Читать книгу heute wirst du gehenbleiben - Gertraud Löffler - Страница 6
ОглавлениеMartin
Fast lautlos rollte der schwarze BMW auf den markierten Parkplatz für Angestellte. Obwohl die abgedunkelten Scheiben den Mann hinter dem Steuer perfekt verdeckten, musste es ein Mensch sein, der das Fahrzeug steuerte. Autonomes Fahren für die breite Masse war leider noch Zukunftsmusik. Wenn es irgendwann technisch möglich wäre, würde Martin darauf zurückgreifen. Dann säße hier eine verlässlichere Institution als er. Schwitzige Hände drehten das Lenkrad. Die dampfige Feuchtigkeit seiner Handflächen hinterließ neblige Ränder auf dem glatten Kunststoff. Dieses Phänomen war für ihn unweigerlich mit dem Fahren eines Autos verbunden, seit langem schon. Für die meisten anderen Menschen war es der Geruch von Benzin und von Ledersitzen und das tiefe Brummen der Pferdestärken. Vielleicht künftig das sanfte Schnurren eines Elektroantriebes? Der Blinker tickerte, einbiegen, parken, ein kurzer Blick auf den Beifahrersitz. Phantom der Oper. Zwei Karten, vorletzte Reihe. Großes Haus. Sie würden verfallen. Sie waren bisher immer nach ein paar Wochen verfallen. Trotzdem würde Martin im Internet wieder neue bestellen. Er zog den Zündschlüssel ab, öffnete die Türe und atmete tief durch. Knapp eine halbe Minute später verschwand Martin in dem modernen Glaspalast mit der roten Aufschrift des örtlichen Geldinstituts, die über der elektrischen Drehtüre leuchtete. Die Bank war für ihn der Ort, an dem er sich als Mensch Martin ungestört befinden konnte, ohne direkt zu Hause zu sein. Das war arbeitsvertraglich fest geregelt und musste nicht Tag für Tag hinterfragt werden.
Das war gut so. Diese zwei Punkte, die Bank und sein Zuhause verankerten ihn auf diesem viel zu groß geratenen Globus und gönnten ihm einen Platz der Ruhe, frei vom täglichen Druck, Entscheidungen für sich als Person fällen zu müssen. Hätte man sein Leben als Rhythmus klopfen wollen, hätte es ungefähr so geklungen: Bank, Bank, Bank, Bank, Bank, Samstag, Sonntag. Bank, Bank… Könnte auch der Herzschlag eines Berufslebenstoten sein. Was, wenn er gar kein Mensch war, sondern ein moderner Arbeitsroboter? Ein auf Produktionsabläufe programmiertes Wesen, das stur dem Algorithmus folgen müsste, den ihm ein fähiger Informatiker statt einer menschlichen Gensequenz eingehaucht hatte. Strikt müsste er dieser Taktung nachkommen. Seine Gliedmaßen hin und herschieben in einem begrenzten Bewegungsraster. In einem fremdbestimmten Dasein mit Linie, Struktur, Ordnung. So überaus schlecht wäre die Vorstellung vielleicht gar nicht, wenn auch absurd. Denn festgelegte Ordnung bedeutete Abwesenheit von Chaos. Und jegliche Form von Verwirbelung war in Martins Leben unerwünscht.
