Читать книгу Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag - Gerhard Ebert - Страница 15
13. Der erste Kuss
ОглавлениеUngestümer denn je regte sich in Uwe der junge, unbefriedigte Mann. Jetzt hoffte er inständig, die Tanzstunde würde ihn von seinem anhaltenden Liebeskummer ablenken. Die Vorbereitung begann leider mit einem neuen Dilemma: Eine Tanzstunden-Dame musste gefunden werden! Woher nehmen und nicht stehlen?
Diese Anneliese, die er natürlich am liebsten an seiner Seite gesehen hätte, war unerreichbar, die musste er sich aus dem Kopf schlagen. Sie war übrigens keine Oberschülerin. Nicht, dass er dünkelhaft gewesen wäre. Er hätte sie stolz aller Welt als seine Tanzstunden-Dame vorgeführt. Wobei "alle Welt" seine Mitschüler und deren Eltern im ziemlich heruntergekommenen Saal des Gasthauses "Lindenhof" gewesen wären. Aber solch kleiner Triumph war ihm partout nicht vergönnt. Für sein Renommee in der Klasse wäre nicht unwichtig gewesen, sozusagen in fremdem Teich geangelt zu haben.
Uwe musste sich wohl oder übel in seiner Oberschule umschauen. Da gab es eine Klasse tiefer immerhin eine Christel, die ihm schon gelegentlich aufgefallen war. Weil er sich aber bisher nur für die große Unbekannte interessierte, hatte er sich noch nicht um Christel bemüht. Das schien nun insofern einfach, als an der Schule natürlich bekannt war, dass die elfte Klasse zur Tanzstunde rüstete. Und Mädchen aus unteren Klassen warteten geradezu darauf, eingeladen zu werden. Uwe glaubte also, leichtes Spiel zu haben.
Christel war etwa einen Kopf kleiner als er und ohne Zweifel gut gebaut, jedenfalls nach seinem Maßstab. Ihre Beine waren nicht die Spur krumm, soweit sich das unter den meist recht langen Röcken feststellen ließ, die sie offenbar liebte. Sie trug langes schwarzes Haar, manchmal zum Zopf gebunden, manchmal offen und wehend. Da sah sie ganz entzückend aus. Überhaupt hatte sie, soweit er das aus der Ferne hatte ausfindig machen können, ein allerliebstes Gesicht. Wenn er die Auserwählte in den Pausen auf dem staubigen Schulhof heimlich beobachtete, stand sie meist mit Schülerinnen in irgendeiner Ecke und lachte gern und herzlich. Sie schien immer irgendwelchen Schabernack auszuklügeln. Das war natürlich nicht ganz ungefährlich. Wenn man ihr nicht gefiel und man sich also einen Korb bei ihr holte, war sie wahrscheinlich imstande, ganz schön Stimmung gegen einen zu machen. Denn wenn die Mädchen so in Gruppe standen und immer wieder kicherten, sprachen sie gewiss gerade abschätzig über diesen oder jenen Schüler.
Nach mindestens zwei Wochen des Wägens und Zögerns, hatte sich bei Uwe letztendlich so viel Energie aufgestaut, dass er sich eines Tages in der großen Pause entschlossen über den Schulhof auf die Gruppe Mädchen zumarschieren sah, in der Christel stand. Und schon sagte er ziemlich steif und mit gar nicht fester Stimme:
"Kann ich dich bitte mal sprechen, Christel?"
Förmlicher wäre es kaum gegangen, aber unförmlich leger konnte Uwe einfach nicht sein. Schließlich war das ein allererster Kontakt. Da musste er die Form der Wohlerzogenheit wahren. Und wie die Mädchen reagierten, nämlich neugierig, gar nicht kicherig, schien sich die Sache gut anzulassen. Offenbar hatte er so verbindlich gesprochen, dass die vier Hübschen annahmen, er habe ein besonderes Anliegen. Jedenfalls wandten sich die anderen ab als Zeichen, er solle ungestört mit Christel besprechen, was da zu regeln sei.
"Ja", fragte sie aufgeschlossen und schaute Uwe mit blitzenden Augen erwartungsvoll an.
