Читать книгу heute wirst du gehenbleiben - Gertraud Löffler - Страница 9

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Freitag, 20. April. Café ZEITLOS

Verschieden große pausbackige Engelchen aus Metall hingen als filigranes Windspiel über der Eingangstüre und umrahmten musikalisch die Ankunft des ungleichen Paares in dem wohl gemütlichsten Café der Welt. Eine bemerkenswerte bauliche Tiefe im Inneren legte sich wie ein schützendes Zeltdach über diebeiden neuen Besucher. An der Decke des Raumes schwebten die schweren Flügel eines Ventilators aus Havanna. Stilvolle Ungetüme in Mokkabraun. Die Farben harmonierten gut, denn im Kontrast dazu führten an den laubgrün gestrichenen Wänden in regelmäßigen Abständen lange schwarze Linien bodenwärts. Alles wirkte dadurch großzügig oval. Künstlerisch gesehen, war die Andeutung des Zeitzonennetzes der Weltkugel großartig gelungen. Große Milchglasfenster mit Holzfensterläden an der Straßenseite ließen genügend Helligkeit ins Innere, versperrten aber den direkten Sichtkontakt zur Außenwelt.

Niemand vermisste den Blick auf das gehetzte Treiben vorbeieilender Menschen und deren geräuschvoller Fortbewegungsmittel. Orchideen und Kaffeeduft sorgten hier drinnen für eine angenehm wohlige Atmosphäre. Es war, als befände man sich in einer Art Zwischenzeitzone, in der die Hektik der Welt ein ganz klein wenig stillstand. Zumindest für die Stunde, in der man einen Cappuccino in einem der weichen Ohrensessel mit Patchworkkissen trank oder ein Stückchen des hausgemachten ökologisch und ethisch unbedenklichen Kuchens probierte, der einen aus einer mehrstöckigen Vitrine in der Mitte des Cafés wie aus einem riesigen Süßwasseraquarium anlachte. Rübenschnitten, Rhabarbertorten, Minztaler. Alles, was das Herz begehrte, lag darin. Die Namen der Köstlichkeiten standen als Entscheidungshilfe darunter. Liebevoll kalligraphisch handgeschriebene kleine Schildchen brachten alle Naschkatzen dazu, viel länger als geplant davorzustehen und mit dem Zeigefinger am Glas dieses verlockenden Schaukastens entlangzufahren.

Alle fing hier das gleiche magische Gefühl ein. Wenn man dieses Café besuchte, tauchte man ab. Jeder auf seine Weise. Dieser Ort glich einer Zeitkapsel, einem eigenen kleinen Universum, in dem man für eine Weile verschwinden konnte. In der Mittagspause, vor Einsamkeit, zum Zeitunglesen oder zum Chatten mit der australischen Freundin vom letzten Backpackertrip. Ob das Café ZEITLOS ein Platz für Weltenbummler und Spinner war, für einfache Angestellte oder Leute aus Chefetagen, blieb jedem selbst überlassen. Die Stühle und Sessel teilten sich Queraussteiger in abgewetzten Mänteln, reiche verwitwete Senioren oder Studenten mit klammer Kassenlage. Hier verhockten Diskutierer, Philosophierer oder einfach Leute, die Wert auf fair gehandelten Kaffee legten. Dass dieses Café ein besonderer Ort war, begriff zweifelsohne jeder, der einmal von den zarten Klängen der Engelchen begrüßt worden war. Die Atmosphäre dieses Raumes griff auf jeden über. Ein bisschen so, wie nach Hause kommen.

Nur für die junge Kellnerin Ina bedeutete das metallische Lied nicht Auszeit, sondern angestrengte Arbeit. Ein kurzer Blick auf die beiden Neuankömmlinge, ein kurzes Nicken Richtung Zweiertisch im Eck und schon war sie mit ihrem Tablett wieder in der Küche verschwunden. Zu tun gab es für Ina immer genug im rege besuchten Café ZEITLOS. Seit langem schon schmiss sie quasi den Laden allein. Beatrice, die Inhaberin, hatte es geschafft, sich hier einen Lebenstraum zu erfüllen. Sie selbst zog es eher vor, nur gelegentlich vorbeizukommen und ansonsten Ina alles zu überlassen. Immer, wenn sie miteinander sprachen, war sie voll des Lobes und überschlug sich fast mit Sätzen wie „du bist einfach eine fantastische Frau“. Oder platzierte gekonnt ein „irgendwann schenke ich dir das hier alles“.

