Читать книгу heute wirst du gehenbleiben - Gertraud Löffler - Страница 13

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Freitag, 20. April. Im Wohnzimmer

Lizzy folgte ihm auf den Fersen und holte mit der Selbstverständlichkeit einer Frau zwei Gläser aus der Vitrine neben dem Fernseher. Fabrikneu sahen sie aus. Absolut unbenutzt! Sie betrachtete sie kurz gegen das gedimmte Licht der indirekten Beleuchtung und erkannte einen feinen Schimmer Kartonagenstaub. „War fast klar“, murmelte sie und bestärkte innerlich ihre Erstanamnese aus dem Café ZEITLOS. Der Typ hatte so gut wie nie Besuch. Und schon gar nicht von einer Frau. Betont elegant platzierte sie die Gläser vor sich auf dem Couchtisch, als hätte sie das schon hundertmal getan, und warf ihre dunkelbraunen Haare zurück. Ohne zu fragen schaltete sie das Radio ein, schnappte sich ein kleines beiges Kissen, klemmte es vor ihren Bauch und machte es sich auf dem Teppich gemütlich. Die Beine angewinkelt, wippte sie lässig zum Takt von „Let me love you“, das aus irgendeinem versteckten Lautsprecher drang. Konnten auch mehrere sein. Der Sound war gut. Technisch fit, der Junge, dachte Lizzy. Das Sofa diente als Rückenlehne. So konnte man es aushalten. Schweigend saßen sie nebeneinander, Martin auf dem Sofa und Lizzy halb versetzt unter ihm. Schluck um Schluck sickerte der Burgunder in zwei völlig unterschiedliche Blutkreisläufe und setzte dort seine Schwingungen frei. Wortlos kreisten tausende Gedanken in den Köpfen, fanden aber den Weg ins Freie nicht. Martins Seufzen durchbrach nach einer Weile die Stille. Sein Zorn war verraucht. „Zum Wohl“, sagte Martin und streckte der jungen Dame hinter dem Kissen sein Glas Wein entgegen. Eine Geste, die Lizzy als Friedensangebot wertete. Seine Gegenargumente, auf die er echt lange hatte warten lassen, waren ziemlich ok gewesen. Hatte sie ihm gar nicht zugetraut. Und- bisher hatte er sie nicht hinausgeschmissen. Wäre ja sein gutes Recht. Freundlichkeit war bisher nicht ihre Stärke… Aber hier war es besser als zu Hause. Eindeutig.

„Waffenstillstand“, lächelte sie und dieses Wort mischte sich in den Klang der Gläser und der Stimme von Justin Biber aus der Musikanlage. Eine Weile lang nippten sie schweigend. Jeder hing eigenen Gedanken nach und ihre Welten, die unterschiedlicher nicht sein konnten, schienen sich über die nächste Stunde unsichtbar aufeinander zuzubewegen. Leer gewordene Gläser wurden wieder aufgefüllt. Versonnen und mit leicht geröteten Wangen wandte sich Lizzy schließlich zu Martin:

„Lebst du eigentlich schon länger allein?“

Martin rutschte langsam eine Etage tiefer und landete weich neben Lizzy auf dem Fell des Flokati. Er hielt sein bauchiges Weinglas direkt vor die Augen und ließ die dunkelrote Flüssigkeit hypnotisierend kreisen. Lizzy war gespannt auf die Antwort. Es machte ihr nichts aus zu warten. Der Burgunder hatte die Uhr angehalten.

Für einen alleinstehenden Mann kam ihr die Wohnung vor wie ein wahres Ordnungswunder. Wenn sie vergleichsweise an ihr Zuhause dachte, musste sie schmunzeln.

Ihr Vater stand oft eher wie ein sperriges Möbelstück in der Küche neben ihrer Mutter und fragte nach irgendeinem Gegenstand, den er in dem für ihn fremden Territorium nicht eigenständig orten konnte. Wo denn der Dosenöffner wäre. Na, neben den Servietten. Aber wo denn die Servietten seien? Na, in der dritten Schublade von oben. Welcher Schrank? Ach so. Hier dagegen sah alles picobello aus. Diese Tatsache wies definitiv darauf hin, dass Martin seinen Haushalt im Griff haben musste. Es schien für ihn lebenswichtig, die Dinge unter Kontrolle zu haben. Aber wo blieb die Lebensfreude? Wo waren die Gläserränder auf den Kommoden, Spuren ausgelassener Feten mit Freunden? Wo waren Urlaubsprospekte, die seine Träume verrieten? Wo waren überhaupt all die Dinge, die etwas über verborgene

Leidenschaften preisgaben? Fotos mit Freundin, Hund oder einem Motorrad? Ein Fußballpokal? Irgendeine Teilnahmebescheinigung am Leben. Dieses Appartement trug leider die Grabsteininschrift

eines innerlich verwesenden Menschen. So würde sie nie enden wollen mit vierzig. Das war klar. Der Mann war scheintot und das bestimmt seit Jahren.

