Читать книгу Apostelchips - Gert Podszun - Страница 9
6
ОглавлениеDie von Stiller ausgelegten Unterlagen waren umfangreich. Jens studierte sie und weitere zum Themenkreis aus dem Internet. Er war in seiner Wohnung und hörte die Nachrichten. Dabei fiel ihm eine Kurzmitteilung auf:
„In der nordkanadischen Wildnis, nahe dem Großen Sklavensee, liegt ein Landstrich, den die Ureinwohner Nechalacho nennen. Vor einiger Zeit hat dort ein Geologe eine Option auf Schürfrechte in einem Areal von nennenswerter Größe erhalten. Es birgt ein nennenswertes Volumen von Seltenen Erden.“
Ein Name wurde nicht genannt. Ein Geologe. Ohne Namen. Jens grübelte. Das klingt nach Geheimnistuerei. Warum wird da kein Name erwähnt? Die dortigen Seltenen Erden sind auch nicht spezifiziert. Das ist keine vollständige Information. Dafür wird es bestimmt Gründe geben. Man kann ja nicht immer jede Information gleich herausgeben. Ich muss das recherchieren. Irgendwie könnte unsere Firma ja davon betroffen sein. Vielleicht ist der Geologe ein Chinese, ein getarnter? Schließlich haben die Chinesen ja weltweit den größten Zugriff auf Seltenen Erden. Vielleicht steckt aber auch ein anderes Unternehmen dahinter? Ich kenne mich in diesem Markt noch gar nicht genug aus.
Die Unterlagen von Stiller enthielten im Kern den Inhalt seines Referates und Erläuterungen über verschiedene Anwendungsgebiete der Seltenen Erden. Jens fand seine Kenntnisse hierüber weitgehend bestätigt. Als Marketing Manager der Steig AG stand er für die Positionierung des Unternehmens als Pionier der allerneuesten Technologien in der digitalen Welt, unter anderem auch in der Messtechnik. Auch für das ziemlich neue Gebiet der Augmented Reality. Jens überlegte: Hier werden virtuelle und reale Wirklichkeit für mobile Geräte miteinander kombiniert und überlagert. Da muss ich noch recherchieren. Das kann die Zukunft sein. Aber jetzt geht es um die digitale Messtechnik. Ich freue mich für die Steig AG seit mehr als drei Jahren arbeiten zu können. Es ist eine spannende Aufgabe, für Innovationen tätig sein zu können. Ich recherchiere noch ein wenig im Internet weiter. Ich war noch nie in Kanada. Vielleicht kommt das ja noch. Ich würde mich freuen. Ob die Chinesen getarnt in Kanada tätig sind? Oder die Russen? Die Chinesen haben ja schon fast ein Monopol bei den Seltenen Erden.
Im Labor der Steig AG waren Kenntnisse über die Anwendung von Lithium, Indium und Gallium und andere Seltenen Erden seit einiger Zeit vorhanden. In der bisherigen Zusammenarbeit mit Professor Stiller waren bereits Prototypen neuer Analysesensoren unter Verwendung dieser Kenntnisse entwickelt worden. Sie wurden zusammen mit einer begrenzten Anzahl von Kunden, Krankenhäusern und medizinischen Laboratorien, im Feldversuch getestet.
Jens fand seine Befürchtung über die Marktmacht der Chinesen in einem Bericht der Wirtschaftsnachrichten bestätigt. Chinesische Unternehmen sind stark daran interessiert, die Versorgung mit Seltenen Erden zu kontingentieren, also abzugrenzen, oder besser zuzuteilen.
Er folgerte. Das wird einen schwer kalkulierbaren Einfluss auf die Entwicklung der Kosten und damit der Preise unserer Produkte haben. Ein chinesisches Monopol könnte die Entwicklung der Steig AG deutlich beeinträchtigen. Ich muss untersuchen, ob und wie diese mögliche Abhängigkeit eingegrenzt werden kann. Können die Materialkosten durch intelligentere Konstruktion begrenzt werden? Wir müssen nicht nur in der Innovation marktführend sein, sondern auch konkurrenzfähig in der Produktion. Damit entscheidet sich auch die Frage nach einer deutlichen Alleinstellung der Produkte. Ich muss das kurzfristig mit den Kollegen der Technik und der Produktion erörtern.
Zuerst vereinbarte er einen Termin mit Stanislaw Kuszynski, dem Betriebsleiter. Ihm unterstand auch das Labor, das Zentrum des Firmenwissens. Er rückte seine Krawatte zurecht, setzte Daumen und Zeigefinger nahe beieinander auf die Mitte seines Schnäuzers und strich diesen mit gespreizten Fingern seitwärts glatt.