Gedankenspiele dieser Art begleiteten Martin seit längerem auf Schritt und Tritt. Schlichen sich immer wieder als virtueller Gesprächspartner an seine Seite. Oft war er darin versunken und sein Gesichtsausdruck bekam dann etwas Entrücktes. In solchen Momenten konnte es passieren, dass zufällige Passanten, ohne dass es ihnen bewusst war, an ihm vorbei- oder durch ihn hindurchblickten. Auch sonst redeten nicht viele Leute mit ihm, was ihm insgeheim entgegenkam, denn dann konnte er ungestört nachdenken. Zum Beispiel über Dinge wie diese: Die Natur war für ihn ein glasklarer Beweis dafür, dass er mit seiner Ordnungstheorie, die er sich zurechtgelegt hatte, Recht behalten würde. Die ganze Welt enthielt einen Bauplan aus Abertausenden von Molekülen, deren Atome eine feste Anordnung hatten. Jedes Wesen hatte eine Struktur und bestand aus einer Vielzahl von Genen und einer Abfolge von Aminosäuresequenzen. Allem lag ein geordneter Plan zugrunde und dieser sorgte dafür, dass ein Blatt ein Blatt war und eine Maus eine Maus. Auch nur geringe Abweichungen beispielsweise bei der Zellteilung, die jedes Lebewesen millionenfach exerzieren musste, sorgten für heilloses Chaos und führten zu Krankheit und im schlimmsten Fall zum Tod… Auf dem heiligen Sockel dieser Lehre beruhte Martins gesamte Lebensführung und sorgsam pflegte er sie als steinerne, unbewegliche Basis. Peinlichst genau betrieb er in seinem beruflichen und privaten Umfeld einen täglichen Kraftakt an Strukturierung und Planung, welche dem Zweck diente, konsequent Chaos zu vermeiden. Seit Jahren trug Martin diese Zwangsjacke aus selbst auferlegten Prinzipien, die ihn einerseits wärmte und Sicherheit gab, ihn aber als Mensch mit all seinen Empfindungen erstarren ließ. Irgendwann nach Jahren hatte er aufgehört zu hinterfragen, ob sich etwas ändern würde. Ob man in der Mitte des Lebens nicht noch etwas spüren müsste. Ob nicht das nasse Hemd eines Sommerregens auf der Haut und der Duft der Freiheit erstrebenswerter wären als Sicherheit. Stattdessen folgte er plump selbstgezimmerten Gesetzmäßigkeiten. In etwa in der gleichen Art, wie ein Zugvogel seiner Natur nachkam, indem er unbeirrt nach Süden flog, egal, welche Strapazen damit verbunden waren, Hauptsache, man konnte im Warmen überwintern, ohne Risiko, zu erfrieren. Wie lange er schon so lebte, wusste er nicht und vermied es zu hinterfragen. Er tat es nicht und andere auch nicht. Wer schon? Einzig und allein sein Vorgesetzter versuchte es hin und wieder. Halbjährlich zitierte er ihn zu einem Entwicklungsgespräch in sein Büro, faltete seine Hände auf dem Schreibtisch wie zum Gebet und sah ihn erwartungsvoll mit seinen dunklen Augen an. Die nächste Viertelstunde spulten sie dann das typische Frageantwortspiel ab. Wo er sich in fünf Jahren sehe, wie er seine Leistung einschätze, ob er Fragen oder Kritik habe, Wünsche oder Anregungen. Seinerseits holte sich Martin die Bestätigung, dass die Führungsetage zufrieden war und die Zahlen passten. Irgendwann schob sein Chef mit der flachen Hand die Brille hoch und sagte:
„Mein Gott Herr Steiner. Möchten Sie nicht doch irgendwann einmal etwas weiter nach draußen schwimmen?“
Daraufhin zuckte Martin mit den Schultern, das Gespräch war beendet und ihm war es damit für ein weiteres Mal gelungen, unter allen Herausforderungen erfolgreich hindurch zu tauchen. Sein Handy schrie acht Uhr und sein schlechtes Gewissen spitzte die Ohren. Im Laufschritt eilte Martin das Treppenhaus hinauf in den zweiten Stock des Bürogebäudes. Die untergeklemmte Bürotasche stabilisierte seinen rechten Arm eng am Körper, während die freie Hand ungelenk an seiner Seite ruderte bei dem Versuch, das Tempo zu steigern. Der Sprint ließ ihn heftig atmen und zwang ihn, einen Moment am Treppenabsatz der ersten Etage stehen zu bleiben. Tröstend war die Aussicht darauf, dass spätestens in neun Stunden sein Pensum geschafft sein würde. Dann konnte er zufrieden nach Hause fahren und den Rest des Tages in Ruhe ausklingen lassen. Endlich oben. Im zweiten Stock befand sich der Wirkungsort seines täglich zu entwirrenden Geflechts aus Zahlen, Fakten und Daten der Personen, die damit unweigerlich verknüpft waren. Sein Arbeitsplatz. An die letzte Stufe schloss sich ein lang gezogener Flur an mit verschiedenen Büroräumen. Ganz hinten am Ende befand sich Martins Reich, das durch ein farbloses Namensschild und einer dreistelligen Nummer besiegelt war. Wie jeden Morgen kam er zwei Zimmer vorher an der Wirkungsstätte seiner Kollegin Katharina vorbei. Als er sie hinter ihrem Schreibtisch sah, winkte er wie gewohnt für einen flüchtigen Gruß. Die Türe stand wie immer sperrangelweit offen, ein Faktum, das sich eingebürgert hatte, um einen reibungslosen Austausch von Akten und Kaffeetassen und vor allem von Neuigkeiten zu gewährleisten. Die Sache mit dem Flurfunk nahm Katharina, wie alle in der Bank wussten, sehr ernst und sie galt deshalb auf dieser Ebene als Anlaufstation. Geselligkeit entsprach ihrem Naturell. Der einzige, der kaum mit ihr sprach, war Martin und so lief er auch heute geschäftig weiter. Er dachte an die Musicalkarten in seinem Auto. Gott sei Dank hatte er sie auf dem Beifahrersitz vergessen!