Das waren ihre Durchhalteparolen an Ina und erstaunlicherweise funktionierte diese Konstellation bereits seit Jahren gut. Beatrice war aufgrund einer Vielzahl von Auslandsaufenthalten selbst überall auf der Welt zu Hause und schwirrte auf den Kontinenten umher wie ein umtriebiger Kolibri. In Anlehnung an ihre vielen Reisen hatte sie ihr „Schmucklcafé“, wie sie es liebevoll nannte, eingerichtet. Herzstück dieses gastronomischen Schmuckkästchens und Namensgeber waren die zahlreichen Uhren, die einige Quadratmeter der Wände ausfüllten. Wenn man den Blick schweifen ließ, erkannte man Raritäten verschiedenster Epochen. Sogar antike Wertstücke befanden sich darunter, mit barocken Rundungen und einer guten Handvoll Blattgold als Verzierung. Hin und wieder hatten sich an freien Wandbereichen kleine bunte Inselchen dazwischen gemogelt. Dort wuchs stetig eine lebende Collage aus Postkarten sämtlicher Regionen der Erde, die teilweise Beatrice selbst oder Gäste an ihr Café geschrieben hatten, wie an eine gute Freundin. Wo all die Uhrwerke herkamen, konnte Beatrice vor ihrem geistigen Auge exakt zuordnen. Jedes hatte seine eigene Geschichte und war wie ein siamesischer Zwilling verwachsen mit Menschen und deren Schicksalen und ihren Herkunftsorten. Wenn Beatrice einmal länger im Lande war, saß sie manchmal tagelang im Café und erzählte ihren Gästen nach einigen Gläsern kräftigem Port die eine oder andere Anekdote. Dann wurde aus dem Café ein Märchenzelt und die Gäste hörten gebannt zu und es konnte vorkommen, dass ein wichtiger Geschäftstermin oder ein Date darüber vergessen wurde. Trotz der Fülle anwesender Uhren, auf die man hätte sehen können. Hätte können…

Über den Köpfen der Gäste mahlten die Räderwerke unterschiedlichster Exemplare. Ein kunstvoll geschwungenes Designerstück tickte neben einer rustikalen Schwarzwälder Kuckucksvariante. Die Zeiger von unscheinbaren Küchenuhren liefen um die Wette mit leise im Kreis schnurrenden Armen von Mickey Mäusen in qiuetschbunten Plastikgehäusen. Hinten in einer Ecke lehnte wie ein großer bärenhafter Beschützer eine breitschultrige Standuhr aus Mahagoniholz. Ihr tiefes und durchdringendes Brummen hörte man zu jeder vollen Stunde. Man fühlte sich ein bisschen wie in einem Museum. Lebendiges Schwirren, das von den unterschiedlichsten Geräuschen der Uhrwerke kam, erfüllte den Raum und wurde unterschwellig zu einer eigenen Musik im Kopf der Gäste. Ein Grundrauschen, ein warmes Pulsieren.

Dieses Café hatte seinen eigenen Herzschlag.

Martin und Lizzy querten den Raum bis zu dem kleinen Zweiersitzplatz neben der breitschultrigen Standuhr. Die Kellnerin hatte sie mit einer derart dezenten Kopfbewegung in diese Richtung gewiesen, dass die beiden dachten, selbst entschieden zu haben, dort sitzen zu wollen. Kurz später war bestellt und zwei Behälter, ein Glas Tee und eine Tasse Kakao, standen dampfend auf dem runden Tischchen. Neben ihnen saß ein grauhaariger Herr mit ebensolchem Bart, schätzungsweise Mitte fünfzig, und eine junge Frau Ende zwanzig. Ein nicht minder ungleiches Paar wie sie selbst. Martin konnte nicht umhin, die beiden zu mustern. Ein Blondchen mit flehenden Augen, die permanent auf den älteren Mann gerichtet waren, als wollte sie ihn blauäugig hypnotisieren. Ihr Erscheinungsbild wirkte hilflos naiv. Jede Wette, dass es sich um das Kindermädchen der Familie handelte, die ohne Ausbildung und Schulabschluss in eine lukrative Tätigkeit in einem gut betuchten Haushalt gerutscht war, schlussfolgerte Martin. Lieb, aber doof. Martin und Lizzy saßen erst einmal schweigend auf ihren Plätzen. Keiner wusste so genau, was man sprechen könnte. Zwei Fremde bei Tee und Kakao. Am Brunnen war die Unterhaltung leichter gewesen. Ungezwungen, weil zufällig. Das hier war geplant. Nebenan aufgeregte Diskussion. Vielleicht um Gehalt oder um ihre aufgeflogene Affäre. Martin spitzte die Ohren. Überall tickte und murmelte es. Worüber es genau ging, konnte man auf die Schnelle akustisch nicht fassen und es tat auch des Weiteren nichts zur Sache. Ihm gegenüber saß ein dringenderes Problem.

