Читать книгу heute wirst du gehenbleiben - Gertraud Löffler - Страница 11

Оглавление

Freitag, 20. April. Weg von der Straße

Wie groß das Loch in ihrem Magen selbst nach einem ordentlichen Stück Kuchen sein musste, hatte man unschwer an dem gierigen Glanz ihrer Augen erkennen können, als sie die letzten Krümel mit der Gabel zusammen geschoben und zu einer undefinierbaren Breimasse zerdrückt hatte, um zu verbinden, was noch lose übrig da lag. Der Teller hatte beinahe gespült ausgesehen. Vor ungefähr einer Stunde hatten sie das Café ZEITLOS verlassen und Martin hatte es nicht übers Herz gebracht, sie am Parkeingang abzuladen wie eine fehlbestellte Getränkelieferung. Besser gesagt, er hatte einfach nicht gewusst, was er sagen sollte, um sie auf Nimmerwiedersehen zu verabschieden. Sie hätte sich ohnehin nicht abschütteln lassen, anhänglich wie sie sich verhielt. Wenn er kurz stehengeblieben war, hatte auch Lizzy neben ihm angehalten. War er weitergelaufen, war sie ihm wieder gefolgt. Er, Konrad Lorenz und sie, die Gans, hatten den Weg Meter für Meter fortgesetzt. Vermutlich hätte er sie anschreien müssen, damit sie die Richtung ändert, aber so ein Verhalten widerstrebte Martin derart, dass er diesen Gedanken bereits im Stadium der abstrakten Idee verwarf. Die Gans saß also jetzt an seinem Küchentisch, betrachtete ehrfürchtig eine belegte Semmel in ihren Händen und biss gierig hinein. Dabei schloss sie die Augen und ihre Kiefer begannen langsam und genussvoll zu mahlen. Ein ungewohntes Bild in seiner sonst eher unbelebten Küche. Zumal er hier selbst noch vor ein paar Stunden alleine gesessen und gefrühstückt hatte, während draußen das Räderwerk der rastlosen Berufswelt weiterratterte. Lizzy setzte zum nächsten großen Bissen an. Anscheinend war das Stück Kuchen auf dem Weg zu seiner Wohnung bereits restlos verstoffwechselt worden. Weil das Brötchen ein wenig trocken war, lösten sich ein paar einzelne Krümel und kullerten über ihren Ellbogen. Geräuschlos fielen sie auf den staubfreien Boden.

Martins Argusaugen, die gewohnt waren, über den einwandfreien hygienischen Zustand seiner Räumlichkeiten zu wachen, war dies natürlich nicht entgangen. Es ärgerte ihn, dass hier so mit seinen Sachen umgegangen wurde. Immerhin saß sie in seiner Wohnung, in seiner Küche, an seinem Esstisch und er fand es in hohem Maße ungewohnt, all dies mit jemandem zu teilen, wenn auch nur vorübergehend. Nur wegen eines Teenagers wollte er seine Wohnung auf keinen Fall zu einem Saustall verkommen lassen. Neben all dem Drill zu Hause hätten sie der jungen Dame zur Abwechslung auch ein paar Manieren beibringen können, bevor man sie auf einen gepflegten und sauberen Haushalt loslässt.

„Kannst du bitte ein bisschen mehr aufpassen und weniger krümeln?“, versuchte er vorsichtige Kritik.

Teenager konnte man mit Anregungen bestimmt besser lenken als mit strikten Verboten. Soviel hatte er bei Lizzys Ausführungen verstanden. Bevormundung mochte sie nicht.

„Ich habe erst gestern alles gesaugt und frisch gewischt.“

Das musste ihr doch einleuchten.

Aber das Mädchen vor ihm verhielt sich unbeeindruckt. Sie ließ in aller Seelenruhe ihren Blick durch seine Küche wandern, blieb immer wieder für einige Sekunden an einem Gegenstand haften und nur die winzigen Muskelbewegungen unter der feinen Haut ihrer Stirn verrieten, dass sie dabei intensiv nachdachte. Beim nächsten Bissen stürzte auch noch ein winziges Stückchen Tomate ab.

„Ups“, gab Lizzy von sich und hielt kurz ihre schmale Hand vor ihren Mund, eher weniger, um weitere Abstürze zu vermeiden, als vielmehr um ein amüsiertes Grinsen zu überdecken.