Ihrem Blick hielt Uwe nicht stand. Scheu wich er aus und blinzelte verlegen in die Gegend, als bespreche er eine Belanglosigkeit. Ihm schlotterten die Knie. So aufregend nahe war er dieser Christel noch nie gewesen. Die war ja verdammt schön! Wie hatte er das übersehen können? Dieser üppige Mund! Wenn er den küssen könnte!
"Ja, du", sagte er nun mit belegter, fast zittriger Stimme, "ich wollte dich fragen, du weißt ja, wir beginnen demnächst mit der Tanzstunde, und da dachte ich, es wäre toll, du verstehst?"
Ihm schien, als huschten Christels funkelnde Augen rasch taxierend über ihn hin.
"Schade", hörte er sie jetzt sagen, "wirklich schade, aber ich kann leider überhaupt nicht zur Tanzstunde, weißt du, ich wohne doch in Waldenburg, da geht das abends nicht. Es fährt kein Zug mehr. Verstehst du?"
Für Uwe brach eine Welt zusammen. Eben hatte er sich noch euphorisch vorgestellt, dieses tolle Mädchen jede Woche beim Tanzen völlig legitim in den Armen zu halten und sie immer und immer wieder anzusehen. Das müsste wunderbar sein. Jetzt überhörte er die plausible Begründung, begriff nur die Absage. Und die war obendrein allgemein gehalten. Es ging Christel um die Tanzstunde, an der sie wegen widriger Umstände nicht teilnehmen konnte, aber gar nicht um ihn. Kopflos ließ er ihr nun nicht die Zeit, etwa wenigstens zu bedauern und zu beteuern, dass sie mit ihm, Uwe, nur zu gern teilgenommen hätte. Fast brüsk sagte er:
"Oh, das ist dumm. Dann entschuldige!" Und schon ging er mit steifen langen Schritten zurück über den Schulhof.
Dann im Klassenzimmer, während der Geschichtsstunde, wurde ihm klar, dass er sich unmöglich benommen hatte. Er hatte offenbar überhaupt kein Stehvermögen im Umgang mit einer so aufregend schönen jungen Frau. Ihn hatten einfach alle guten Geister verlassen. Anstatt das immerhin begonnene Gespräch wenigstens so zu beenden, dass er später irgendwie wieder anknüpfen konnte, war er völlig verwirrt regelrecht geflohen. Schließlich, das wusste man doch, war das erste "Nein" einer Schönen nicht unbedingt ihr letztes Wort! Doch jetzt war das Ding gelaufen. Noch einmal Kontakt zu suchen, wäre ohne Zweifel aussichtslos gewesen. Außerdem drängte die Zeit. Und diese Christel – selbst wenn sie gewollt hätte, was ja eigentlich offen geblieben war – konnte und würde wegen Uwe nicht umziehen. Das hätte dann schon große Liebe sein müssen und wahrscheinlich Heirat, was für Uwe wahrhaftig noch nicht an der Reihe war. Obzwar?
Gelegentlich, das wusste man, führte die Tanzstunden-Partnerschaft direkt in den Hafen der Ehe. Geradezu gnadenlos geschah dies, wenn am Ende des Kurses zwar nicht unbedingt perfekte Tanzkünstler standen, dafür aber die gewisse Aussicht auf ein Baby. Immer wieder fanden sich Paare, die es mit dem Geschlechtsverkehr sehr eilig hatten und denen die Tanzstunde allerbeste Gelegenheit bot, so richtig loszulegen.
Völlig selbstverständlich, ohne Vorbehalt der Eltern, konnte man sich jede Woche treffen, und das auch noch abends. Uwe hielt sich zurück, über diesen oder jenen schul- und gar stadtbekannten Fall zu rechten. Wenn zum Beispiel in den Pausen davon die Rede war, konnte man sowieso nie genau erfahren, wie die zwei „Experten“ es angestellt hatten. So eine Theorie zum Beispiel, dass sich ein Pärchen jedes Mal nach Abschluss der Stunde noch nachts hinaus in Feld und Flur und in einen Heuschober begeben hatte, schien Uwe abwegig und ordinär. Liebe, richtige Liebe musste seines Erachtens im Bett gemacht werden und sonst nirgends. Jedenfalls war das seine Überzeugung.
