Читать книгу heute wirst du gehenbleiben - Gertraud Löffler - Страница 14

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Freitag, 20. April. Frau Haller

Frau Haller nutzte gerne im Kinderzimmer die Gunst der Stunde. Ihre Tochter Lizzy befand sich bei Tante Astrid. Diese Tatsache bescherte freie Fahrt für detektivischen Spürsinn. Sie klappte gerade die Matratze wieder zurück auf den Lattenrost. Keine Liebesbriefe und keine Heftchen mit fraglichem Inhalt für pubertierende Mädchen. Ihre Tochter sollte sich geradlinig auf ihre Prüfungen konzentrieren. Das ist im Moment das Einzige, wofür ihre Energie aufgebracht werden sollte. In der Spur bleiben hieß die Devise. Frau Haller versuchte die Tagesdecke wieder ordentlich zu glätten, polsterte Dekokissen wieder fein säuberlich ins Eck. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Unbemerkt war ihr Mann in der Tür erschienen und verdrehte die Augen.

„Du tust es schon wieder, Margit. Lizzy ist jetzt gerade mal ein paar Tage auswärts beim Lernen und du kontrollierst schon ihr Zimmer. Wenn du in den letzten Tagen nichts gefunden hast, wirst du das auch die nächsten Wochen nicht. Lass es gut sein, Margit.“

Dirk Haller hatte nebenbei mit gezieltem Griff an den Krawattenknoten seinen Kehlkopf vom Druck des Tages erlöst und steckte die Hände in die Taschen seines eleganten Zweiteilers.

„Entschuldige bitte, aber ich muss nochmal kurz ins Arbeitszimmer. Die Verhandlungen für das Einkaufszentrum in Rhode stocken“, schob er tonlos nach und dehnte seinen Nacken einmal rechts und einmal links, bis es knackte. Eine Angewohnheit, die ihm die ständigen Verspannungen und seine inzwischen in die Jahre gekommenen Gelenke aufgezwungen hatten. Müde und vielleicht ein bisschen enttäuscht ließ sich Margit auf Lizzies Bett sinken und hinterließ mit ihrem schmalen Körper eine kaum erkennbare kleine Mulde.

Das Bild einer Mutter, die zu oft in einem leeren Kinderzimmer

gesessen hatte, wenn ihre Marie-Elise in der Schule oder bei der Theatergruppe war. Ein Szenario für Verlustgedanken oder Sorgen oder von beidem etwas. Erstaunlich, wie Mutter und Tochter einander äußerlich glichen.

Margit verkörperte auf verstörende Weise die gealterte Version von Lizzy. Sehnige Arme und Schultern wie die eines geschmeidigen Rehs, dazu die braunen halblangen Haare, die auf die schmalen Schultern fielen, und die smaragdgrünen Augen, die bei Aufregung oder Ärger immer eine Spur dunkler zu werden schienen. Jeder Schwiegersohn in spe brauchte beim ersten Treffen im Elternhaus nur einen kurzen Händedruck mit Frau Margit Haller zu wechseln, um die Version seiner Liebsten in 20 Jahren vor sich zu haben. Ein vager Vorgeschmack darauf, wie sein zartes Prinzesschen von heute später als mütterliche Königin aussehen würde. Hoffnungsvolle Zukunftsaussichten. Nur der Kleidergeschmack von Margit war altersbedingt ein wenig gediegener als der ihrer Tochter. Schließlich war man ja nicht irgendwer. Mit Firma und Wohlstand im Rücken konnte man nicht modisch gebückt daherkommen. Ein stets standesgemäßes Erscheinungsbild für Frau HallPlanum war unabdingbar, wobei sich der wohlsituierte Status der Familie nicht auf ihre Bemühungen zurückführen ließ. Sie hatte, wie eine Freundin salopp zu sagen pflegte, „hinaufgeheiratet“. Ursprünglich war sie eifrig tippend und telefonierend im Vorzimmer von Dirk Haller auf und abgelaufen mit wippender Hüfte und etwas zu häufigem Zurechtschütteln ihrer glänzenden langen braunen Haare. Schon am Tag der Einstellung bei HallPlanum vor über zwanzig Jahren war ihr sofort klar gewesen, dass sie diese Chance nicht ungenutzt verstreichen lassen würde. Dirk Haller, ihr Chef, war groß, breitschultrig und ein Mann voller Charisma. Eine exzellente Partie. Die damals dreißigjährige Margit aus bürgerlichem Hause war fasziniert von Dirks Weltgewandtheit im Umgang mit seinen Kunden aus aller Herren Länder, seiner Zielstrebigkeit bei den Projekten und seiner Fähigkeit die Arbeit als spielerische Pflichtübung zu balancieren und dabei auch noch unverschämt gut auszusehen. Er optimierte seinen eigenen Körper mit der gleichen Akribie mit der er sein Planungsbüro führte, ging morgens joggen und stemmte in der Mittagspause Gewichte. Er brauchte wenig Pausen und Schlaf und erschien immer energiegeladen zur Arbeit. Und die war nicht immer einfach. Aber ihm ging alles von der Hand. Hochkonzentriert schob er Probleme, die unerwartet auftauchten, wieder zurück ins Nichts und begegnete trotz hoher Belastung Mitarbeitern mit solider Freundlichkeit. Diese wirkte auf jeden in seiner Nähe wie eine Vitalspritze beim Hausarzt. Mit ruhiger Hand und dem Wissen um die bedingungslose Gefolgschaft seiner Angestellten, lenkte er den HallPlanum-Tanker selbst durch international unruhiges Gewässer. Bis heute hatte sich daran nichts geändert. Ihr Mann war immer noch ein charmemaskulines Wunderwerk trotz seiner reifen fast fünfzig Lebensjahre. Sie hätten glücklich sein können.