„Also, wo brennt´s?“, fragte Martin endlich. Auf dem Weg hierher waren sie schweigend nebeneinander gelaufen, wie Unbekannte, die sie letztendlich auch waren, und seine Neugierde auf Lizzys Geschichte war gewachsen. Lizzy saß ihm gegenüber und rührte zufrieden in der cremigen braunen Masse in ihrer Tasse. Kakao war Medizin, das wusste Martin, und er ölte vielleicht Lizzys Stimmbänder. Vor ihm stand ein Tee mit Schuss. Gut gegen Viren.

„Ich weiß gar nicht, warum ich dir alles erzählen soll“, begann sie und wischte sich mit Daumen und Zeigefinger einen winzigen Kakaorand aus den Mundwinkeln.

„Es ist schon merkwürdig. Wenn man achtzehn ist, erwarten alle, dass man erwachsen und vernünftig ist. Ich fühle mich aber nicht so.“

Sie drehte die noch verpackte Kakaobohne in Schokomantel zwischen den Fingern. Sie hatte als Dekoration auf der Untertasse gelegen. Das Plastik knisterte.

„Daran sind eindeutig meine Eltern schuld. Zu Hause sollte ich immer das Superkind sein. Eines zum Vorzeigen in der Familie und bei Freunden, eines, mit dem man ´ganz vorne mit dabei war´, wie sie immer sagten. Schon als ich klein war, band mir meine Mutter hässliche Schleifen in die Haare, beschloss, dass meine Lieblingsfarben dunkelblau und rosa waren und kaufte mir alles, einfach alles in diesen wie sie sagte edlen Farbtönen. Auch heute noch heißt es: geh aufrechter, lache nicht so laut, und wenn du studieren gehst, kaufen wir dir ein Apartment, damit du nicht mit irgendwelchem Gesindel wohnen musst. Ich will aber nicht, dass ständig jemand über mich entscheidet. Da kriegt man ja keine Luft!“

Lizzy blickte von der Kaffeebohne auf und sah Martin direkt an. Ihre grünen Augen hatten einen matten Schimmer. Ihr Blick fing seine Aufmerksamkeit ein. Als könnte ihre innere Energie ihn bündeln, zog sich Martins Unruhe, die ihn seit heute Morgen quälte, auf einen konzentrierten Punkt in seiner Mitte zusammen und gab ihm ein eigenartig intensives Gefühl von Präsenz. Auch Lizzy war mit allen Sinnen im Gespräch. Keiner von beiden nahm wahr, dass der Disput am Nebentisch zwischenzeitlich etwas lauter geworden war. Lizzy erzählte weiter.

„Sie legten fest, was ich anzuziehen hatte, um immer gut auszusehen. Es gab klare Anweisung, was ich essen durfte, um gesund zu sein und schlank zu bleiben, und sie bestimmten, wie ich meine Freizeit verbringen sollte.“

Ihre Stimme nahm an Lautstärke zu, vielleicht auch aufgrund des anschwellenden Streits des Pärchens neben ihnen.

„Sie waren die großen Beschützer und Bestimmer.“

Lizzy vollbrachte wieder eine dieser ausladenden Bewegungen, die Martin noch vom Park her an ihr kannte. Aus Lizzy sprudelten die Sätze wie aus einem aufgedrehten Wasserhahn.