„Musst du hier so einen Dreck machen?“

Martin reagierte nun schon etwas schroffer. Die Teenagerweichspültaktik griff keineswegs. Er konnte nicht fassen, dass er als Hausherr derart übergangen wurde. Keinerlei Reaktion! Oder hatte sie ihn nicht gehört vor lauter Konzentration? Er musste vielleicht sein Anliegen deutlicher formulieren, indem er den Wert von Ordnung und Sauberkeit in seiner Wohnung im Detail erklärte. Noch bevor er loslegen konnte, nahm ihm dieses seltsame Mädchen den Wind aus den Segeln. Blitzschnell schien sie alle Gedanken, die sie vorhin punktuell in diesem Raum verteilt hatte, zu bündeln und in Form eines fest entschlossenen Blickes gegen Martin zu richten.

Sie hatte aufgehört zu kauen und hörbar geschluckt. Ihre dunkelgrünen Augen weiteten sich wie große Fensterläden und die Schlagader auf der rechten Stirnseite pochte.

„Willst du damit sagen, dass das hier für dich Dreck ist?“

Vorwurfsvoll hielt sie ihm ihre Semmel entgegen.

„Wo es Menschen in anderen Ländern gibt, die verhungern und für das, was hier auf deinem geschleckten Luxusboden liegt, kilometerlang laufen würden? Hallo? Das ist doch kein Schmutz! Wahren Dreck findest du woanders. Den kehren alle reichen Wohlstandsärsche auf Kosten der Armen unter den Teppich! Was glaubst du wieviel Unrat und Sauerei durch die Kanäle unserer Wirtschaftsbosse fließt.“

Bedächtig malte sie mit ihrer Linken einen imaginären Flusslauf in die Luft.

„Der Klärschlamm der Konzerne wabert direkt von Panama bis hierher und sickert in unsere Profitgesellschaft und verkrustet zu Oberflächlichkeit und Raffgier. Damit meine ich nicht nur große Firmen, sondern auch Leute wie dich mit einem Haufen Kohle!“

Pause.

Kurzes Luftholen.

Wie schaffte sie es nur immer diese druckreifen Satzketten zu basteln. Wie ein Artikel aus irgend so einem möchtegernpolitischen Revoluzzerjugendblättchen. Oh je, jetzt fing er selber schon an mit so geschraubten Formulierungen. Martin musste sie dringend stoppen. Die Moralpredigten gingen ihm langsam auf die Nerven, aber Lizzy spann den Text unbeirrt fort.

„Moralischer Dreck klebt unter den Fingernägeln! Und zwar unter den Nägeln aller angeblich sauberen Wohlstandshände mit denen tagtäglich sorgenfrei Lifestyle- Kaffee eingeschenkt wird aus Plantagen auf denen unterernährte Kinder in zerschlissenen Hosen und ohne Schuhe für einen Hungerlohn arbeiten…“

Kaum zu fassen. Diese halbverrückte junge Frau war schon wieder dabei, sich über gesellschaftliche Missstände in Rage zu reden, für die er nun wirklich nichts konnte. Es schien, als müsste er als Schuldiger für die Menschheit einstehen. Gescheiter wäre es, sie würde mal ein paar Sätze zurückspulen. Schließlich ging es hier lediglich um die Sauberkeit in seinen vier Wänden. Langsam reichte es ihm.

„Moment mal. Das einzige, was hier aktuell in dieser Küche passiert, ist, dass du Brot verschlingst, für das ich gearbeitet habe, und hier auf meinen Küchenboden krümelst.“

Endlich! Es war ihm gelungen, dem ersten Teil eine beeindruckende Lautstärke zu verleihen. Allerdings war die Energie schnell verpufft. Viel zu schnell wich in seiner Stimme das Aggressive dem Hilflosen. Konfrontation gehörte nicht zu seinen Stärken. So ein Theater nur wegen ein paar Bröseln. Er seufzte und strich sich mit den Fingern über die gerunzelte Stirn.

„Weißt du“, entgegnete er müde, „ich will nur, dass alles wieder so sauber ist wie vorher, als du noch nicht da warst. Das ist alles!“

Die Kleine sollte einfach nur akzeptieren, dass er es war, der hier wohnte und nicht sie. Seine Wohnung, seine Küche. Seine saubere Küche! Eine Moralapostelin fand er noch anstrengender als eine Elternrebellin. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, um auf den Tisch zu hauen. Aber er brachte vor lauter Erstarrung keinen Ton heraus. Wehrlos klebte seine Zunge am Gaumen. Herr der Lage war eindeutig eine junge Frau. Und das in seiner eigenen Küche.

Lissy argumentierte unbeeindruckt weiter.

„Siehst du! So beschränkt ist deine kleine Welt. Sag mal, merkst du das nicht?“

Ihre Frechheit radierte ihm die Farbe aus dem Gesicht.