Im Moment hatte er freilich andere Sorgen. Jetzt musste überhaupt erst einmal eine Frau her! Wirklich ärgerlich war, dass Uwe einfach nicht über seinen Schatten zu springen vermochte. Das heißt, es war ihm unmöglich, etwa ein Mädchen anzusprechen und einzuladen, von dem er zwar vermutete, dass sie unter Umständen sogar darauf wartete, die ihm aber wegen irgendwelcher Kleinigkeit nicht zusagte. Er konnte sein Verhalten rational kaum begründen. Bei der einen potentiellen Kandidatin gefiel ihm das nicht, etwa die seines Erachtens zu dicken Beine, bei der anderen störte ihn jenes, etwa ihre zuweilen aufdringliche Geschwätzigkeit. Auf eine Tanzstunden-Liaison, die ihm nicht wenigstens ein klein wenig gefiel, konnte und wollte er sich nicht einlassen.
Seine Mutter schien zu wissen, welcher Schuh ihn drückte. Jedenfalls verblüffte ihn eines Tages ihre Anspielung, dass für ihn, Uwe, wohl erst noch eine Tanzstunden-Dame gebacken werden müsste. Und sie fügte hinzu, er solle nicht so wählerisch sein. Schließlich sei er kein Prinz! Uwe reagierte beleidigt. Solche Einmischung konnte er auf den Tod nicht leiden. Ob Mutter ihre Hand im Spiel hatte bei dem, was dann geschah, hat er nie in Erfahrung bringen können. Uwe wusste nur, dass seine Mutter die Mutter jenes Mädchens gut kannte, das er schließlich und endlich zur Tanzstunde führte.
Auf dem Schulhof, in einer Pause, stand eines Tages Sigrid Damm vor ihm, die kleine, recht kernige Tochter eines Schmiedemeisters aus der Nachbarschaft. Sie schaute ihn fröhlich an und fragte geradeswegs:
"Sag mal, könnten wir nicht die Tanzstunde zusammen machen?"
"Wir?" entgegnete Uwe entgeistert, obwohl ihm sofort bewusst wurde, dass das möglicherweise gar nicht so übel sein könnte. Die Sigrid hatte er sogar schon einmal erwogen, aber dann war sie ihm doch irgendwie zu pummelig erschienen. Ihr pausbäckiges Gesicht war zwar nett, aber leider nicht mehr als eben nett, jedenfalls kein bisschen aufregend. Wenn ihm nicht diese Anneliese oder auch die Christel immer wieder im Kopf herum gespukt hätten, wäre er vielleicht nicht so anspruchsvoll gewesen.
"Wär doch gut, wir zwei, oder?" sagte Sigrid und fügte ein Argument hinzu, das schwer zu widerlegen war, "wir hätten einen gemeinsamen Heimweg".
Uwe zuckte innerlich. Schätzte sie ihn so ein? Dass ihm der Heimweg wichtiger war als die Tanzstunde? War sie etwa gar eine von denen, die auf Spaß im Heuschober spekulierten? Von Sigrid, die ihm eher konventionell schien, die jedenfalls stets einfach herkömmlich und gar nicht aufreizend gekleidet war, hatte er so etwas nicht erwartet. Natürlich konnte er sich irren. Abgesehen davon, dass eine sozusagen willige Frau ja gar nicht übel wäre. Dennoch wollte Uwe ablehnen, denn er fand, in dieser Angelegenheit kam ihm als dem Mann die Initiative zu. Da sagte sie noch:
"Na ja, und überhaupt!"
In dem Moment, was nicht seine Stärke war gegenüber Frauen, schaute Uwe ihr genau in die Augen, und das wurde ihm zum Verhängnis. Denn Sigrid blitzte ihn just so neckisch lieb und herausfordernd an, wie er es noch nie erlebt hatte von einer Frau. Er war machtlos.
"Na ja, warum nicht", sagte er jetzt gedehnt, "ich bin noch offen, einfach noch keine Zeit gehabt." Womit er anzudeuten versuchte, dass sozusagen auch er die Idee von ihnen beiden hätte haben können. Aber sein Zaudern hatte ihr offenbar schon zu lange gedauert.
