Читать книгу heute wirst du gehenbleiben - Gertraud Löffler - Страница 8

Оглавление

Freitag, 20. April. Martin

Der Autoschlüssel lag in der kleinen Holzschale. Immer lag er in der kleinen Holzschale. Genau wie die feinen Lederschuhe stets oben links im Schuhschrank standen und jeden Morgen auf ihre Pflichtübung warteten, ihren Besitzer ins Büro zu begleiten. Eine Hand griff nach dem Mantel, der ordentlich auf einem Bügel hing, zog ihn herunter. Der gut gebaute Körper, zu dem die Hand gehörte, verschwand darunter. Wortlos kommentierte der Spiegel das Aussehen der Person, indem er das Bild eines Mannes mittleren Alters zurückwarf. Mit den glatt gekämmten Haaren einer Standardfrisur, die ein kantiges, aber gründlich rasiertes Gesicht einrahmte.

Einem inneren Schutzmechanismus folgend versuchte Martin auf seinem Weg durch das Treppenhaus, keinen Gedanken zu fassen. Leere war das Beste. Er verließ das Haus wie jeden Morgen über die schwere Feuertüre zur Tiefgarage. Diese befand sich gegenüber und ein halbes Stockwerk tiefer als der Haupteingang, wo sieben mit Namen beschriftete Briefkästen Schulter an Schulter auf ihre postalische Befüllung warteten. Sie würden sich noch ein wenig gedulden müssen. In diesem Teil der Stadt kam der Postbote nicht vor elf.

Das Metall der Türe fiel mit einem dumpfen Knall ins Schloss. Eilig durchquerte Martin das schummrige Betongrau und steuerte direkt auf die Ecke zu, in der sein Auto parkte. Nichts denken. Nichts denken. Schritte zählen. In der unterirdischen Stille vermengte sich das Klackern seiner Lederschuhe mit dem dumpfen Hämmern hinter seinem Brustbein. Sein Herz schlug viel schneller als seine Beine liefen. Es pumpte holprig, hüpfte und stolperte und dieser falsche Rhythmus brachte ihn fast aus dem Takt. Herrgott nochmal. Warum hatte er nicht einen Stellplatz näher am Ausgang? Diese paar Minuten waren jeden Morgen ein Drahtseilakt für seine Nerven. Dieser blöde Gang durch die Tiefgarage bedeutete für ihn jedes Mal die größte Herausforderung des gesamten Arbeitstags! Im weiteren Verlauf würde er bis zum Feierabend eher vom monotonen Gleichklang umgeblätterter Aktenseiten geprägt sein.

Er stieg ein. Die Kühle des Lederbezugs presste sich angenehm durch seine dünne Anzugshose. Türe schließen, tief durchatmen. Noch während er die Luft langsam ausströmen ließ, drehte er den Schlüssel im Zündschloss um. Es geht los, dachte er mit einem flauen Gefühl im Magen und ein vibrierendes Brummen erfüllte die dunkle Garage. Jetzt kam der Moment, in dem sich Martin zwingen musste, die Reihenfolge ganz strikt einzuhalten. Langsam drückte er den Öffner. Wenn man ihn zu hektisch oder zu festdrückte oder nicht exakt in der Mitte erwischte, streikte er und das durfte er auf keinen Fall. Auf keinen Fall durfte er das! Gottlob, er ging. Mit einem Ruck setzte sich vor ihm das schwere Tor in Bewegung. Rückwärtsgang einlegen, wenden, hinaus ins Freie. Erleichtert rollte er die Ausfahrt hinauf. Die Luft draußen wirkte frisch und Martin öffnete das Fenster. Unerwartet tippte der frühlingshafte Luftzug an eine Erinnerung aus Jugendtagen. Nur einen Tag später, nachdem er vor über zwanzig Jahren zum ersten Mal seinen Führerschein in den Händen gehalten hatte, war er achtzehnjährig und vollgesogen mit dem Glücksgefühl der grenzenlos erscheinenden Freiheit ins Auto gestiegen und auf die nächstgelegene Autobahn gefahren.

