Читать книгу heute wirst du gehenbleiben - Gertraud Löffler - Страница 7
ОглавлениеLizzy
ENGELSBERG
Als sie durch die Scheibe den Namen gelesen hatte, war sie spontan ausgestiegen.
Trotz des sonnigen Frühlingswetters wehte ihr am Gleis ein kühler Wind um die Ohren und zupfte frech an ihrer Jacke. Zügig verließ sie das Bahnhofsgebäude und trat nach draußen. Es wimmelte von Menschen, die irgendwo hineilten, ankamen oder gingen. Die mittlere Großstadt mit ihrem hungrigen Sog verleibte sich einen nichtsahnenden Neuankömmling ein und Lizzy verschwand in der Menschenmasse, die sich wie ein vielfüßiges Lebewesen durch die Fußgängerzone schob. Die Riemen ihres Rucksacks drückten beim Laufen ein wenig und das Gewicht zog an ihren Schultern. Aber die Beschwerden hatten keinerlei Beachtung verdient. Staunend schwamm sie mit der Menge durch die Straßen und fühlte sich seltsam gebunden und doch frei.
Echte Freiheit fühlte sich unter den Füßen leicht an; trotz der Kilos am Buckel, gegen die sich jeder einzelne Wirbel mühsam anstemmte. Endlich weg von ihren bornierten Eltern, von der Scheißschule und von diesem Scheißleben, den Scheißzwängen…
Freiheit! Yeah! In ihr blubberte das pure Leben wie in einer frisch geöffneten Mineralwasserflasche und am liebsten hätte sie einen lauten Glücksschrei ausgestoßen. Yeah!
Frei sein - bedeutete das nicht, dass es hinter dem eigenen Horizont noch unendlich weiter ging? Dass man heute tun konnte, was man morgen lassen wollte? Das Leben auf Händen zu tragen und vom Leben auf Händen getragen zu werden? In Lizzys Kopf purzelten die Gedanken wild durcheinander. Allerdings, dachte sie, hieß frei sein auch freier Fall, wenn die Stricke reißen.
„Werden sie aber nicht“, murmelte Lizzy halblaut.
Denn sie hatte vorgesorgt. Wird schon nichts Wichtiges fehlen, schwer wie der Rucksack war! Und falls es doch so wäre, würde sie es noch früh genug merken, also konnte es im Moment egal sein. Das heimliche Packen war das Schwierigste gewesen. Zornig vom Streit mit ihrer Mutter war sie mit knallender Türe in ihrem Kinderzimmer verschwunden und hatte sich eingesperrt, bis beide Eltern für eine Abendveranstaltung das Haus verlassen hatten. Der Entschluss war unumkehrbar. Sie war am Teppichboden gekniet, neben ihr der Rucksack und die Liste, die sie schon Tage zuvor angefertigt hatte. Sie hatte nur auf den großen Knall gewartet bis das Maß voll war. Der Reihe nach wurde alles verstaut. Schlafsack, Isomatte, Wechselkleidung warm und kalt, regenfeste Kleidung, Feuerzeug, Zahnbürste, Minihandtuch… Während des Packens war ihr auch die Lüge mit Tante Astrid als Alibi eingefallen.
Genial.
Unter Anwendung von Gewalt war es gelungen, die obere Schnalle gerade noch zu schließen, und der Rucksack wölbte sich wie eine gestopfte Wurst. Sie hatte das unförmige Ding auf das Bett plumpsen lassen, als ihr Blick auf den Ordnern und Büchern auf ihrem Schreibtisch hängen geblieben war. Schnell hatte sie alles in der Schultasche verschwinden lassen und sie mit dem schnippischen Kommentar:
„Ab ins Körbchen“ unter das Bett gekickt. Das Mathebuch und den Atlas noch lose hinterher. Adios Amigos.