Sie sah ihn erwartungsvoll an, so, als ob er jetzt an der Reihe wäre, reumütig einzugestehen, dass er vierzig Jahre lang mit allem, was er bisher getan hatte, völlig auf dem Holzweg war. Reglos saß Martin in seiner eigenen Küche, die ihm bisher immer Zuflucht und Ruhepol gewesen war, und starrte wie ein Statist geradeaus. Irgendwie hatte sie ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Lizzy wiederum brachte seine Passivität eher mehr in Wallung.

„Du bist doppelt so alt wie ich, aber dein Leben steckt unter einer Glaskugel fest. Weißt du das? Deine Küche ist ein Goldfischaquarium und du guckst nur stumm heraus.“

Vorwurfsvoll zeigte sie auf den Kühlschrank und den Rest der Einrichtung als erwartete sie eine Entschuldigung für Martins Unzulänglichkeiten von irgendeinem dieser Gegenstände.

In der Mitte ihrer Stirn grub sich ärgerlich die kleine Zornesfalte ihre Bahn. Ihre Augen funkelten angriffslustig. Die Luft in der Küche roch plötzlich stickig. Er könnte ein Fenster öffnen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Bleierne Schwere legte sich von hinten um seine Schultern und hielt ihn auf dem Stuhl fest. Das kannte er auch von seinen Attacken. Entweder schoss sein Kreislauf den Puls hoch wie eine Concorde oder er fühlte sich komplett paralysiert. Im Moment dominierte Letzteres. Wieder einmal holte ihn seine eigene Hilflosigkeit ein.

„Du ignorierst die große Not vieler Menschen auf dem Erdball, während du dich in deiner heilen kleinen sterilen Luxuswelt einschließt. In dem Kühlschrank da hinten“, sie zeigte erneut Richtung Kühlgerät, „befinden sich Unmengen klimaschädlicher Wohlstandsprodukte, die du mit deiner spritfressenden Bankerkarosse aus dem Supermarkt geholt hast. Du isst Avocado aus bewässerten Plantagen, während palästinensische Kinder verdursten, löffelst Frühstückseier, während Küken geschreddert werden. Du gehörst zu denen, die Steaks braten aus Rindern, die davor die ganze Erdatmosphäre erhitzt haben, weil sie im Laufe ihres Lebens riesige Mengen Methan pupsen!“

Dunkelgrüne Blicke trafen ihn, während sie einen Moment schwieg. Ihr Beispielschatz an ethischen Sünden der Menschheit schien unerschöpflich. Was für ein Feuerwerk ging nur in diesem Rebellenschädel ab? Sie musste das alles tagelang herbeigelesen oder zurechtgedacht haben. Das war doch nicht normal. Oder waren die alle in dem Alter so?

Die Erstarrung löste sich ein wenig. Martin richtete seinen Oberkörper auf und spannte unter dem T-Shirt seine unathletische Brust. Jahrelang hatte er sich wie ein Sportler in Gleichgültigkeit geübt, jetzt fehlte ihm eine kraftvolle verbale Gegenwehr, das ernüchterte. Aber ein Programm schien noch abrufbar. Notwehr. In Notwehr kamen ihm nun doch vereinzelt Argumente in den Sinn, die seiner Verteidigung dienen konnten. Auf Reflexe bei akuter Bedrohung war Gott sei Dank Verlass. Die Farbe im Gesicht kehrte langsam zurück, es kam Leben in seine todgepflegte Gemütslage. Es wurde auch Zeit! Auf seltsame Art und Weise gelang es Lizzy, Martin aus der Reserve zu locken. Irgendetwas in ihm bewegte sie. Als rüttle sie an einem unsichtbaren Hebel, der jahrelang verklemmt gewesen war, vielleicht sogar jahrzehntelang. Ein kleiner Spalt tat sich auf. Was das für ein Spalt war, konnte Martin noch nicht greifen. Hell und freundlich war er und für einen winzigen Moment konnte er eine aufmunternde Stimme wahrnehmen, dahinter Gelächter. Die Stimme gab ihm einen Ruck. Du schaffst das, sagte sie, wenn auch unverständlich und fremd.

„Jetzt mach mal halblang.“

Plötzlich fühlte er sich imstande, Lizzy etwas entgegensetzten. Und es klappte.

„Du hast übrigens auch gerade von meinem Luxusfleisch gegessen und mein Luxusbrötchen verschlungen. Du kaust und genießt hier meine Lebensmittel und hast ganz vergessen, dein eigenes schlechtes Gewissen zur Party einzuladen!“

Nicht aufhören, dachte Martin.