„Montags Klavierunterricht, dienstags Englischgruppe, mittwochs tanzen, donnerstags lernen, freitags- ach, was weiß ich. Immer stand irgendwas auf dem Plan und hatte angeblich für später einen hohen Nutzen. Ist das nicht krank?“

Sie drehte die Augen fragend zur Decke, wo der Ventilator aus Havanna seine braunen Kreise zog. Beide offenen Handflächen lagen erwartungsvoll auf dem Tisch. Wollten vielleicht eine herabfallende Antwort auf die große Frage nach dem Warum, die hinter all den Ausführungen steckte. In Martin erweckte diese Geste für einen Moment die Assoziation, Lizzy sei ein hübsch gemaltes Bild in einem starren dunklen Holzrahmen. Schnell blinzelte er es wieder weg. Nicht abschweifen, logisch denken. Gaben Eltern mit festen Begrenzungen Schutz oder Gefängnis? Ein Kind, ein verletzliches Wesen, braucht doch äußeren Halt, oder? Grenzen. Brauchte nicht jeder Grenzen beziehungsweise hatte man sie nicht unweigerlich? Er spürte seine eigene körperliche Wärme und den leicht feuchten Film auf seiner Haut. Jeder steckt doch in sich selbst fest und kann nicht aus. Jeder auf seine Weise. Eltern in ihrem Elternding. Teenager in ihrer Entwicklungsphase, Erwachsene in ihrem Erwachsenending.

Martin merkte, wie er zu schwitzen begann. Kam die Hitze von seinem Tee- oder doch Fieber? Wie sagt man bei Säuglingen? Reizüberflutung. Das konnte auch der Grund sein für seine Symptome. Eingefleischte Gewohnheiten machten nicht gerade flexibel für das richtige Leben, das hier gerade vor ihm saß in Fleisch und Blut. Er konzentrierte sich wieder auf Lizzy, die gerade die häuslichen Reglementierungen weiter ausführte, vermutlich, weil weder havannische Weisheit von der Decke fiel noch Martin seine Sicht der Dinge preisgab.

„Die ganze Kindheit verbringst du damit, optimiert zu werden für das Erwachsenenleben. Du wächst heran Zentimeter für Zentimeter. Am Anfang bist du noch knuffelig und knautschig, ein kleines Gummikind, und deine Eltern versuchen schon, dich in Form zu kneten. Ich sollte gut werden, nein besser oder die Beste! Dabei haben sie aber nicht bedacht, dass sich irgendwann aus dem kugeligen Lockenschopf mit Kindchenschema der Dickschädel eines Teenagers aushärtet.“

Mit ihren Knöcheln klopfte sie ein paar Mal gegen ihre Stirn.

„Der süße Puppenkopf ist einfach zu groß geworden! Und übrigens, liebe Eltern, er kann selber denken! Aber ständig wollen sie mich irgendwohin lenken, wollen die Fäden in der Hand haben. Ich bin doch keine Marionette!“

Lizzy nahm einen Schluck und schaute mit traurigen Augen zu Martin. Die Schultern schienen ihren Kopf fast zu verschlucken, so weit waren sie hochgezogen. Als wollte sie in sich selbst verschwinden. Der Kuckuck aus der Schwarzwalduhr unterbrach das kurze Schweigen.

Wie war eigentlich seine eigene Kindheit gewesen? Eigentlich war alles in Ordnung gewesen. Er war viel draußen im Freien herumgetollt, hatte Fußball gespielt, ja klar, und auch mal büffeln müssen für irgendeine Prüfung. Aber an die Kindertage zu denken, war nicht unangenehm. Es fühlte sich satt und weich an. Seine Eltern hatten ihn nie eingesperrt, zumindest nicht eingeschränkt. Und wenn er Trost gebraucht hatte, waren sie doch immer da gewesen, oder? Vor allem, nachts, wenn er sich wieder einmal nach einem Traum im Dunklen gefürchtet hatte, hatten sie sofort das Ganglicht angeknipst. Und er war wieder eingeschlafen. Mit einem lauten Klacken fiel die Türe des kleinen Holzkastens über ihnen zu. Der Vogel war wieder in der programmierten Versenkung verschwunden. Wieder blieb Martin eine Antwort schuldig.

