Читать книгу heute wirst du gehenbleiben - Gertraud Löffler - Страница 15

Оглавление

Samstag, 21. April. Martins nächster Morgen

Martin erwachte aus einem wenig erholsamen alkoholunruhigen Schlaf und befühlte seine pochenden und erhitzten Schläfen. Fast ebenso schmerzhaft schoss ihm ein Gedanke an den gestrigen Abend durch den Kopf und er hoffte augenblicklich, dass er alles nur geträumt hatte. Er war jedoch Realist genug, um zu erahnen, dass das unheilvolle, flaue Gefühl in seinem Magen nicht ein Überbleibsel der letzten Traumphase war, sondern nackten Tatsachen entsprach.

Mit bleiernen Gliedern quälte er sich aus seinem Bett und wusste nicht, ob die Kraftlosigkeit vom Schlafmangel und übermäßigem Alkoholkonsum herrührte oder eher psychisch bedingt war in Erwartung auf den Schlamassel, den er vermutlich im Wohnzimmer vorfinden würde.

Im Moment fühlte er sich jedenfalls deutlich älter als vierzig. Das ganze Ausmaß der Demontage seiner kleinen strukturierten Welt erkannte er sofort, als er das Wohnzimmer erreichte.

Aus dem akkuraten Sofa war mit der praktischen Orientierung weiblicher Handgriffe eine funktionsfähige Schlaflandschaft entstanden. Die Rückenkissen dienten als Verbreiterung der Liegefläche und weiter unten als Fußstütze. Auf dem Couchtisch entdeckte er eine kleine Wasserpfütze. Sein Flokati Teppich war in die Rolle eines wärmenden Unterbetts geschlüpft und seine Wolldecke erwies sich als idealer Schlafsack. Darin eingehüllt, zumindest teilweise, lag Lizzy, wie er seit gestern wusste. Wirklich erst seit gestern? Musste man sich nicht eigentlich mindestens einige Jahre kennen, um sich morgens in solch einer Situation vorzufinden? Wann genau sie die Segel gestrichen hatten, um ins Bett zu gehen, entzog sich seinem Gedächtnis. Wahrscheinlich war er irgendwann bei einem Gang zur Toilette beim Schlafzimmer abgebogen und ins Bett gefallen. Und die junge Dame hatte sich im Wohnzimmer gemütlich eingerichtet. Lizzy. Einzelheiten sickerten ins Bewusstsein.

Lizzy hieß in Wirklichkeit Marie-Elise, aber der Name war ihr eindeutig zu lang und zu „bindestrichaufgedunsen“, wie Lizzy knapp mit einer abwertenden Handbewegung ungefähr bei der Hälfte der zweiten Flasche Wein kommentiert hatte.

Mit einem leisen Seufzer bewegte sich das Mädchen und deckte sich dabei noch mehr auf. Sie trug nur einen Slip und ein dünnes T-Shirt, welches die schmalen Umrisse ihres Körpers eher noch zarter wirken ließ als sie ohnehin schon waren.

Hoffentlich wachte sie nicht gerade jetzt auf! Sie würde denken, er wäre ein Spanner. Martin schlich auf leisen Sohlen zurück ins Badezimmer. Er wollte in jedem Fall vermeiden, ihr so wie sie im Moment aussah, seinerseits in Shorts und Unterhemd zu begegnen.

Nach jahrelanger Abstinenz hatte er nicht genügend Vertrauen in das elementare Denkschema seiner Körpermitte, das vielleicht einer anderen Logik folgte als sein Verstand. Vor allem nicht mit dem anregenden Restalkohol im Blut. Und dieses Mädchen gehörte klar in die Kategorie Tochter oder Schwester eingestuft.

Der Blick in den Badspiegel erhellte weitere Areale seines Erinnerungsvermögens. Sie hatten ganz am Ende ihrer teils hitzigen, teils nachdenklichen Diskussion eine Abmachung getroffen und diese per Handschlag besiegelt. Jeder hatte auf ein ihm wichtiges „Heiligtum“ geschworen, alles so durchzuziehen, wie besprochen. Er hatte auf den Tod seiner geliebten Tante Berta geschworen, der er noch vor einem halben Jahr am Krankenbett versprochen hatte, seinem Leben einen tieferen Sinn zu verleihen.

Lissy hatte etwas weniger pietätvoll auf ihren ebenfalls bereits verstorbenen Goldhamster Puffi mit entsprechend ernster Miene und erhobener Rechten ihren Eid abgelegt.

Danach hatten sie sich wie so viele Male zuvor erneut zugeprostet und verschwörerisch versonnen in ihre Gläser geblickt.