Das war gestern gewesen und heute war sie bereits so weit weg von zu Hause wie lange nicht. Unfassbar! Eine Weile lief sie ziellos umher. Engelsberg gefiel ihr auf Anhieb. Klein genug, um sich halbwegs zu orientieren und groß genug, dass niemand einen beachtete. Vor sich sah sie einen Grünbereich etwas abseits des Haupttrubels. Sie wechselte die Straßenseite und querte die nächste Abbiegung. Dahinter erkannte sie eine größere Fläche mit Bäumen und gepflegten Sträuchern, durch die sich hübsch angelegte schmale Kieswege wanden. Es musste ein Stadtpark sein oder so etwas in der Art. Weil die Anlage hübsch aussah, schlenderte sie den erstbesten Weg hinein. Der Kies knirschte erfrischend unter ihren Turnschuhen. Lizzy sog ihre Lungenflügel bis auf den letzten Winkel voll mit duftender Frühlingsluft. Für Ende April war es mild. Über ihr zwitscherten fröhlich zwei Spatzen und schienen sich blendend zu unterhalten. Richtig schön war es hier. Inzwischen war es Nachmittag geworden und Lizzy fiel ein, dass sie sich noch nicht überlegt hatte, wo sie nachts schlafen konnte. Es würde sich schon etwas finden, man musste nur mit offenen Augen durchs Leben gehen, wie ihre echt coole Tante Astrid immer zu sagen pflegte. Bei dem Gedanken an sie glitt ein Lächeln über ihr Gesicht.
Tante Astrid war wahrhaftig ein Phänomen. Sie war neunundsechzig, kombinierte schmerzfrei pinkfarbene Jacken mit leuchtblauen Hosen und war fit von Kopf bis Fuß wie ein Turnschuh. Vor allem im Kopf! Jeden Mittwoch Nachmittag pflegte sie ihre heilige Bridgerunde, ein konspiratives Treffen mit drei anderen Oldtimerinnen, die allesamt ein durchschlagendes Zockergen in sich trugen. Bei Tee und etwas Gebäck konnte es leicht sein, dass in diesen Stunden mehrere Scheine den Besitzer wechselten und am Ende im Bauch der breitbeinigen kleinen braunen Wildsau namens „Dicke Berta“ verschwanden. Dieses Schwein fraß so lange Münzen und Papier, bis bei irgendeiner Unterhaltung ein Städtename auftauchte, der Urlaubsszenarien im Kopf freisetzte, und alle vor lauter Begeisterung das Kartenspielen vergaßen, um sofort die Einzelheiten des Ausflugs zu besprechen. Die Gruppe liebte Damenreisen. Sollte es auf ominöse Weise längere Zeit nicht passieren, dass per Zufall ein Ziel auserkoren wurde, wurde die Sau spätestens zur Jahresmitte mit entsprechendem Werkzeug notoperiert. Hochkalorisch wie der Mageninhalt oftmals war, konnte er mitunter alle vier mit dem Flugzeug für ein nettes Wochenende nach Gran Canaria befördern, wo wiederum Nachmittage lang gezockt wurde…
Ein wiederkehrender Zyklus, den die Damen „Schlachtungsfütterung“ nannten. Er funktionierte seit Jahren reibungslos. Balsam für die unstillbare Neugierde und den Tatendrang ihrer Tante. In Kombination mit einer anderen Eigenschaft erwuchs daraus fast ein energetisches perpetuum mobile an Lebensfreude, denn Tante Astrid war ein Mensch mit unumstößlichem Optimismus. Sie spielte, verlor, freute sich darüber, denn schließlich wurde das Schwein befüttert, lachte und spielte wieder und so weiter und sofort. In allen anderen Lebenslagen hielt sie es ähnlich. Wenn sie einmal ausrutschte und hinfiel, was Gott sei Dank selten vorkam, konnte es durchaus sein, dass sie über das ganze Gesicht strahlte und mit blutenden Knien und einer Schürfwunde am Kopf beglückt ausrief:
„Prima! Nix gebrochen! Ein Dankeschön nach oben!“
Und zur Feier des Tages könnte es passieren, dass sie sofort ins nächste Café eilte und auf ihr eigenes Wohl ein Gläschen Prosecco trank. Ihr positives Denken prägte ihr gesamtes Leben und schirmte sie ab vor Rückschlägen. Die Liste der Begebenheiten, in denen sich Tante Astrid klar für Glück entschied, anstatt für Unglück, war unendlich lang. Mitunter war es auch schon vorgekommen, dass ihr beim Bäcker jemand das letzte Vinschgauer weggeschnappt hatte, was äußerst ärgerlich war, wenn man wusste, welch wahren Genuss diese Semmel mit Butter und Salz für sie darstellte. Aber auch in dieser Lage gelang es Tante Astrid blitzschnell einen Schalter umzulegen und sich zu freuen, dass sie endlich einmal in Ruhe ein neues Gebäckstück probieren konnte. Wie herrlich war es doch, dass sie nicht wegen des eventuell verpassten Genusses wieder ein Vinschgauer nehmen musste!