„Meine Eltern sind echte Karrieretypen, verstehst du? Und ich soll genauso werden.“

Lizzy tippte energisch gegen die Tischplatte.

„Das ist der Plan.“

Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Unterarme.

„Ich werde da aber nicht mitmachen.“

Die Traurigkeit von vorhin hatte sich verflüchtigt und einem entschlossenen Gesichtsausdruck Platz gemacht. Ihre grünen Augen bekamen wieder das wilde smaragdgrüne Funkeln.

„Weißt du, ich habe alles so satt. Das Gefühl, dass jeder Winkel meines Lebens ausgeleuchtet wird. Das Trimmen auf Produktivität!

Ich glaube, ich wohne daheim in einem Geburtshaus für die ganz große Kohle. Jedes einzelne Zimmer bringt auf seine Weise Euros zur Welt, pflegt sie oder dient ihrer Vermehrung. In der Luxusküche meiner Mutter werden Häppchen zubereitet für Gäste in superteuren Manageranzügen. Diese Herren konsumieren dann gedankenlos Kaviar, während sie dann im Wohnzimmer über Gewinnmargen und Renditen diskutieren.“

Teile ihrer Schilderungen hätten in einer Fachzeitschrift abgedruckt werden können. Ungewöhnlich exakt skizziert und ausformuliert. Wie auch schon am Brunnen. Ihre Sprechweise war so untypisch für chaotische Teenager. Wie sehr sie aus der Norm fiel, wurde Martin immer bewusster. Und sie hörte nicht auf zu sprechen. Sie schien Gefallen gefunden zu haben an ihrer eigenen Geldvermehrungsthese im Eigenheim ihrer Eltern.

„Im Arbeitszimmer meines Vaters, in dem er die meisten Stunden des Abends verlebt, brennen Energiesparlampen, die Centbeträge sparen, während er am Schreibtisch über Millionensummen entscheidet. Selbst das Schlafzimmer meiner Eltern unterliegt dem Gesetz der Kostenoptimierung! Hier im Brutkasten der Zukunft wurde ich gezeugt! Marie-Elise, ihr ganzer Stolz. Die wahre Schatztruhe des Hauses ist also mein Kinderzimmer. Bin ich.“

Theatralisch legte sie ihre flache Hand auf die Brust. Aber die Pause währte nicht lange. So tief wie sie Luft holte, kündigten sich eindeutig mehr Details zu ihrem Familienleben an. Ihre Augen drückten völliges Unverständnis gegenüber der total verfahrenen häuslichen Situation aus.

„Ständig heißt es, ´wenn du einmal die Firma übernimmst´ oder ´das brauchst du später, wenn du Verhandlungen führen musst´ oder ´den Überblick über die wirtschaftliche Lage muss man immer behalten, sonst wird man abgehängt.´ Ich kann solche Sätze schon nicht mehr hören! Immer denken sie nur daran, wie sie mich nach vorne schieben können. Ich erinnere mich noch daran, wie sie vor ein paar Jahren Plakate der Schultheateraufführung in der Stadt haben hängen sehen. Die nächsten Wochen waren ein Drama! Pausenlos löcherten sie mich, ich solle dort so schnell wie möglich auch mitmachen. Die Hauptrolle sei mir so sicher wie das Amen in der Kirche, bei meinem Talent. Und das war nicht alles. Selbst beim Tennis meldeten sie mich an, weil sie der Meinung waren, ich könnte Spitzenplätze erobern und Pokale gewinnen. Ohne mich vorher zu fragen! Fehlt nur noch die Solostimme im Chor! Ich will aber nicht dauernd nach ihrer Pfeife tanzen, ich will leben, verdammt noch mal!“