"Du kannst es dir ja überlegen", sagte sie plötzlich fast launisch, wandte sich ab und ließ ihn stehen. Raffiniert, dachte er sofort. Sie hatte die Angel ausgeworfen und ihm zugleich klargemacht, dass sie sozusagen nicht als Bittstellerin gekommen war. Uwe schaute ihr nach. Die Figur war leidlich, nicht so schlank, wie er es bei Frauen eigentlich mochte und vorzog, aber als Tänzerin wahrscheinlich nicht übel. Ihre Beine schienen ihm um eine Idee zu stämmig, die Taille könnte schmaler sein. Und der Mund? Irgendwie schmal und klein. Aber so gewiss wusste er das jetzt nicht. Er hatte nicht genau genug geguckt. Doch was wollte er eigentlich? Hatte Mutter etwa recht? Er beschloss, die Entscheidung nicht zu lange hinauszuschieben.
Nach einer fast schlaflosen Nacht kam Uwe zur Einsicht, dass er im Moment mit Sigrid wahrscheinlich bestens bedient war. Eine andere und gar schönere Tänzerin war nirgends in Sicht. Er beschloss, Sigrid am nächsten Tag ganz freundlich um ihre Zustimmung zu bitten. Wobei ihm allerdings sonnenklar war, dass ihr gegenüber so etwas wie Liebe ganz und gar nicht im Spiele war. Es ging ihm um die Tanzstunde und nicht um eine Liaison. Er würde ihr Freund sein, damit konnte sie rechnen, aber mehr würde sich kaum abspielen.
Am nächsten Vormittag in der großen Pause hatte er Mühe, Sigrid ausfindig zu machen. Ihm schien, dass sie alles darauf anlegte, gesucht zu werden. Aber wenn sich Uwe etwas vorgenommen hatte, war er hartnäckig. Abgesehen davon, dass ihm kaum noch eine andere Wahl blieb. Als ihm der Gedanke durch den Kopf schoss, unter Umständen am Ende leer da zu stehen und sozusagen mit der letzten Besten vorliebnehmen zu müssen, wurde ihm heiß und kalt. Er lief den Schulhof noch einmal ab und suchte. Endlich! Wie zufällig stand Sigrid hinter einem Baum und wartete. Ihn ärgerte das, aber jetzt war nicht die Zeit, eitel zu sein.
"He, Sigrid", sagte er und trat zu ihr.
"Na, der Herr?" reagierte sie ironisch und blitzte ihn wie neulich herausfordernd an, mit einem kurzen Schwenk das lose Haar hinters Ohr werfend. Das kannte er gar nicht bei ihr. Seit heute also trug sie ihr Haar offen. Hatte das mit ihm zu tun?
"Ja, wegen gestern", meinte er jetzt freundlich, "entschuldige, ich hätte dich schon längst einladen sollen. Wolltet ihr nicht umziehen?"
Das war ihm gerade noch eingefallen und sofort auf die Lippen gerutscht. Irgendwann hatte er von Mutter erfahren, dass die Damms die Familien-Schmiede am Chemnitzer Platz zwar beibehalten wollten, aber das Haus nicht groß genug war, um neben den Großeltern auch dort zu wohnen. Doch schon ärgerte sich Uwe, das Problem genannt zu haben.
"Entschuldige, wirklich, darum geht es ja nicht", sagte er jetzt und fügte hinzu: "Bloß, weil du ja vom gemeinsamen Heimweg gesprochen hattest."
"Ein Glück", schlug sie zurück, "ich dachte schon, du willst mit meinen Eltern Tanzstunde machen."
Das schien ihm echt boshaft, aber jetzt durfte er um Himmelswillen keinen Fehler machen.
"Du bist also einverstanden?" übersprang er alle Probleme.
"Wenn du nicht zu dusselig quatschst", lachte sie und nutzte das Klingelzeichen, das die große Pause beendete, um sich kichernd von ihm zu lösen. Aber Uwe hatte immerhin den Eindruck, dass sie höchst zufrieden mit sich war. Tatsächlich, das gestand er sich ein, hatte sie ihn sozusagen in kühnem Handstreich gekapert. Er bedeutete ihr offenbar mehr, als sie ihm. Ihr Mund übrigens, das hatte er in dem kurzen Disput ausfindig gemacht, war nicht unbedingt verführerisch. Er schien ihm schmal und leider gar nicht sinnlich.
So war er denn von Anfang an in einer Zwickmühle. Sigrid, vermutete er, hatte wahrscheinlich ernste Absichten, er, Uwe, brauchte nur eine Tanzstunden-Dame. Und dazu gehörte für ihn, dass er Sigrid nach jedem Unterrichts-Abend artig bis zur Haustür begleitete, sich dort ebenso artig verabschiedete und dann nach Hause zottelte. Da auch sie nie auch nur irgendwie den Versuch einer erotischen, geschweige denn einer sexuellen Annäherung machte, blieb ihre Beziehung fatal langweilig.