„Schon einige Zeit lebe ich allein“, begann er ohne zu erwähnen, dass es vermutlich ein Jahrzehnt war, „aber das ist auch gut so, weißt du? Wenn man keine Beziehung hat, kann man tun und lassen, was man will. Man kann aufstehen und fernsehen, wann man will, essen, was man möchte, und es gibt keine totgeschlagene Zeit mit sinnlosen Reibereien, ob der Teppich rot sein soll oder ob Salat abends gesund ist. Keiner schreibt einem vor, mit wem man abends Sport macht oder ein Bier trinken geht und ob der gewünschte Kneipenabend mit dem Kumpel in Ordnung ist oder nicht. Man ist und bleibt sein eigener Herr.“

Lizzy hob die Augenbrauen und zwang sich, nicht zu erwähnen, dass er in ihrer Vorstellung gar keine Kumpelfreundschaften pflegte, die für häuslichen Diskussionsbedarf sorgen könnten. Wenn sie ihn jetzt unterbrach, würde sie seine Ausführungen ersticken, also schwieg sie. Das Kriegsbeil war vergraben und sie war nicht mehr in Stimmung für Provokationen. Es war seine Redezeit, das hatte sie begriffen und es war besser, statt großer Worte Burgunder in die durstigen Gläser zu füllen.

Martin führte weiter seine Gedanken aus, indem er alle seine Thesen an praktischen Beispielen durchexerzierte.

Dass man sich keine Gedanken machen müsse um Geburtstagsgeschenke und keinen Hochzeitstag vergessen könne, was Zündstoff wäre für wiederholte Diskussionen über Zuverlässigkeit und männliche Verfehlungen und Charakterschwächen und so weiter und so weiter.

Martin redete und redete. Der Wein hatte seine Zunge gelöst und Lizzy genoss das Wellenreiten auf seiner sonoren Stimme. Die Stimme hatte die Klangfärbung derer ihres Vaters in jungen Jahren. Und so schwamm sie immer tiefer nach innen in ihr kindliches Ich zurück, ließ sich mit dem wärmenden Burgunder in ihren Adern Richtung Süden treiben und schrumpfte im Zeitraffer wieder zu dem pausbäckigen kleinen Mädchen mit der roten Sandschaufel in der Hand zusammen und landete am tiefblauen glitzernden Meer in Süditalien, wo sie mit ihren Eltern viele Jahre lang Urlaub gemacht hatte. Unbeschwerte Wochen. Pizzen groß wie Fahrradreifen. Eis in allen Geschmacksvarianten. Die starken Arme ihres Vaters unter ihrem Bauch, als sie die ersten Züge im salzigen Wasser wagte.

Die liebevollen Hände ihrer Mutter, wenn sie erzählte, welche Tiere sie gerade mit der Sonnenlotion auf ihren Rücken malte. Barfuß durch den glühenden Sand. Vorne am Strand bleibt man stehen. Die rettende Kühlung. Eine Schaumkrone schwappt über die Knöchel und nimmt ein bisschen von der kleinen Welt unter den Kinderfüßchen mit zurück ins offene Wasser… Lizzy spürte die Wellen auf der Haut. Erfrischendes Nass. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass ihr der nasse Rand des Sockens um die Knöchel griff. Erstaunt entdeckte sie auf der Glasplatte des Couchtischs einen kleinen See. Martin hatte versehentlich die bauchige Tulpenvase umgestikuliert und unbemerkt einfach wieder aufgestellt. Ein kleines Rinnsal tropfte auf den Teppich. Weich schubste er Lizzy zurück in die Erinnerungswelt ihrer Kindheit. Der Teppich.

Leider kippte er ihr einen nicht unbeschwerten Teil vor die Füße. Früher hatte sie immer Hausaufgaben am Fußboden machen wollen. Bäuchlings auf dem warmen Untergrund. Entspannt und gemütlich hatte sie das gefunden. Natürlich hatte ihre Mutter das gleich entsetzt verboten. Man muss auf dem Stuhl sitzen.

Man muss den Stuhl richtig hinschieben, ordentlich schreiben, man darf keine Fehler machen… Lizzy fragte sich, warum jedes Ende ihrer Traumreisen einen leicht bitteren Vorgeschmack auf die schwierigen Schuljahre zurückließ, die mit Beginn der vierten Klasse eingesetzt hatten. Sie klemmte das Sofakissen fester gegen ihren Bauch und betrachtete den ungefähr vierzigjährigen Mann neben sich. Seltsam verkorkster netter Kerl. So viel geredet hat er den ganzen Tag nicht, dachte Lizzy und schnappte gerade noch den Wortfetzen “Frauen“ auf.