Nostalgie der Vergangenheit, dachte Margit und strich über die karierte Patchworkdecke. Farben verblassen, Holz vergraut, Lack blättert ab. Das Unternehmen lief nach wie vor gut. Im Gegensatz dazu schrieb leider die Beziehung rote Zahlen. Äußerlich trug Margit ihre innere Verfassung mit stoischem Gleichmut. Bis hin zur Perfektion spielte sie in der Familie die Treusorgende, als Person Margit, die patente Manövrierfähige, als Ehefrau die Leidenschaftliche und im Büro erfüllte sie die Rolle der Miss HallPlanum. Alles andere wäre gesellschaftlicher Selbstmord. Das quadratische Vorzimmer bedeutete für sie ihr täglicher Wirkungskubus. Aber seit etwa sieben Jahren eroberte eine faltenfreie, vollbusige Kollegin halbtags Zentimeter für Zentimeter ihres kleinen Reichs. Warum sie ihr Mann eingestellt hatte, hatte sie nie verstanden. Bisher hatte es auch gereicht, dass sie, Margit, da war. Und nun saß zu ihrer Entlastung dieses Weibsbild im Raum. Seit Jahren. Mehr und mehr stempelten Rillen ihrer Kaffeetassen Abdrücke in das dunkle Eichenholz, wucherten Ableger ihrer Zebrakrautpflanze über Familienfotos der Hallers, auf denen Dirk und Margit am Strand in Südspanien eine kreischende Lizzy in die Luft werfen.

Welche Zentimeter die jung dynamische Gisela eventuell noch eroberte, wollte Margit gar nicht im Detail wissen. Nichts wissen schien ihr erträglicher als Gewissheit. Die Blicke, die Gisela ihrem Chef zuwarf, ließen genügend Raum für Spekulationen, wenn man wollte.

Revier verteidigen war für Margit allerdings nach gründlicher ökonomischer Abwägung nicht das probate Mittel. Sie hatte sich für Hierarchie zelebrieren entschieden, indem sie regelmäßig an deren Schreibtisch mit Arbeitsaufträgen vorbei stolzierte, und hatte das Kerngeschäft ihres Daseins auf jemand anderen verlegt. Wieso sich mit Goliath anlegen, wenn David greifbarer ist. Die Davidfigur war weiblich, hieß Marie-Elise und wurde fortan verstärkt mit Argusaugen überwacht. Unermüdlich kreiste der mütterliche Helikopter seither über mündlichen Noten, Seminararbeiten und Stundenplänen. Kombiniert mit Freizeitaktivitäten und bildenden Künsten wie Chor, Theater und Sport war es gelungen, den Tagesablauf ihrer Tochter in ein eng getaktetes Format zu pressen. Zu viel freie Zeit fördert zu viel freiheitliches Gedankengut, war Margits Glaubenssatz. Und Glaubenssätze waren die Dirigenten ihres eigenen Tagesablaufs. Sie rieb mit den Händen den Stoff ihrer Jeans, bis ihr Oberschenkel warm wurde. Wie lange sie schon hier saß, entzog sich ihrem Zeitgefühl.

„Wenn ich herausfinde, dass sie heimlich einen Freund hat, gibt es richtig Ärger“, murmelte sie ins Halbdunkel. Stimmengewirr drang von der Straße ins Innere des Hauses. Nebenan tippte Dirk rhythmisch bilanzwirksame Sätze in seinen Computer. Während sie lauschte, drehte sie gedankenverloren ihren Ehering und hätte um ein Haar nicht gemerkt, dass sich dieser versehentlich von ihrem schlanken Finger löste und ungeschickt zu Boden kullerte. Margit bückte sich, um den dichten Teppich abzutasten. Mist, wie konnte ihr nur so ein Ungeschick passieren. Fast streichelnd fuhr sie mit der flachen Hand über die weiche Oberfläche. Eher zufällig drehte sie dabei den Kopf, um eine Sichtung der paar Quadratmeter unter dem Bett vorzunehmen. Ein goldenes Schimmern. Da war er ja! Aber was war denn das daneben? Der Stapel Schulsachen, der hier ruhte, ließ sie fast den Ring vergessen. Ranzen und Bücher unter dem Bett? Die brauchte Lizzy doch, um zu lernen. Alarmglocken schrillten hellrot in ihrem Kopf und sofort waren ihre Instinkte hell wach. Margit rannte in den Eingangsbereich, riss das Handy aus ihrer Ledertasche und wählte sofort Tante Astrids Nummer.