Stolz, endlich erwachsen zu sein, hatte er das Gaspedal durchgedrückt und der Fahrtwind hatte ihm durch den Spalt des Autofensters in einer Intensität gegen das Trommelfell gehämmert, wie sie nur jugendliche Sinnesorgane mit dem Gefühl von Unbesiegbarkeit wahrnehmen können. Hart, aber genussvoll betäubend, genau richtig, um die gefühlte Unendlichkeit von Raum und Zeit einzusaugen. Damals hatte er gedacht, man müsste diesen Moment so intensiver Freiheit luftdicht und auf ewig in einer Erinnerungskonserve eindosen können, für später. Wie auf einem Zeitstrahl war er, berauscht vom Hier und Jetzt, das grenzenlose graue Band entlang gerast in eine noch ungeschriebene Zukunft. Auf einem asphaltierten Teppich, den das Leben bereitwillig vor ihm ausrollte. Schneller, weiter, morgen, egal.

Wohl ein klein wenig wie damals spürte er jetzt die Belebung der kühlen Luft von draußen. Nicht als der Schlagabtausch mit der Geschwindigkeit und als Trommelwirbel in den Ohren seiner Erinnerung. Eher wohlwollend strich sie ihm jetzt mit erfrischender Hand über die Stirn. Heiß war diese. Als hätte er Fieber. Als wäre er krank. Vielleicht war auch etwas in ihm krank? Er hätte jetzt beschleunigen müssen, auf die Hauptstraße einbiegen…

Mit einem Mal hielt er inne.

Er wusste nicht, was ihn dazu brachte.

Mit einem Mal entschied er sich gegen die Reihenfolge.

Er wendete und fuhr zurück nach unten in den dunklen Bauch der Tiefgarage. Kurz später empfing ihn die Stille der Wohnung. Viel zu laut klackerte der Autoschlüssel in der Holzschale, während er dabei in eine bequeme Position rutschte. In Martins Brustkorb rumpelte es noch immer. Leicht nach vorne gebeugt ließ das Unwohlsein ein wenig nach. Die Stirn fühlte sich immer noch temperiert an. Unschlüssig lief er im Flur auf und ab und vergaß, dass er seine Lederschuhe noch trug. Sollte er zur Arbeit gehen? Trotz seines Zustands? Er brauchte eine Weile, bis er entschieden hatte, was er tun würde.

Kurz darauf flatterte in der Bank eine Krankmeldung per Email herein: Heute sei Freitag. Eine zügige Genesung übers Wochenende sei zu erwarten und sein Chef solle sich keine Sorgen machen.

Der halbe Vormittag verging und Martin nutzte die Zeit, um sich ausführlich dem Politikteil der lokalen Presse zu widmen, der vor ihm am Küchentisch lag. Ab und zu horchte er in seinen Körper auf der Suche nach weiteren Krankheitszeichen, Beweismittel, die begründen könnten, dass seine plötzliche Arbeitsunfähigkeit auch rechtens war. Rumoren im Verdauungstrakt? Das Unwohlsein und die Hitze waren längst verschwunden. Ein Zwicken im Magen? Kraftlos? Ja, vielleicht ein klein wenig schlapp. Aber vor allem unruhig. Aufgewühlt.

Dies konnte aber auch dem Koffeingehalt in seinem Blut nach der dritten Tasse Kaffee geschuldet sein, welches sich in einem leichten Flattern der Tageszeitung in seinen Händen zeigte. Nur schlechte Nachrichten. Jede einzelne Schlagzeile eine Ohrfeige für die Menschheit. Was für ein treffendes Wortspiel, dachte Martin. Schlagzeile, Ohrfeige. So macht sie ihrem Namen alle Ehre. Sämtliche Artikel handelten von Krieg, Elend und Tod. Er rieb mit den flachen Händen seine Wangen, als müsste er den ölschwarzen Ruß zerbombter Straßen in Syrien entfernen.

Die dunklen Krisen der Welt schwappten über den Küchentisch und schlichen sich in Martins Gemüt. Wie schlecht gelaunte Mitbewohner belegte jede abgedruckte Krise einen der noch freien Plätze neben Martins Stuhl. Aus der unguten Stimmung entwuchs eine innere Unruhe, die sich über ihn stülpte, wie eine zweite Haut. Martin faltete die Zeitung zusammen und lehnte sich zurück. Das Ticken der Küchenuhr hockte in den Ecken des Raumes und verstärkte eher seine Anspannung. Quälend schob sich der Zeiger um die Kurven und Martin, der in der Bank eine hohe Dichte an Arbeitspensum gewohnt war, konnte gar nicht glauben, dass es erst zehn Uhr war. Seit mindestens einer ganzen Stunde saß er bereits hier an seinem Platz, wo er sonst schnell zwischen zwei Zeilen der Tagespresse ein paar hastige Schlücke nahm, bevor er das Haus verließ.