Und noch während sie die Fachverkäuferin mit einem fröhlich altmodischen: „Fräulein - was ist denn das mit den dunklen Körnern drauf?“, ansprach, lief ihr schon in Vorfreude auf die Neuentdeckung zur abendlichen Brotzeit das Wasser im Mund zusammen. Lizzy fand sie einfach großartig und Tante Astrid trug mit Stolz die Bezeichnung Lieblingstante.
Der Kiesweg machte unter Lizzys Turnschuhen eine kleine Biegung und führte zu einer hübschen Springbrunnenanlage am Rand eines kleinen Wäldchens. Die Wasserbecken bestanden aus hellem Marmor und strahlten durch die rundlich barocken Formen etwas Märchenhaftes aus. Mehrere steinerne Engel hockten gemütlich nebenund übereinander und blickten verträumt dem Plätschern nach. Becken und Figuren schmiegten sich kunstvoll mit ihren Bäuchen an die Rückseite einer Buxhecke, deren kleine Blättchen anscheinend regelmäßig von Stadtarbeitern eine aufgeräumte Laubfrisur verpasst bekamen. Lizzy lächelte triumphierend, als sie die Botschaft auf einem kleinen Messingschild unterhalb eines der leicht bekleideten pausbackigen Engel entziffern konnte.
Trinkwasser
Stadtverwaltung Engelsberg
Wie eine Prophetin hielt sie beide Arme zum Himmel gestreckt und blickte dem Engel direkt in die stumpfen Steinaugen.
„Danke, Tante Astrid!“, rief sie.
„Danke, Bengelengel!“
Lizzy blickte streng zu dem Steinjungen mit seinen fleischigen Ärmchen und Beinchen aus hart gewölbtem Babyspeck auf, der unbeirrt weiter seinen Strahl ins Becken urinierte.
„Auch, wenn es nicht in Ordnung ist, dass du hier in die kommunale Wasserversorgung pinkelst!“, fuhr sie mit ihrem Selbstgespräch fort. Die Arme hatte sie jetzt in die Hüften gestemmt und eine klitzekleine Zornesfalte hatte sich zur Bekräftigung ihrer Standpauke den Weg von der Stirn bis zur Nasenwurzel gegraben.
„Also gut, ich erlaube es dir. Aber dann kannst du mir genauso gut auch gleich einschenken“, beschloss sie, holte aus ihrem Rucksack ihre graue Edelstahlflasche und hielt sie zwischen die Beine des Engels. Während sie den Behälter füllte, ließ sie ihre Augen über die Buxhecke schweifen. Das gepflegt gestutzte Strauchwerk war relativ dicht und breit und würde einen gewissen Schutz bieten. Vielleicht konnte man irgendwo eine Öffnung finden und darin eine kleine Höhlung ausschneiden. Die Sache mit dem Nachtlager hatte sie im Hinterkopf. Die Sonne stand bereits spätnachmittäglich tief und die hohen Bäume des Parks zeichneten grau schraffierte Umrisse auf den hellgrünen Rasen. Lizzy wollte auf keinen Fall völlig ungeschützt auf einer Parkbank enden, wo sich im Zweifel ein Penner dazugesellte. Angst hatte sie keine, aber sie war weder naiv noch doof. Ein bisschen Vorsicht konnte nicht schaden, schließlich war sie ein weibliches Wesen und in ein paar Stunden wäre es hier stockfinster und sie vollkommen allein…
Während sie prüfend ein paar Äste auseinander bog, stellte es ihre Nackenhaare auf. Als Kind schon hatte sie die Eigenschaft gehabt, plötzlich zu merken, wenn sie von hinten beobachtet wurde. Und ihre feinen Antennen hatten sie bisher selten im Stich gelassen. Schnell bückte sie sich, tat so, als würde sie etwas Verlorenes suchen und aufheben. Während sie sich wieder erhob und umdrehte, spielte sie Erleichterung über das wiedergefundene kleine Ding, das sie fest in ihrer geschlossenen Faust zu haben schien. Tatsache. Ein leicht schrullig wirkender Typ mit einer engen Lederweste und strähnigen Haaren stand regungslos an der Kreuzung des Kiesweges, die sie selbst vorhin passiert hatte und starrte direkt in ihre Richtung. Mit einem Schuh drückte er knirschend eine Zigarette aus. Fixierend und eigenartig durchdringend war sein Blick, selbst von dieser Entfernung. Er bewegte