„Herr Kuszynski, das war ja eine aufschlussreiche Präsentation von Professor Stiller.“
„Das war mir im Prinzip schon bekannt, schließlich haben wir im Labor auch schon seit einiger Zeit mit ihm zusammen gearbeitet.“
„Leuchtet ein. Ich soll mich ja jetzt um die Kunden im Bereich Pharma und Chemie kümmern, besonders auch die Bereiche der dortigen Entsorgung. Wie sehen denn die bisherigen Erfahrungen mit den ersten Feldversuchen im Bereich Medizin aus?“
„Unser Technischer Leiter, Kollege Doering, war ja ganz scharf darauf, der erste Manager im Markt für die neue Technik zu sein und hat rechtzeitig begonnen, mit ausgesuchten Kunden Feldtests mit den neuen Geräten durchzuführen.“
„Ich werde ihn darüber befragen, damit ich seine Erfahrungen nutzen kann.“
„Ich zeige Ihnen jetzt, was wir bereits haben. Eine absolut fehlerfreie Beobachtung ist prinzipiell unmöglich. Dafür oder dagegen sprechen die sich ändernden Randbedingungen. Also Genauigkeit geht kaum über 99,999 Prozent. Daher darf man das Ergebnis einer Messung erst dann mit Sicherheit verwenden, wenn man bei Nachprüfung durch weitere Messungen eine ausreichende Übereinstimmung erzielt und die erreichte Genauigkeit richtig abgeschätzt hat....“
Jens fühlte Hörsaalatmosphäre. Es schien ihm, als würde es plötzlich nach Wachsfußboden riechen. Er träumte sich einen Moment in diese Vergangenheit zurück und sah Kuszynski an. Seine Lippen: schmale Linien. Seine Worte: dünn wie Knäckebrot, ernst wie Kanzelmahnungen. Sie kamen präzise, fast hart, wie hauchdünne Schneiden scharfer Messer. Die kühle Klarheit, mit der Kuszynski sprach, entsprach der Präzision, die von Messinstrumenten verlangt werden. Der ganze Mann war anscheinend nur korrekt. Er war lang und schmal, wie so ein Zeiger eines Messgerätes. Jens hatte ihm schon früher heimlich den Spitznahmen Zeiger gegeben und schmunzelte. Er schaute zu ihm auf, weil seine braunen Augen aufgrund seiner Körperhöhe das erforderten.
Kuszynski war Pole. Ingenieur. Er lebte schon seit dem Beginn des ersten Wirtschaftswunders in Deutschland. Er konnte sehr gut erklären und gab weitere Beweise seines Fachwissens, schilderte Zusammenhänge zunächst allgemein, dann anwendungsspezifisch detailliert und wusste auf alle fachlichen Fragen eine Antwort. Wie ein Fachlexikon auf Beinen.
„Gehen wir in mein Büro, dort kann ich Ihnen noch ein paar zusätzliche Dokumente übergeben.“
Seine Sekretärin telefonierte.
"Du, ciao, ich muss jetzt aufhören, die Arbeit! Du weißt schon. Aber war nett, dass Du angerufen hast.“
Mit dem Auflegen des Hörers drehte sie mit ihren vollschlanken Waden den Drehstuhl herum und musterte Jens von oben bis unten. Kuszynski schloss die Tür zu seinem Büro.
„Sie kennen doch Fräulein Baumann, meine Assistentin.“
Er sprach auch diesen Satz scharf und präzise. Jens spürte eine eigenartige Spannung zwischen dem Zeiger und der viel kleineren Baumann, die inzwischen aufgestanden war, um seinen Gruß mit ausgestreckter Hand zu quittieren. Auf einem Schildchen auf dem Schreibtisch stand ihr voller Name: Rosa Baumann.
Sie nutzte die Begegnung zu einer Frage:
„Sie sind eher selten hier im Betrieb und im Labor, oder?“
Kuszynski beantwortete diese Frage anstelle von Jens durch Zunicken. Sie gab sich damit zufrieden. Kuszynski stellte sich mit dem Rücken vor das Fenster seines Büros und betrachtete seine bis zur Decke reichende Birkenfeige, während er weitere Erklärungen über die Eigenschaften der neuesten digitalen Messgeräte gab. Dies tat er, ohne sein Gesicht auch nur im Geringsten zu verziehen. Jens stellte sich vor, dass er bei dieser Körperlänge sicherlich ganz dünne Beine haben müsse. Er bedankte sich beim Abschied für die überlassenen Unterlagen.
„Eine Information könnte für Sie noch von Interesse sein, Herr Jens.“
„Ja, bitte?“
„In der jüngsten Fachliteratur gibt es Hinweise auf neue Lagerstätten von Seltenen Erden. Da sind die Machtverhältnisse noch nicht geklärt. Es kann sein, dass diese Reserven, zum Teil auch auf dem Meeresboden, von erheblicher Bedeutung sind und die Monopolsituation der Chinesen verändern könnten. Zumindest kann es zu Verschiebungen in der Ausbeutung führen. Ich habe hier ein paar Artikel gelesen und auf einen Stick kopiert. Geben Sie mir den Stick bei Gelegenheit wieder zurück. Wir müssen die Chancen für die Entwicklung unserer Firma gemeinsam nutzen.“
„Danke, ich werde es studieren.“ bedankte sich Jens und ging zu seinem Büro zurück.