Aktuell empfand er keine Langeweile, aber auch der gefühlte Mehrwert gewonnener Zeit ohne Büro blieb aus. Dafür überschattete zu sehr die Rastlosigkeit den Genuss. Es fühlte sich eher an wie Verschwendung. Es juckte innerlich. Jede Sekunde wetzte an seinen Nerven, zog und dehnte an seinen Gliedmaßen, als körperlichen Beweis dafür, dass nichts passierte.

Martin stand auf und bugsierte Geschirr und Kaffeebecher in die Spülmaschine, wischte über den makellosen Tisch, rückte den Stuhl zurecht und räumte die Zeitung in die dafür vorgesehene Lade. Keine Frage, es sah aus als hätte hier nie jemand gefrühstückt. Perfektes Beispiel einer Musterküche in einem Möbelhaus, dachte Martin und wendete sich Richtung Flur.

Ein zweites Mal an diesem Tag verließ er die Wohnung, nahm aber dieses Mal den Hauptausgang zur Straße. Als die Sonne auf seinen dunklen Anzug traf, merkte er, dass er ihn immer noch trug.

Wie kann man nur zu normalen Bürozeiten im Businesslook durch die Straßen schlendern? Aus Unverständnis über sich selbst musste er den Kopf schütteln. Während er an sich herabblickte, fuhr er mit den Händen entlang des seidigen Stoffs. Ein wenig steckte er in einer fremden Haut. Kein Ding befand sich heute an dem dafür vorgesehenen Ort.

Martin überquerte den Vorplatz und trottete gedankenverloren in gemächlichem Tempo geradeaus die Straße hinunter. Links von ihm lag die Tiefgaragenausfahrt, die er vor ein paar Stunden bereits in beide Richtungen befahren hatte.

Wieso um alles in der Welt war er heute nicht zur Arbeit gefahren? Das Schlimmste hatte er doch bereits überstanden gehabt, als er mit dem Auto bereits im Freien war?

Es war ihm doch an diesem Morgen einigermaßen gelungen, seine Panik vor der Tiefgarage unter Kontrolle zu halten. Im Hinterkopf lauerte eine vage Idee, eine mögliche Antwort, aber Martin wehrte sich, ihr in seinem Bewusstsein einen festen Platz zuzuweisen. Gestern hatte eine völlig nebensächliche Staumeldung im Radio seine Ohren spitzen lassen und ihn in Habachtstimmung versetzt. Genau im falschen Moment hatte er den Worten des Nachrichtensprechers zu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Die Stimme hatte sich sofort in seinem Denkorgan verhakt, negative Bilder heraufbeschworen und diese in seiner Fantasie wie ein Lauffeuer verbreitet. Dies hatte leider genau zu dem geführt, was Martin mitunter am meisten fürchtete. Schreckensszenarien fortzuspinnen. Nicht selten mündete so etwas bei Martin in die Ausschmückung absurdester Dramen.

„Achtung, Achtung. Stau in der Unterführung an der Kreuzung Lobestraße West…“

Was, wenn er in so einen Stau unterwegs hineingeriete und in so einer dunklen Unterführung ewig stehen musste? Dann hinge er in einer langen finsteren Schlange fest, Benzingestank, der Sauerstoff würde knapp, ein Feuer könnte ausbrechen. Rauch würde durch die Ritzen der Fenster und Türen dringen. Er könnte bei lebendigem Leib ersticken! Würde menschenunwürdig verdaut werden von beißendem Ruß und von dem öligen, zähen Schleim verbrennender Reifen. Mitten im schreienden Inferno um ihr Leben kämpfender Menschen. Unerträgliche Hitze! Mensch und Gummi schwarz wie der klebrige Teer …

Martin öffnete sein Jackett. Er schwitzte und sein Puls rannte gegen den gebügelten weißen Hemdkragen. Es gelang ihm nicht auf Anhieb, den obersten Knopf zu öffnen, so sehr zitterten seine Finger. Dann, endlich Luft! Was für eine Wohltat für die Kehle!