sich außerordentlich seltsam. Gestikulierte, nickte. Sofort alarmierte er Lizzys inneren Wachhund. Wegsehen oder flüchten? Ihre Muskeln spannten sich. Der Wachhund in ihrem Kopf knurrte. Sie war sprungbereit. Gott sei Dank befand sich der Kerl ein geraumes Stück von ihr entfernt. Betont langsam, um ihre innere Anspannung zu verbergen, griff sie sich ihre Sachen und verließ, ohne sich umzudrehen, die Springbrunnenanlage. Sie eilte schräg gegenüber hügelabwärts, wo nach ein paar Metern dichterer Baumbestand den direkten Sichtkontakt unterbrach. Sobald sie meinte, außer Sichtweite zu sein, setzte sie zum Spurt an. Die Fracht auf ihrem Rücken schaukelte wie ein unförmiger Kartoffelsack. So schnell sie konnte, rannte Lizzy den Hügel hinunter. Ein paar Mal stolperte sie beinahe. Kam das Geräusch der Schritte von ihr oder verfolgte sie der Typ? Lizzy keuchte. Ihre Lungen brannten wie Feuer, vor Aufregung oder wegen des Spurts. Mit einem Mal war die Idylle des Parks dahin. Kann nicht mehr, schrie sie ihr eigener Körper an. Aber sie zwang sich weiter. Ein Segen, dass Panik Energie bereitstellte, von der man nicht gewusst hatte, dass man sie besaß. Ihre Beine liefen wie eine Maschine. Ohne einen Blick zurück zu wagen, rannte sie und rannte. Neben ein paar Blumentrögen setzte sich der Kiesweg fort. Dahinter freies Feld. Sie wollte nicht ein Hase sein, der sich jagen ließ. Mist. Plötzlich erkannte Lizzy hinter den bunten runden Töpfen einen kleinen mit Unkraut verwucherten Seitenpfad. Wohl ein ehemaliger Parkweg. Ein kurzer Blick über die Schulter. Aufatmen. Niemand in Sicht. Oder hörte sie doch noch Schritte? Blitzschnell sprang sie hinter die Tröge und kauerte sich auf den Boden. So saß sie eine Weile regungslos, bis sich ihr Puls wieder im Normbereich eingependelt hatte. Außer dem ziehenden Geräusch ihrer überblähten Lungen war es still. Sie schien also alleine zu sein. Kein Bösewicht mehr im Nacken.
„Schisserbiene“, schalt sie sich selbst und rappelte sich hoch. Sie sah sich um. Niemand da.
„Mann Lizzy, du bist so peinlich.“
Eine Ausreißerin durfte keinesfalls so schnell in Panik geraten. Schließlich ging das Abenteuer erst los! Erst jetzt erkannte sie weiter unten an dem aufgelassenen Pfadende ein kiesbedecktes Rondell, an dessen Rand eine mit Brettern vernagelte kleine Holzbude stand. Verwittert, aber eine richtige Hütte. Ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer. Ein verlassener Kiosk! Wenn das nicht die Lösung ihres Schlafplatzproblems sein könnte! Nicht gerade ein vier Sterne Hotel, aber eine schlichte Behausung mit Dach und vier Wänden. Sie kam näher und rüttelte an der Türe, ohne wirklich erwartet zu haben, dass sie sich öffnen ließ.
„Wäre auch zu perfekt gewesen…“, gestand sich Lizzy ein.
Entmutigen lassen wollte sie sich auch nicht gleich. Tastend schlich sie um das kompakte Viereck aus morschem Holz. Dabei prüfte sie mit den Händen jede einzelne Latte und Kerbe auf Bewegung. Die Neugierde prickelte und ihr Rücken straffte sich. Sie wusste, sie würde hier schlafen. Sie wusste, sie würde hier wohnen. Sie war so kurz davor. Dieser Kiosk hatte ihr auf Anhieb gefallen, er passte perfekt zu ihr. Überall blätterte die Farbe ab, aber man konnte mit viel Fantasie ein postkartenreifes Bild erstrahlen lassen, das diese Bruchbude in den besten Verkaufsjahren zeigte, als sie noch in einem hübschen Strandhellblau gestrahlt haben musste, wie eine Ferienhütte an der Ostsee… Glückliche Kinder mit knallbunten Eiskugeln davor. Na also! Etwa auf Schulterhöhe befand sich eine kleine Luke mit Fenster.
„Drei, zwei, eins, meins“, murmelte Lizzy halblaut zu sich selbst und schlug, ohne zu zögern, mit einem Stein die Scheibe ein.