Beim Tanzen ließ sich Sigrid ganz manierlich an. Zwar stellte er schon bald fest, dass andere Tänzerinnen sich leichter übers Parkett bugsieren ließen, aber mit ein bisschen mehr Aufwand war mit ihr gut auszukommen. Er übrigens war, wie sich zeigte, nicht ganz untalentiert als Tänzer. Anfangs hatte er echt Sorge gehabt, denn er galt im Musik-Unterricht als unbegabt, insbesondere als Sänger, und so hatte er geglaubt, dass ihm beim Tanz den Takt zu halten, große Schwierigkeiten machen würde. Nichts dergleichen geschah. Einen guten Rhythmus mochte er sehr, und selbst der angeblich schwierige Walzer ließ sich bewältigen.
Viel komplizierter für ihn erwies sich Kommunikation beim Tanzen. Anfangs, als man sich noch über Schritte und Bewegungen verständigen musste, fehlte es nicht an Gesprächsstoff. Auch war die Aufmerksamkeit auf die Anweisungen des Tanzlehrers konzentriert. Sobald aber eine gewisse Routine einzog, man sich ein bisschen sicher fühlte und Zeit hatte für die Partnerin, tat sich Uwe arg schwer, sich beim Tanzen zu unterhalten. Er wusste einfach nicht, worüber er sprechen sollte. Wenn er Sigrid stumm übers Parkett schob, mochte das noch angehen; denn sie war seine Dame und ihm sozusagen sicher. Aber in den zwei, drei Tanzrunden des Abends, in denen gewechselt wurde, er also eine andere Partnerin in den Armen hielt und es darauf angekommen wäre, ein blendender, unterhaltsamer Kavalier zu sein, war er nichts als ein elender Stockfisch.
Es war zum Heulen, besonders in den seltenen, kostbaren Fällen, wenn ihm die Tänzerin gefiel und es notwendig gewesen wäre, einen guten Eindruck zu machen. Außer seiner durchaus ansprechenden, schwungvollen Tanzkunst hatte er einfach nichts zu bieten. Im verzweifelten Bemühen, locker zu sein, blockierte er immer mehr. Uwe fand keine Erklärung dafür, dass er besonders bei schönen Tänzerinnen fast automatisch totale Ladehemmung hatte. Krampfhaft suchte er dann während des Tanzes nach irgendeinem Thema, aber nichts fiel ihm ein. Immer wieder vom Wetter zu reden und von wahrscheinlichem Regen, war nun wirklich langweilig. Damit wollte er sich nicht blamieren. Also schwieg er - und kriegte einfach keinen Kontakt. Höflich steif führte er am Ende des Tanzes die jeweilige Partnerin zu ihrem Tisch, machte artig seine Verbeugung und zog innerlich weh und wund zurück zu Sigrid an den Tisch. Ob sie spürte, dass seine Sehnsüchte ganz andere Objekte hatten, wusste er nicht, wäre ihm auch gleichgültig gewesen.
Ein solch "anderes Objekt" war nach wie vor diese hübsche Christel aus Waldenburg, die zu seiner Überraschung schon recht gut tanzen konnte. Aber er kam mit ihr einfach nicht voran. Wenn sie – was sehr selten geschah - zu einem Tanzabend erschien, war er schon glücklich, wenn sie ihm keinen Korb gab und ein-, zweimal mit ihm tanzte. Doch wenn er sie einzuladen versuchte, zu einem Treff irgendwo, gab sie ihm stets einen Korb. Das war nicht ewig wiederholbar. Jede solche Abfuhr tat weh und rüttelte übel am nötigen Selbstvertrauen. Außerdem saß natürlich immer Sigrid herum, die zwar auch mal mit einem anderen jungen Mann tanzte, doch brav auf Uwe wartete. Er kriegte Sigrid vorläufig nicht los, das stand fest. Abgesehen davon, dass er mit ihr natürlich noch den Abschlussball absolvieren musste. Das war er sich schuldig. Korrekt und anständig musste er bleiben.