Waren solche Verträge nicht eigentlich nichtig, da sie unter erheblichem Weingenuss und damit unter nicht zurechnungsfähigen Partnern geschlossen worden waren? Und an den Inhalt erinnerte er sich, wenn er ehrlich war, nur bruchstückhaft.

Jäh schreckte ihn ein weiterer Gedanke.

Er klappte den Deckel der Toilette hoch und setzte sich auf das Oval. Die Short hing leblos an den Knöcheln.

Unwillkürlich stützte er die Ellbogen auf beide Knie und vergrub sein Gesicht in seinen Handflächen. Ein flaues Gefühl schlich sich in seinen Magen. Er hatte gestern eine Frau mit nach Hause gebracht. Eigentlich eher noch ein halbes Kind. Was mochten die Nachbarn denken?

Nüchtern betrachtet- wenn im Moment überhaupt möglich - musste die ganze Situation für Außenstehende folgendermaßen aussehen.

Er, der frustrierte Mitvierziger, hatte, weil unfähig, eine alltagstaugliche Beziehung zu einer gleichaltrigen erwachsenen Frau aufzubauen, eine Minderjährige in sein Haus gelockt (vermutlich übers Internet kennengelernt). Somit sei er seiner eigenen sicherlich seit der Kindheit aufgestauten inneren perversen Neigung zu jungen Mädchen zum Opfer gefallen, indem er eine Nacht mit ihm verbracht hatte. Wer weiß wohin das noch führen würde. Wildeste Gedankenkonstrukte der Nachbarn könnten weitere Rückschlüsse auf seine verkorkste Persönlichkeit hervorbringen und sein Ruf wäre dem Untergang geweiht. Vor seinem geistigen Auge sah er schon ihre Gesichter, wenn man sich im Treppenhaus oder auf der Straße begegnete. Ob man nicht lieber die nächsten Wochen die Tochter zur Schule und zum Gitarrenunterricht bringen und auch wiederholen solle?

Oh Gott, wie peinlich. War er doch seit Jahren darauf ausgerichtet, nach außen so politisch korrekt zu handeln wie irgend möglich. Sein persönliches Gütesiegel war Unauffälligkeit. Wer keine Angriffsfläche bot, wurde auch nicht angegriffen. Und nicht von anderen angegangen zu werden, verschaffte ihm den steten Vorsprung an potentieller Ruhestellung.

Ihm reichte schon der Trubel, den Kunden und Kollegen an manchen Tagen in der Bank verbreiten konnten. Hastiges Tippen einer Mail, hellere und dunkel klingende Stimmen im Flur, die jedes dringende Probleme zu einer temperamentvollen Melodie verquirlten, hier und da ein paar harsche Fetzten eines Streitgesprächs wegen eines Kundenkontos. Ein Herr Lüser, der Chef der Bank, wirbelte regelmäßig unten im Beratungsraum den Staub einer ganzen Arbeitswoche auf, wo es um heikle Kreditvergaben ging oder um riskante Anlagen. Wenn an guten Tagen der Strudel rund lief wie in einer gleichmäßig gerührten Tasse Tee, dann empfand Martin seinen Job als Wohltat. Aber wehe, jemand steckte einen Keil in das sogenannte Rädchen im Getriebe und blockierte es, dann stockte der gleichmäßige Lauf und bescherte Martin holprige Tage, an denen er mit Unsicherheit und Selbstzweifeln kämpfte. Wie wohltuend war es dann, am Ende solcher zerfleischender Banktage heimzukommen, die Wohnungstür hinter sich ins Schloss schnappen zu hören, das stressschweißige weiße Hemd in den Korb zu werfen und auf den weichen Kissen seines Wohnzimmersofas zu versinken. Je nach Grad der Erschöpfung konnte es sein, dass er für den Rest des Tages noch nicht einmal mehr ans Telefon ging, auch wenn es das erste Mal seit Wochen läutete. Das Sofa trug ihn gedanklich zurück ins Badezimmer.

An dem unangenehmen Kribbeln in beiden Beinen merkte er, dass er schon eine Weile in dieser durchblutungsfeindlichen Stellung auf der Schüssel gesessen haben musste. Er schreckte hoch, aber die überrumpelten Nerven der Beinmuskeln versagten den Dienst und Martin kippte wie eine ungelenke Holzpuppe nach vorne. Plumps lag er da. Ein nasser vierzigjähriger Sack. Wie er auf den Fliesen lag, bot er ein nahezu groteskes Bild. Ein erwachsener Mann in Embryonalstellung, um die Knöchel eine Hose als Fußfessel, der Nacken verbogen, da die Arme den Aufprall nicht halten konnten. Beide Ellbogen meldeten Schmerzen, obwohl die Fliesen seine Unterarme kühlten. Verdammte Scheiße.