Lizzy hielt inne. Sogar das streitende Paar am Nachbartisch war verstummt. Ihre Stimme war ohne Absicht immer lauter geworden. Ein paar Leute drehten sich erstaunt zu ihnen herum, um zu sehen, was los war. Lizzy schien davon unberührt, aber Martin fand die Situation peinlich. Wie sie beide hier saßen, mussten die Leute den Eindruck haben, die junge Frau gegenüber schimpfte über ihn. Er war es nicht gewohnt, zum Mittelpunkt des Geschehens zu werden. Etwas betreten sah er auf den Tisch hinab. Der Kakao war fast leer und das zerrissene Plastikpapier der Schokobohne lag verloren neben dem Unterteller, wusste nicht, wohin es sich verkriechen sollte. Leer und übrig geblieben. Heimatlos wie dieses Mädchen, dachte Martin. Lizzy trank einen Schluck, während sein Blick noch eine Weile an dem Glanzpapier haftete. Endlich fanden die Gäste neben ihnen ihre Gesprächsfäden wieder und er sah zu Lizzy auf, nachdem sie leise den Fettanteil der Schokolade von den Stimmbändern geräuspert hatte. Sie lehnte sich etwas nach vorne, damit Martin hören konnte, was sie sagte. Verwundert vernahm er eine Gegenfrage. Leise und gedämpft äußerte sie diese. Ihr war anscheinend auch aufgefallen, dass ein Gespräch mit weniger Lautstärke genauso zielführend war. „Wie ist das denn bei dir?“

Ihre Stimme hatte ihre warme Samtigkeit wiedergefunden.

„Arbeitest du auch den ganzen Tag lang und manchmal nachts? Opferst Schlaf und freie Zeit für eine fette Monatsabrechnung?“

Martin fühlte sich wieder etwas besser, nachdem er nicht mehr beobachtet wurde. Die bildhafte Erscheinung von Lizzy im Rahmen kam für einen Moment zurück, löste sich aber schnell wieder vollständig auf. Vor ihm saß ein fragendes Gesicht. Ein Mensch aus Fleisch und Blut, der ernsthaft wissen wollte, wie es ihm geht, wenn auch etwas provokant verpackt. Martin stellte fest, dass ihn ihre Zuwendung ein wenig rührte. Er dachte nach. Die Balance zwischen Arbeitsaufwand und Geld war ausgeglichen. Genug Schlaf und Freizeit hatte er auch. „Wofür verdienst du dein Geld?“

Je länger er mit der Antwort wartete, desto mehr konnte er erkennen, dass der trotzige Blick zurückkehrte. Das Grün bekam wieder diesen dunklen herausfordernden Schimmer. Unbewusst hatte sie die Hände zu kleinen Fäusten geballt, auch das war ihm nicht entgangen. Die Knöchel formten weiße Hügelchen. Jetzt erst merkte er, dass er bisher fast gar keine Aussagen geliefert hatte. Die einzige, die sprach war Lizzy.

„Willst du mal ein Haus kaufen oder Klunker für die Frau?“

Sie hielt jäh inne. Ihre Augen wie Pfeile auf das Ziel gerichtet. Martin war ihr seit geraumer Zeit eine Antwort schuldig. Warum konnte er nichts erwidern? Er kam sich plötzlich wie ein Idiot vor. Gerade holte er Luft für eine Erklärung, da war schon wieder Lizzy schneller.

„Verheiratet?“

Martin hielt ihrem bohrenden Blick nicht stand und wandte sich ab. Die Pause wurde zu lange für ein unbekümmertes Ja.

„Wusste ich es doch“, Lizzies flache Hand knallte auf die glatte Tischplatte, „sonst würdest du nicht hier mit einer Achtzehnjährigen sitzen.“

Die Standuhr im Eck gongte kurz, ein langgezogenes keuchendes Rasseln folgte am Ende. Mit viel Fantasie hätte man es als ein entschuldigendes Räuspern wegen der Ruhestörung deuten können. „Hobby?“

Martin überlegte und knetete sein rechtes Ohrläppchen. Sie drängte ihn ordentlich in die Enge.

„Au weia, ein schwerer Fall“, seufzte Lizzy und sah Martin immer noch eindringlich an. Mit weiblichem Spürsinn fügte sie offensichtlich die klobigen Puzzleteile eines Psychogramms über ihn zusammen und ihre gerunzelte Stirn druckte einen bedenklichen Erstentwurf aus.

