doch außer einem äußerst verblüfften Dankeschön gab es keine weitere Reaktion. Sie entschuldigte sich, solch Trubel sei nicht ihr Fall, und verschwand. Schon war Uwe wieder allein. Seine Crux: Immer, wenn er für eine bestimmte Flamme brannte, konnten ihn andere Mädchen nicht im Geringsten erwärmen.

So saß er denn wieder einmal allein herum, haderte mit sich, raffte sich endlich auf, versuchte eine Runde mit einer anderen Balletttänzerin. Sie gab ihm keinen Korb, und vielleicht hätte er es an dem Abend sogar bis zu einem Kuss geschafft, aber beim Tanzen war er wieder total blockiert, blieb dusselig stumm, zumal ihm durch den Kopf ging, dass diese Jutta, der er noch eben seine Gunst bezeugt hatte, womöglich erfahren könnte, dass er sich mit einer anderen Tänzerin vergnügte, dass es ihm also so ernst mit ihr gar nicht war. Uwe war eingesperrt in rundweg absurde kleingeistige Befangenheit.

Einige Tage später traf ihn in Sachen Solotänzerin ein geradezu verheerender Schlag. Und zwar aus einer Richtung, aus der das nun wahrhaftig nicht zu erwarten gewesen war. In der Schule, in der großen Pause, sprach ihn ein rund zwei Jahre älterer Schüler aus einer anderen Klasse an. Eberhard Fromme, Sohn eines Bauunternehmers, zweimal sitzen geblieben, aber stattlich und elegant, informierte ihn diskret und durchaus nicht unhöflich, er sei mit Frau Göppel verlobt und er, Uwe, möge doch bitte absehen, ihr weiterhin Geschenke zu machen. Uwe erstarrte innerlich zur Salzsäule und versprach dem Eberhard prompt hoch und heilig, ihm hinfort nicht mehr in die Quere zu kommen – und war tagelang regelrecht krank.

Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag

Подняться наверх