Am Abend dieses endlich fälligen Abschlussballs reifte in Uwe eine Idee, die ihn selbst überraschte. Gerade hatte er wieder einmal mit Christel getanzt, die natürlich gekommen war und keinen Tanz ausließ. Er hatte gespürt, wie ihn ihre körperliche Nähe anregte, war berauscht, dass sie sich nicht sträubte, wenn er sie leicht an sich zog. Dann hatte er wieder an seinem Tisch Platz genommen, wo Sigrid saß und sie länger als üblich angeschaut. Warum, fragte er sich, ging von diesem Mädchen nicht solch Zauber aus, der ihm bei Christel die Sinne verwirrte?
Und urplötzlich wurde ihm bewusst, dass er die ganze Zeit eigentlich ein riesengroßer Dussel gewesen war. Warum zum Teufel hatte er diese kleine dralle Sigrid, wenn er sie brav zu Hause ablieferte, vor der Haustür nicht wenigstens ordentlich abgeknutscht? Er wusste es nicht. Und er konnte es sich nicht erklären. Warum hatte er die Küsserei nicht wenigstens mal ausprobiert? Verdammt, verdammt, was war er doch für ein elender Dummkopf! Als er wieder mit Sigrid tanzte und spürte, dass sie seiner drängenden Nähe nicht auswich, sondern nur kurz verblüfft zu ihm hochblickte, gar schmunzelte und seinen leichten Druck erwiderte, beschloss er, Sigrid heute Nacht beim endgültigen Abschied zu küssen. Und dies, obwohl er sich fest vorgenommen hatte: Nach dem Abschlussball trennen sich ihre Wege. Dabei musste es bleiben.
Endlich also am Tage des Abschlusses des Tanzstunden-Kurses begab er sich mit Sigrid zum letzten Mal auf dem Heimweg. Ihm schien, als schmiege sie sich enger an ihn als sonst auf dieser Tour. Es war kühle Witterung gewesen, und sie trugen Mäntel, was eine Annäherung nicht unbedingt förderte. Ihre Unterhaltung war wie bislang stets beiläufig, drehte sich um nebensächliche Dinge, diesen oder jenen Lehrer, Ärger im Elternhaus. Wie man eben so dahin schwätzt, um nicht über das zu sprechen, was nahe gelegen hätte. Nämlich die Frage, ob aus ihrer Tanzstunden-Liaison eine auch fernerhin gehegte Verbindung werden könne. Uwe vermutete, Sigrid hegte solche Absicht, daher vermied er das Thema konsequent.
Schließlich waren sie vor der Haustür angelangt. Sie schloss nicht gleich auf, was schon mal aufschlussreich war. Er musste achten, dass der Abschied nicht endlos und peinlich werden würde. Er fasste sich ein Herz.
„Ja, Sigrid, so ist das nun“, hauchte er. „Es war schön mit dir, ich danke dir für alles, aber unsere Wege trennen sich!“
„Ja?“ sagte sie gefasst.
„Tut mir leid“, beteuerte er, „aber du kriegst noch einen Kuss!“
Noch bevor sie überrascht reagieren konnte, beugte er sich über sie - so ungeschickt, dass ihm der Hut vom Kopf flog - und presste ihr einen gefühllosen Kuss auf den Mund.
„Tschüss!“ sagte er noch, hob seinen Hut auf und trollte sich. Es war ein elender, ein feiger Abgang, den Sigrid nicht verdient hatte, obwohl sie – und das wurde ihm auf diesem mitternächtlichen Nachhause-Weg noch einmal bewusst – in den vergangenen Wochen nicht das geringste getan hatte, ihn erotisch in Gang zu bringen. Aber wahrscheinlich war Sigrid hierin ebenso unerfahren wie er.
Seine Empfindungen fuhren Karussell. Da hatte er mit seinen knapp achtzehn Jahren nun endlich eine Frau zu küssen versucht und hatte kläglich versagt. Nicht einmal ihren Mund hatte er in der Aufregung richtig gefunden, hatte seine Lippen irgendwo auf den Mundwinkel gedrückt, der in der Erinnerung überdies krampfhaft zusammengedrückt schien. Noch als er schließlich weit nach Mitternacht wach in seinem Bett lag, fand er keine Ruhe, kreisten seine Gedanken um den fehlgeschlagenen Versuch und der aufkommenden Gewissheit, dass es für lange Zeit der letzte Kuss gewesen sein würde.