Martin starrte sie entgeistert an. Dieses Gespräch befand sich im freien Fall. Wenn man das überhaupt so nennen konnte, wenn einer von zweien schwieg. Um sein Unbehagen zu lindern, rutschte er ein wenig auf dem Holzstuhl hin und her. Er hatte das Gefühl, sich endlich gegen die Vorwürfe dieser jungen Dame verteidigen zu müssen. Lizzies spitze Pfeile hatten sich ungewollt in eine weichere Schicht unter einer mühsam über die letzten Jahre ausgehärteten Schale gebohrt und saßen nun im empfindlichen Fleisch. Seine darunterliegende einsame Seele jaulte geräuschlos auf und lag da, wie angeschossenes Wild.

Martin musste dringend mit dem unruhigen Sitzen aufhören, es sah mit Sicherheit lächerlich aus. Wie ein Schuljunge, der in die Hosen gepisst hat. Die Wand hinter Lizzy begann zu schwanken. Kurz fühlte er das Holz der Erstklässlerbänke. Hart. Dann den rauen Bezug der Mehrzweckstühle in der Aula beim Abitur. Hernach die Klappsitze der Uni. Der Schulterblick in die eigene Vergangenheit ließ ihn schwindelig werden. In jungen Jahren war er selbstverständlich davon ausgegangen, irgendwann zu heiraten, Kinder zu bekommen, Grillfeste mit Freunden zu erleben und in den Urlaub zu fahren. Er war davon ausgegangen, Herr über den Zeitpunkt zu sein, wann eine passende Frau auf die Bühne treten sollte, um dem narzisstischen Kreisel, in dem sich bis dato Martins Leben drehte, den Rang abzulaufen. Die Unizeit war die beste gewesen. Die Jugend ergoss sich damals über ihm wie ein Wasserfall und er stand darunter in der frechen Erwartung, dieses Frische, Prickelnde würde nie versiegen. Wie anders war alles gekommen. In einer zufälligen schwarzen Sekunde war ein Steinchen unter die Türe, die zur großen Freiheit führte, geraten. Von nun an klemmte sie und ließ sich partout nicht mehr öffnen. Schottete ihn ab vom Rest der Welt.

Alleine sein tut gut, aber Einsamkeit schmerzt, wenn man sich derer bewusst wird. Diesen verwundbaren Bereich hatte er jahrelang dem aktiven Zugriff entzogen und in einem weit hinten in der Erinnerung befindlichen Dachbodenspeicher verstaut. Spinnweben und Staub hatten nach und nach alles schichtweise zugedeckt. In ein paar Jahren hätte noch nicht einmal er selbst nach diesen alten Behältnissen gefragt. Das Vergessen wäre der Freund der Gleichgültigkeit geworden.

Martin musste tief durchatmen, um wieder Farbe unter seine leeren Wangenknochen zu pumpen. Er zwang seine Gedanken zurück an den Zweiertisch.

Lizzy schien nichts von seinem inneren Gefühlsausbruch zu bemerken. Vielleicht hatte sie es einfach aufgegeben, aus Martin brauchbare Aussagen heraus zu kitzeln. Nach ihrer gnadenlosen Ferndiagnose hatte sie vom Thema abgelassen und blickte gebannt zur Kuchenvitrine, aus dessen Glasbauch Ina ein wundervoll saftiges Stück Erdbeerrhabarber zauberte wie einen Geist aus der Flasche. Unvermittelt knurrte der kleine hungrige Wolf in Lizzys Magen und hätte wohl gerne zum Sprung angesetzt. Was Martin nicht wusste, seit dem gestrigen Tag, an dem sie abgehauen war, war das Loch in ihrem Bauch ein ständiger Begleiter. Für Martin kamen die Protestgeräusche aus Lizzies Magen wie gerufen, lenkten sie doch gekonnt von ihren unangenehmen Fragen ab. Dankbar winkte er Ina. Zwei von den Rhabarberschnitten lagen noch in der Vitrine. Er würde sie bestellen und Lizzy friedlich stimmen. Leute, die aßen, kamen zur Ruhe. Einzig und alleine der Vorwurf, ein „schwerer Fall“ zu sein, wirkte noch ein wenig beklemmend nach. Aber er durfte sich keinesfalls die Blöße geben, verletztes Opfer zu spielen. Ein wenig Ehre steckte noch in seinen alten Knochen. Die zarte pfeilschießende Amazone hatte offensichtlich großen Hunger. Lieber setzte er ihr ein Stück Kuchen zum Fraß vor als sich selbst.

heute wirst du gehenbleiben

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