„Ja, hier Astrid Wegerich? Gerne und immer wieder für Sie da!“ Tante Astrid liebte unkonventionelle Begrüßungen. Margit war nicht nach Scherzen zumute. Sie kam ohne Umschweife zum Punkt.

„Wie geht’s Lizzy?“

Tante Astrid dachte einen Moment nach. Erst gestern hatte sie mit Lizzy ein kurzes, aber witziges Telefonat gehabt. Ja, ihr Eliserl meldete sich seit Tagen ungewohnt häufig, erzählte von ihrem Lernstoff, dem bevorstehenden Abitur und Zukunftsplänen. Als Tante genoss man solche Phasen ohne groß zu hinterfragen. Man wusste ja nie, wie lange diese Kontaktanfragen anhielten.

„Ja prima. Wie denn sonst.“

Seltsam, dass Margit sie nach Lizzy fragte. Sie brauchte doch nur in ihr Zimmer gehen und mit ihr reden. Eltern konnten sich manchmal merkwürdig verhalten, wenn es um die eigenen Kinder ging! Trotzdem fuhr sie fort:

„Sie lernt fleißig für ihre Prüfungen, wie du ja sicherlich weißt. So ein strebsames Mädchen. Da kann man stolz sein, oder?“

Margit stieß einen erleichterten Seufzer aus. Sie musste sich die wichtigsten Dinge herausgenommen oder kopiert haben oder wer weiß, wie die jungen Leute heutzutage lernen. Froh über das Lob von seitens ihrer Schwester gab sie sich mit der Aussage zufrieden. Wenn Tante Astrid der Meinung war, ihre Nichte verhielt sich zielorientiert auf das Lernen, dann musste es wohl so sein. Schließlich bekam sie täglich mit, wieviel Pensum bearbeitet wurde. Also entspannte sie sich und nutzte die Gelegenheit, sich nach ihrer Schwester zu erkundigen und ihr Anerkennung auszusprechen für ihre bereitwillige Unterstützung.

„Und wie geht’s dir? Ich hätte nie gedacht, dass du dir das in deinem Alter noch antust. Toll machst du das. So viel frischer Wind um die Nase…“

Tante Astrid forschte in ihren Hirnwindungen rückblickend nach einer Begebenheit oder einem Zeitpunkt, bei dem sie ihrer Schwester hätte erzählt haben können, dass sie auf Kur an der Ostsee war. Eigentlich wusste keiner davon. Der Plan war gewesen, sich heimlich für eine Weile aus dem Staub zu machen. So eine Art Auszeit. Sabbatical of daily activities. Aber ihr Vorhaben schien nicht so richtig zu funktionieren. Ihr kam es beinahe so vor, als ob in letzter Zeit eher noch mehr Menschen anriefen als sonst. Unglaublich! Eine kräftige Böe riss an ihrem Mobiltelefon.

„Frischer Wind kann man wohl sagen“, antwortete Tante Astrid und zurrte die Jacke fester.

„Aber alles gut. Mach dir keine Sorgen. Hier ist alles straff durchorganisiert. Es geht vorwärts. Übrigens so ein Aufenthalt auf Zeit wirkt wie ein wahrer Jungbrunnen…“.

Ein wenig verwundert runzelte Margit die Stirn und ging in die Küche. Das Mobiltelefon klemmte noch an ihrem Ohr. Keiner sprach. Astrids Äußerungen sickerten nur tröpfchenweise in tiefere Schichten, dampften ein zu einem Filtrat der seelischen Erleichterung. Ihre Tochter Lizzy lernte anscheinend fleißig und wirkte auch noch wie ein Jungbrunnen. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Das konnte auch nur jemand sagen, der frei war von Kontaktallergien mit Pubertierenden. Der die täglichen Schürfwunden nicht kannte, die man sich an der ruppigen Schale einer achtzehnjährigen Tochter holen konnte. Astrid schnaubte am anderen Ende der Leitung ungeduldig. Ohne an der fernen Ostsee eine Antwort abzuwarten, schickte die Kururlauberin kurzer Hand in das Telefon ein enthusiastisches „Dir auch alles Gute. Und Schnussibussi zurück!“

Und nach zwei Schmatzgeräuschen, mit denen normalerweise Katzenbesitzer ihre Lieblinge anlockten, war die Leitung still. Schnussibussi. Typisch Astrid.

heute wirst du gehenbleiben

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