In dieser Lage hätte es sicherlich geholfen, zur Wiederherstellung der Selbstachtung einfach über sich selbst zu lachen, sich aufzurappeln und die Kleidung zurecht zu klopfen. Aber Lässigkeit hatte seit Jahren keinen Platz mehr in Martins Leben. Eher hätte er versucht, ausgiebig die Situation zu eruieren und sie sich im Kopf zurecht zu legen. Anschließend hätte er eine Gegenstrategie für die Zukunft erarbeitet.

Warum er heute ausnahmsweise nicht analytisch reagierte, verstand er selbst nicht. Denn diesmal wurde er wütend. Die Wut kam wie ein Aufzug von ganz tief unten heraufgefahren, langsam, Etage für Etage. Unaufhaltsam. Brachte Altlasten ans Tageslicht. Verdammte Scheiße! Verdammte, verdammte Scheiße! Diese blöde Göre in seinem Wohnzimmer war an allem schuld. Was hatte die eigentlich hier verloren? Der Schmerz riss an den Unterarmen. Soll sie sich doch einfach verpissen, blöde Tussi. Wilde und boshafte Gedanken kreisten durch seinen Kopf. „Rausschmeißen, ja rausschmeißen, das mache ich jetzt“, keuchte er, „schließlich ist das meine Wohnung! Ich lass hier rein oder besser noch, ich lasse raus, wen ich will!“ Er hatte sich mühsam aufgerichtet und spürte heißes Blut in seinem Kopf pulsieren, während er die Knöpfe seiner Short schloss. Was kümmerten ihn eigentlich ihre Probleme, soll sie sich doch bei irgendeiner genauso durchgeknallten Teenie-Freundin einnisten! Er war die falsche Adresse. Hier war schließlich kein Rattenloch, wo jedes Ungeziefer von der Straße ungefragt reinkriechen konnte, wie es wollte! Seine Wohnung und vor allem sein Leben ging sie einen feuchten Kehricht an. Martin merkte, wie ihm die schweißnassen Haare an der Stirn klebten und blickte über dem Waschbecken in ein erschreckend elendes Abbild. Martin starrte sich an. Das bin nicht ich, dachte er. Seine Spiegelversion sah aus wie ein Sozialfall. Zornig strich er sich mit seiner Hand das Hemd vorne in der Jeans glatt. Der elektrische Schmerz durchzuckte sofort wieder seinen Ellbogen. Fahrig tastete er seine Arme entlang, unklar, ob er den Schmerz lindern wollte oder, um unsichtbare Ärmel hochzukrempeln. Ein schneller Griff durch die Haare. Dann riss er die Badezimmertüre auf. So, Zeit zum Aufstehen, kleines Monster. Sein Blutdruck schaukelte sich hoch auf vulkanische Werte. Der aufgestaute Zorn der letzten Jahre zeigte erstaunlichen Brennwert. Martin verließ das Badezimmer und fegte mit all seinem Unmut ins Wohnzimmer. Die abgestandene Luft im Flur geriet in Bewegung und erzeugte Verwirbelungen einer aufziehenden Schlechtwetterfront. Mit einem richtigen Donnerwetter würde er das Mädchen unnachgiebig aus seinen vier Wänden pusten…

In vollem Lauf krallte er sich in letzter Sekunde im Türstock fest und bremste so abrupt ab, dass er fast das Gleichgewicht verloren hätte. Ihm blieb der Mund offen stehen. Was er da sah, passte nicht in das Feindbild, das er sich für den Couchbereich so farbenprächtig ausgemalt hatte.

Monsterlizzy stand bereits mit gepacktem Rucksack vor ihm und lächelte ihn mädchenhaft an.

„Hör mal“, sagte sie zögerlich und tippelte von einem Fuß auf den anderen.

„Ich weiß, dass es nicht selbstverständlich ist, dass man jemandem Unterschlupf und Essen gibt. Und genau das hast du einfach so getan, ohne groß Fragen zu stellen.“

Sie pinselte ihr Kompliment mit geöffneten Händen in die Luft. Ihr Blick war klar und nixenhaft grün.