„Mit dem Finger auf andere zeigen, aber in der anderen Hand eine leckere belegte Semmel!“

Martin hatte sich schon lange nicht mehr Luft gemacht. Der Dampf unter dem Deckel war immer rechtzeitig in Lethargie kondensiert und lautlos zurück in den Topf getropft. Wie gut das tat! Der Druck auf seiner Stimme schleuderte den Ärger aus seiner Seele, genauso wie ein ordentlicher Hustenanfall die Bronchien reinigt. Die Wirkung blieb auch nicht aus. Lizzys Mund stand einen Moment offen und anstatt weiterer fletschender Anschuldigungen klappten ihre Zähne friedlich über beiden Semmelhälften zu.

Während das Mädchen schweigend zu Ende aß, arbeitete es in Martin ungewohnt heftig weiter.

Woher nahm diese freche Person eigentlich das Recht, ihn so abzuurteilen?

Wie kam es, dass sie ihn so in Rage brachte? Wann war er zuletzt so in Aufruhr gewesen? Er konnte sich nicht daran erinnern. Und eine Sache brannte in Martin. Die Frage, auf was sie ihn gestoßen hatte, als in seinem Kopf plötzlich aus einem fernen Winkel eine Frauenstimme nachklang wie aus einem früheren Leben. Wie ähnlich sie klangen, die von Lizzy und die andere, die er vielleicht nur halluziniert hatte! Unterschiedlich alt, aber der gleiche Nachdruck. Die gleiche Überzeugung! Der feste Glaube an das, was ausgesprochen wurde. Noch immer pochte sein Herz heftig und die Hände zitterten vor ungewohnter Erregung. Oder schlug der Virus in ihm nun endgültig zu? Heiß war es hier drinnen. Doch das Fenster öffnen? Er kippte es einen Spalt weit. Der kühle Luftzug erfrischte die erhitzte Stirn. Innen drinnen kochte es noch. Wut lässt sich nicht weglüften. Martin lief verärgert an diesem unberechenbaren weiblichen Vulkan vorbei, den er sich dummerweise freiwillig ins Haus geholt hatte. Unruhig tippelte er neben dem Tisch auf und ab. Ein Gedanke klammerte sich mit Widerhaken in seine Magengrube. Wie würde er diese feuerspeiende Unbekannte jemals wieder los?

Er war ein Fremder in seiner eigenen Küche. Wie ausgesperrt aus seiner Privatsphäre, als wäre die Türe hinter ihm ins Schloss gefallen. Sein Kopf blieb leer. Was konnte er tun? Hatte er nicht noch irgendwo eine Flasche Rotwein stehen?

Normalerweise trank er nicht, aber jetzt spürte er Gelüste nach der beruhigenden Wirkung von Alkohol, wenn der erste Schluck von innen Arme und Beine wattiert und die Gliedmaßen angenehm schwer in weiche Kissen plumpsen ließ. Wie spät war es eigentlich? Später Nachmittag.

Verdammt! Warum war es ihm nicht möglich, dem ganzen Durcheinander ein Ende zu setzen? Anstatt diese junge Dame vor die Türe zu setzen, war er es, der festsaß. Sein seit Jahren im wahrsten Sinne des Wortes fester Wohnsitz hatte sich durch ihre Anwesenheit in eine seismisch aktive Zone verwandelt. Genauso gut könnte der Boden unter ihm der Atlantik sein, durch das ein Seebeben schaukelt. Und eine unsichtbare Hand hatte sein Seelenleben in eine Nussschale gesetzt, die nun als Spielball auf den Wellen im freien Gewässer aufund ab hüpfte. Gehörte diese Hand der eigenartigen jungen Frau? Loswerden wollte er sie, und doch auch wieder nicht. Sie transportierte nicht Greifbares und genau dies griff nach ihm…

Sicherlich sollte er nicht so viel nachdenken. Besser war es, schleunigst den Anker Richtung Bett auszuwerfen, Schlaf zu tanken und das Mädchen hier unbeachtet zurücklassen. Morgen früh würde er sie hinauswerfen und vielleicht wäre sie dann aus seiner Wohnung und aus seinem Kopf für immer verschwunden. Es konnte ihm egal sein, was aus ihr wird. Schließlich kannte er sie kaum. Rein sachlich gesehen, war sie nur ein gestrandeter Teenager! Sollte sie doch lieber selber an ihren Problemen arbeiten und nicht pausenlos ihre politischen Thesen weiterentwickeln!

Er konnte ihr nicht helfen

Niemand konnte das. Morgen früh musste sie verschwinden. Oder doch jetzt gleich? Ich könnte es ihr auch sofort sagen, dachte Martin. Mach´s gut Lizzy! Nett, dich kennengelernt zu haben. Hier ist die Tür!

Stattdessen werkelte er mit dem Rücken zu Lizzy eine Weile an der Spüle herum und eine Flasche Burgunder begann zu atmen. Martin packte sie am Hals und trug sie ins Wohnzimmer.

heute wirst du gehenbleiben

Подняться наверх