„Frauen“, fuhr Martin fort, „sind ein Mysterium. Astrophysikalisch gesehen kreisen wir männlichen Wesen wie Planeten um die Frau.“ Er machte eine ungelenke Armbewegung über seinem Kopf. Der Wein erhöhte die Fließgeschwindigkeit für ausschweifende Erzählungen, aber Feinmotorik reduzierte er auf grob.

„Die Frau scheint die Sonne zu sein im dunklen Universum eines Mannes, der Feuerball der Erotik und der erfüllten Liebe. Aber sie hält Distanz und bleibt unerreichbar.

Also versucht man sich alsPlanet mehr anzustrengen. Man kreist schneller und schneller, bis das eigene Magnetfeld verwirbelt und man aus der Bahn geworfen wird. Wenn man Pech hat, wird man am Ende in die leere Kälte hinausgeschleudert und kehrt nie wieder zurück. Die Umlaufbahnen von Mann und Frau berühren sich vielfach nicht, verstehst du? Und wenn doch, stoßen sich irgendwann die Pole ab. Das ist der wissenschaftliche Beweis für die Nichtexistenz von alltagstauglichem Zusammenleben.“

Martin nickte bekräftigend und Lizzy staunte über seine Ausführungen. So viel Seelenstriptease hätte sie heute nicht mehr erwartet.

Seine schwermutschwangeren Thesen konnte sie aber unmöglich stehen lassen. Politisch war vieles im Argen, aber eine mögliche gute Beziehung zwischen Mann und Frau hatte Lizzy noch nicht abgehakt.

„Rein biologisch betrachtet muss es wahre Liebe geben. Sonst hätte das Leben weder die Menschheit an sich noch diese beiden Geschlechter hervorgebracht. Sonst ergäben Mann und Frau nicht in bestimmten Konstellationen so passgenau eine Kugel.“

Sie grinste über ihre frivole Anspielung und warf Martin einen aufmunternden Blick zu. Da Martin ziemlich angetrunken war, grinste er mit dem gleichen wissenden Expertenstolz, der Männern ins Gesicht geschrieben steht, wenn jemand auf einer Party einen zotigen Witz erzählt hat.

„Eine Kugel hat weder Anfang noch Ende“, philosophierte Lizzy gespielt ernsthaft weiter, „es muss also die Unendlichkeit echter Liebe geben, oder?“

Die Nacht draußen hatte zwischenzeitlich ihren dunklen Vorhang in die Fenster gehängt und das gedimmte Licht im Wohnzimmer ließ die müden Augen hinter den halb geschlossen Lidern wie in Hängematten baumeln. Die zweite Flasche Burgunder floss in die wildesten Thesen mit ein. Lizzy hatte ordentlich einen sitzen. Sie merkte, dass sie zunehmend Schwierigkeiten bekam, ihre Worte deutlich zu artikulieren, aber es war ihr gleichgültig. Die Stimmung wurde immer tragfähiger für mehr oder weniger tiefgründige Themen. Fragen über die Welt, das Dasein und die Menschen wurden im Raum jongliert wie bunte Bälle. Lizzy liebte es, Gespräche dieser Art zu führen. Natürlich sonst ohne Alkohol. Mit zwei drei Freunden aus dem Jahrgang hatte es in der Vergangenheit das eine oder andere konspirative Treffen gegeben, bei dem interessante Artikel gelesen und leidenschaftlich bis tief in die Nacht hinein diskutiert wurde. Politisch, kritisch, philosophisch. Und vor allem heimlich. Auch vor den anderen Schülern. Die hätten sie für verrückt erklärt. Warum nachts in einem Kämmerchen labern, während zwei Häuser weiter die Bässe brummen. Einmal im Monat war sie immer von zu Hause ausgebüchst und mit dem Rad in andere Stadtteile gefahren, während ihre Eltern seelenruhig nebenan schlummerten. Ein Erdgeschoßfenster hatte auch Vorteile.

„Nichtsdestotrotz“, fing Martin nach einer Weile wieder mit dem Frauenthema an, „wenn man alleine lebt, muss man nicht die

T-Shirts anderer Menschen wegräumen oder Kaffeeflecken wegwischen oder irgendwo hinreisen, wenn man gar nicht will…“

Während er sprach, sah Lizzy mit weingemilderter Strenge zu ihm herüber und hatte plötzlich eine Idee.

heute wirst du gehenbleiben

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