„Danke, Martin.“

Für einen Moment stand sie einfach nur da, bis ihre sanfte Stimme verklungen war. Als könnte sie im Stockwerk über ihnen jemanden um Hilfe bitten, blickte sie kurz zur Zimmerdecke und seufzte tief. Unerwartet plötzlich nahm sie Anlauf und fiel in der nächsten Sekunde Martin filmreif um den Hals. Fast schüchtern tippten ihre Lippen ein Dankesküsschen auf seine Wange. Dicht vor seinem Gesicht strahlte sie ihn mit Christkindaugen an. Martin konnte ihr Vanilleshampoo riechen und ihre pfirsichweiche Haut an seiner Wange spüren. Komplett überrumpelt blickte er sie nur stumm an. Der Zorn war sofort aus allen Poren verpufft. Meerjungfräuliche Jugendlichkeit wirkt eben entwaffnend.

Der Pfirsich-Vanille-Engel wandte sich wieder von ihm ab und ein wippender brauner Pferdeschwanz schwang sich wegwärts durch den Flur. In einer grazilen Halbdrehung warf sie ihm noch locker schwungvoll über die Schulter einen Abschiedsgruß zu. Darin eingewickelt platzierte sie elegant eine glasklare Ansage „Also, wie vereinbart, um siebzehn Uhr im Café ZEITLOS. Danke nochmal, bis später!“

Den Mantel der Schüchternheit von vorhin hatte sie irgendwie im Wohnzimmer liegen lassen und wie auf einen Fingerschnipp hin wieder gegen ihre feste Entschlossenheit eingetauscht. Sie war eine Verwandlungskünstlerin und Martin fiel voll drauf rein.

„Abgemacht?“

Die Frage blieb an der Stelle zurück, an der sie soeben noch gestanden hatte. Sie stand unbeantwortet im Raum wie ein schlecht beschriftetes Paket, dessen zukünftiger Besitzer noch ungeklärt ist. Er sah ihren Rücken im Treppenhaus verschwinden, Fußtritte, ein hallendes „Also abgemacht!“ und wumms fiel unten die Haustüre ins Schloss. Für Lizzy schien seine nicht ausgesprochene Zusage mit dem Knall bestätigt. Martin blieb wie angewurzelt auf dem Fußabstreifer zurück und schüttelte kurz den Kopf, um die Erscheinung von eben loszuwerden. Fehlsteuerung im Kopf. Scheiß Alkohol. Was war denn das für ein schlechter Kinofilm? Ungläubig zog er die Brauen zusammen und war sich nicht sicher, ob er den Kommentar „Bin ich wach oder träume ich“ sagte oder nur dachte. In der Wohnung war es plötzlich seltsam still. Die Zeiger der Wohnzimmeruhr schoben sich wie immer um die Kurve, die Kissen seines vertrauten Lieblingssofas glotzten Martin hirnlos an. Leer stand er da. Nur das fauchende Geräusch der Luft, die in seinem Brustkorb zirkulierte, gab ihm die Gewissheit, dass zumindest auf körperlicher Ebene noch alles funktionierte. Erst nach einer Weile gelang es ihm, sich aus seiner säulenhaften Versteinerung zu lösen. Mit seiner Hand hatte er sich unbewusst die ganze Zeit über oben am Türstock festgeklammert. Normalerweise fuhr man so in öffentlichen Verkehrsmitteln, deren Fahrer ungeachtet der armen Insassen meinten, über holprigen Untergrund rasen zu müssen. Genauso durchgeschüttelt fühlte er sich. Ihm war leicht schwindlig von der Geschwindigkeit der Ereignisse und von deren Ruppigkeit, die bewirkte, dass er im Moment dem Boden unter seinen Füßen nicht ganz vertraute. Das Beste wäre wohl, diese eigenartige Lizzy nie mehr wiederzusehen. Noch während er diesen Gedanken fast trotzig auf die Reise schickte, beschlich ihn das seltsame Gefühl, hörbare Stille wandere durch die Räume. Die Erleichterung, wieder für sich zu sein, war entgegen seiner gestrigen Erwartung ausgeblieben. Etwas fehlte. Als wäre die Luft zwischen den Einrichtungsgegenständen nicht an ihrem vorgesehenen Platz. Als hätte Lizzy zu viel davon aufgewirbelt und mitgenommen, als sie die Wohnung verlassen hatte. Als müsste sie zur Wiederherstellung des Gleichgewichts in irgendeiner Form zurückgebracht werden. Langsam beruhigte er sich und wagte ein paar wackelige Schritte in den Flur. Erneut folgte er seinem Unterbewusstsein. Diesmal ins Bad, wo kurz später das Wasser der Dusche rauschte. Auch wenn noch der komplette Samstag dazwischen lag, man ging schließlich nicht ungewaschen zu einer Verabredung.

heute wirst du gehenbleiben

Подняться наверх