Читать книгу heute wirst du gehenbleiben - Gertraud Löffler - Страница 16

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Samstag, 21. April. Ina

Noch schlief sie friedlich. Aber die Schweißperlen auf der zarten Kinderstirn logen nicht. Immer wieder hatte sie diese unerklärlichen Fieberschübe. Den Kinderarzt hatte sie mit ihren tausend Fragen bereits an den Rand seiner Kompetenzen gepresst und suchte ihn deshalb gar nicht mehr auf. Mit gespielter Ruhe würde er sie beide nur ein weiteres Mal mit Allgemeinweisheiten abspeisen, dabei auf seinem Arztstuhl sitzen und mit dem Fuß auf und ab wippen und sich in nervös gelangweilter Fingerakrobatik mit dem Kugelschreiber üben. In steter Bewegung am ganzen weißkitteligen Doktorenkörper, sprungbereit zu einer von den Diagnoselisten der Krankenkassen nicht vorgesehenen Flucht ins Blaue. Abarbeiten des Fragekatalogs. Vermutungen. Erklärungsversuche. Es sei nur ein Entwicklungsschub, manche Kinder hätten Albträume, manche Fieber, ob es Konflikte im Kindergarten gebe mit anderen Kindern. Für Ina bedeuteten medizinische Themen ein Maschenwerk aus Fragezeichen, woran einzig und allein die Gewissheit geknüpft war, sich als fachlicher Zwerg in diesem riesigen wissenschaftlichen Mysterium nur hoffnungslos zu verheddern. Für Spezialisten fehlten schlicht und ergreifend Zeit und Geld und so beschrieb seit einem Jahr eine Fieberkurve das schwankende Auf und Ab ihres kleinen Familienlebens. Glücklicherweise folgten die freien Intervalle in verhältnismäßig langen Distanzen, sodass sich zwischenzeitlich so etwas wie gesund geglaubte Normalität über alle Sorgen legen konnte. Bis zum neuen Schub. Es fühlte sich an wie sommerliche Hitze, feucht, gewitterschwer, Unheil verkündend. Der glänzende Film auf der feinen Haut ihrer Tochter und die dampfige Luft, die bei jeder angestrengten Ausatmung aus der Bettdecke entwich, sprachen Bände und verlangten nach genesendem Schlaf. Trotzdem würde sie ihre Tochter wecken müssen, würde sie in den Fahrradanhänger setzen und sie mit ins ZEITLOS nehmen. In der Küche gab es eine kleine Ecke mit Decken und Kissen, wo des Öfteren ein kränkelndes Kind zwischen Stofftieren hervorlugte. Obwohl zerbrechlich, und ein wenig zu klein für ihr Alter, war Sophie ein süßes Mädchen. In die Schule ging sie noch nicht. Erst im Herbst würde es soweit sein, was das Betreuungsproblem vermutlich verschärfte. Ina liebte den Anblick ihrer Tochter. Sie hatte krauses dunkles Haar und blaue Augen, eine seltene Kombination, und unzählige kleine Sommersprossen in dem sonst blassen Gesicht. Heute aber klebte das Haar flach und feucht an der Stirn und die Lider waren geschlossen. Es ging ihr schlecht, das sah ein Blinder. Glücklicherweise gab es Josepha, die Küchenhilfe. Sie reichte in solchen Fällen regelmäßig Tee, wenn Sophie auf dem Krankenlager lag, und Ina konnte ihrer Kleinen ab und an zumindest über die Stirn streicheln oder im Vorbeigehen aufmunternd und liebevoll zulächeln, was von den Besuchern unbemerkt blieb. Wie weggeblasen verschwand jedes Mal an der Türschwelle zum Gastraum der fürsorgliche Glanz in Inas Augen und wurde ersetzt durch dunkle Schatten unter den Lidern, während die Mundwinkel versteinerte Freundlichkeit lieferten. Sie hatte keine Wahl. Sie musste auch heute unter diesen Umständen zur Arbeit gehen, sie brauchte das Geld. Ein Babysitter war eindeutig zu teuer und sie konnte die monatliche Miete nicht aus dem Ärmel schütteln. Beatrice, die Besitzerin des Cafés, war Gott sei Dank selten da und wenn nicht gerade wieder ein Journalistenteam im Laden aufkreuzte und alle Abläufe durcheinanderwirbelte, um für irgendein Szenemagazin einen völlig überflüssigen Artikel über das ZEITLOS zu schreiben, dann könnte sie Sophie unbemerkt in der Küche auf ihr Krankenlager legen. Josepha hielt dicht. Ina rieb die heißen Schultern und Sophie blickte ihr aus einer fernen gläsernen Welt entgegen, bis sie verstand, wo sie war.

„Aufstehen, mein Schatz.“

Ina lächelte tapfer und Sophie lächelte matt zurück.

heute wirst du gehenbleiben

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