Folglich konnte er sie gar nicht fragen, selbst wenn er gewollt hätte. Eiligen Schrittes nahm er für einen Bruchteil einer Sekunde noch wahr, wie Katharina ihm zulächelte und sich eine dunkle Haarsträhne zurückstrich, die sich beim flüchtigen Durchsehen einiger Notizzettel aus ihrer Steckfrisur gelöst haben musste. Ihre Augen strahlten durch die braunen Teller ihrer Brille. Weiblich wohlgeformte Rundungen versteckten sich in einem schicken beigen Cordrock und unter einer hübschen, bunt bedruckten Bluse. Ohne Frage. Sie sah toll aus. Aber die Arbeit rief. Die Finanzierungspläne warteten. Oben auf Martins Aktenstapel lag der Businessplan von Herrn Polarsky, einem Mann Anfang dreißig. Ihm als Banker stellten sich jedes Mal aufs Neue alle Haare auf bei dem Gedanken an ein Leben in Selbstständigkeit. Welcher Teufel ritt diese jungen Männer, die es wagten, sich auf so unsicheres Terrain zu begeben. Kein vernünftiger Mensch sprang bereitwillig mit Schwung in das Haifischbecken der freien Wirtschaft. Man wurde entweder im Konkurrenzkampf zerfleischt oder man kam als Sieger mit Beute wieder heraus. Ob Ersteres oder Letzteres passierte, stand in den Sternen und verlangte eine dicke Haut und Durchsetzungskraft. Martin zog den Hut vor so viel Mut, aber das Abarbeiten solcher Unterlagen war stets ein Graus. Immer schwankte er zwischen Bewunderung und Mitleid. Mit seiner Unterschrift für die Bewilligung des Kredits würde künftig das Leben der Existenzgründer an einem seidenen Faden hängen. Über die Jahre hatte sie Gott sei Dank an Leserlichkeit eingebüßt. So trug die Grabinschrift zumindest nicht den deutlich sichtbaren Namen Martin Steiner.
Martin hob den Kopf. Hatte Katharina heute wieder dieses Veilchenparfum aufgetragen? Er meinte, im Flur einen dezenten Frühlingsduft wahrgenommen zu haben…
Kurz nach acht betrat er sein Büro und widmete sich der Pflicht, indem er den harten Deckel einer Mappe aufschlug und zu lesen begann. Sie hatte sich vermutlich vorhin einen Kaffee geholt, denn in der Begleitung des Veilchendufts schwebte unverkennbar eine Nuance Röstaroma. Währenddessen lagen auf dem Beifahrersitz noch immer zwei „Phantom der Oper“-Karten. Egal. Martin schnäuzte geräuschvoll und strich sich kräftig über die Wange.
Existenzgründung. Angelbedarf. Geschäftsräume Stadtrand Süd. Für die nächsten Stunden verstellten die Ordner auf seinem Schreibtisch die Sicht auf alles außerhalb von Finanzierungsplänen. Katharinas Rundungen schienen fern wie ein kreisender Planet einer anderen Galaxie und bewegten sich doch nur durch einen Raum gleich nebenan. Ein paar kniffelige Berechnungen schafften es, die sexuellen Gefühle eines Mitvierzigers in den besten Jahren in ein solides Zahlengebäude einzumauern.