Читать книгу Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag - Gerhard Ebert - Страница 8
6. Endlich Frieden
ОглавлениеWas war mit dem Krieg? In Glauchau und im unmittelbaren Umland gab es zwar keine Kampfhandlungen mehr, aber jeden Tag wurden sie daran erinnert, dass andernorts in Deutschland noch gekämpft und gestorben wurde. Der Tod kam ja nicht nur zu Lande, sondern noch immer auch aus der Luft.
Zum Glück war nicht zu erwarten, dass die Bomber ihre tödliche Last auf die Heimatstadt werfen würden, denn die gehörte territorial ja nun sozusagen "zu denen", zu den „Siegern“. In dieser Sicherheit gleichsam geborgen war es ein zwar makabres, aber interessantes Spiel zu spekulieren, ob Bomber in Richtung Chemnitz dort abbiegen, also bomben, oder weiterziehen würden nach Dresden. So hockte Uwe gern am Radio und kurbelte nach dem Sender, auf dem jene anonyme Stimme Richtung und Anzahl der Bomber verkündete, die noch immer täglich über sie hinweg zogen. Wenn es um Chemnitz ging, waren dann meist aus der Ferne schwere Detonationen zu hören.
Obwohl also andernorts noch immer der Krieg tobte, kehrte in die Geschäfte der kleinen Stadt urplötzlich ein Hauch von Frieden ein. Die neue Behörde, wer auch immer das sein mochte, hatte offenbar mit Bewilligung der Amerikaner die im Ort aufgefundenen und nicht geplünderten Warenlager zum Verkauf freigegeben. In den Büro- und Papiergeschäften schien sogar der reine Überfluss ausgebrochen. Gar nicht auszudenken, was es da auf einmal alles zu kaufen gab. Leim, Radiergummis, Bleistifte, Reißzwecken. Beim Bäcker hingegen sah es anders aus. Gerade, dass es ein wenig Brot gab. Und beim Fleischer waren die Konservenbüchsen schnell ausverkauft. Aber immerhin, nach Jahren des Krieges und der Entbehrungen war auf einmal, wenn auch nur kurze Zeit, spürbar geworden, wozu Geschäfte eigentlich existieren.
Immer öfter hockte Uwe am Radio und wartete auf den Frieden. Bei Torgau an der Elbe waren sich Amerikaner und Russen begegnet, hatten den nahen Sieg gefeiert, aber in Berlin schien der Wahnsinn kein Ende zu nehmen. Vater kommentierte die von dort kommenden Aushalte-Parolen immer bissiger. Wie überhaupt sollte es weitergehen?
Als im Ort ein Aufruf an die Jugend erschien, sich für den Neuaufbau zu engagieren, verirrte sich Uwe neugierig ins Rathaus, wo angeblich Rat und Hilfe erteilt wurde. Er staunte nicht schlecht, dort hinter einem Schreibtisch seinen Geschichtslehrer anzutreffen, dessen markig-stramme Art, den Hitler-Gruß zu absolvieren, er noch nicht vergessen hatte. Der Herr faselte von einer neuen Zeit und hielt Uwe Goethes "Faust" vor die Nase. Jetzt gelte es, die Klassiker zu lesen. Uwe war nicht gut bei Ohr, überlegte nur krampfhaft, ob dieser Herr bislang gelogen hatte oder ob er nunmehr log. Er verließ das Rathaus geradezu fluchtartig. So hatte er sich das nicht gedacht mit dem Neuanfang.
Endlich kam im Radio die Nachricht, dass die deutsche Wehrmacht in Berlin-Karlshorst kapitulierte. Uwe öffnete das Fenster und hätte am liebsten allen, die auf der Straße zufällig vorbeigingen, die frohe Botschaft vom endlich eingetretenen Frieden zugerufen. Er wartete sehnsüchtig auf seine Eltern. Vater und Mutter waren im Garten gewesen, hatten dort nach dem Rechten geschaut, auch wohl versucht, etwas Nahrhaftes zu ernten. Endlich bogen sie um die Ecke. Als sie vor der Haustür anlangten, rief er ihnen die sehnlichst erwartete Neuigkeit zu. Vater schien sie gar nicht zu beeindrucken, und Mutter äußerte ihre Zufriedenheit eher beiläufig.
Am Abend dann, am karg gedeckten Tisch, verstand Uwe die laue Reaktion seiner Eltern.
„Wir werden den Gürtel noch enger schnallen müssen!“ konstatierte Vater und öffnete die vorläufig letzte Büchse Fleisch.
„Hoffentlich kommt nun keine Hungersnot“, ergänzte Mutter.
Ohne Zweifel: Eine sehr ungewisse Zeit stand bevor. Dennoch: Endlich war Frieden! Und der Alltag, wusste Uwe inzwischen selber recht gut, würde der Alltag bleiben und auf lange Zeit wahrscheinlich noch verdrießlicher sein als bisher.