Ja, er hatte Angst in dunklen geschlossenen Räumen. So viel musste er sich eingestehen. Aber mal ehrlich, ein Tunnel hatte doch zwei große, runde Enden mit Licht? Da kann man doch problemlos durchfahren, oder? Was verdammt nochmal ging ihn so ein saublöder Stau an? Ein Fingerschnipp der Erinnerung zauberte in seinem Kopf spontan den Artikel einer Apothekenzeitung hervor, den er vor etlichen Monaten beim Hausarzt in der Hand gehabt hatte. Es ging um Kreuzreaktionen bei Allergien. Wenn man gegen den einen Stoff überempfindlich war, konnte es sein, dass ein ähnlicher zu den gleichen Symptomen führen konnte. War Angst vielleicht so etwas wie eine Allergie gegen das Leben? Dann konnten zweifellos weitere Situationen plötzlich ebenfalls körpereigene Abwehr hervorrufen.

Der Gedanke daran erschreckte ihn. Er musste ihn loswerden, bevor er seinen Geist noch mehr vergiftete. Martin beschleunigte seine Schritte und versuchte eine Melodie von Grönemeyer nach zu summen.

„Sie hört Musik nur, wenn sie laut ist, wenn der Boden unter den Füßen bebt…“

Vor einem gefühlten Jahrtausend hatte er euphorisch mitten in den Massen gestanden und vorne dieser begnadete Sänger! Die Druckwelle der Bässe hatte über Stunden das Blut in die Ohren gepumpt und am nächsten Tag ein beleidigtes Brummen hinterlassen. Verschwitzte Körper, kreischende Frauen und die Musik außerhalb und im Körper. Irre. Und vor allem irre lange her.

Ein Piepsen mischte sich in seine Kopfmelodie. Nicht weit vor ihm entdeckte er einen Spatz neben einer kleinen Pfütze, der an irgendetwas herumpickte. Immer wieder sang er ein paar Töne, hüpfte aufgeregt, reckte das Köpfchen und pickte wieder. Inzwischen drückten Martins Lederschuhe vom ungewohnten Laufen auf Asphalt. Gerne blieb er eine Weile stehen und versuchte, seine Gedanken zu sammeln, indem er sich ganz in den Bewegungsablauf dieses putzigen Tierchens vertiefte. Heute hatte er Zeit. Erstaunlich. Was für ein hektischer Tanz um Nahrung, Machogehabe und Körperpflege. Und immer das Sicherheitsradar im Vollbetrieb. Augen rechts, Augen links. Jedes Wesen war Tag täglich damit beschäftigt, am Leben zu bleiben, nur dachten nicht alle so verkopft darüber nach wie der Mensch. Tiere lebten einfach nur, während unsere Spezies viel zu viel grübelt, neidet, verdrängt. Auf später verschiebt oder in Routinen vor sich hindämmert. Was war eigentlich der tiefere Plan des Lebens? Es bloß zu meistern oder es zu genießen? Konnte ein Vogel bewusst genießen? Und wenn ja, war es Genuss im philosophischen Sinne im Bezug auf sich selbst wie beim Menschen oder nur die Erleichterung, nicht gefressen worden zu sein? Es gab genügend Rätsel auf der Welt, die noch nicht gelöst waren. Und ein großes Fragezeichen schwang jedoch über Martin selbst. Begründet oder unbegründet, er war heute aus seinen Pflichten ausgeschert. Ein Novum. Herr Steiner kam normalerweise auch mit dem Kopf unter dem Arm in die Bank. Wenn er ehrlich darüber nachdachte, musste er sich eingestehen, dass die Krankheitszeichen während seines Spaziergangs wohl eher überschaubar geblieben waren. Streng genommen hatte er ein Rechtfertigungsproblem für seine Arbeitsunfähigkeit…

„Ach, was soll das“, murmelte er halblaut in die Pfütze, als müsste er dem Spatzen erklären, warum er hier grippefrei herumstand.

„Herr Polarsky kann auch noch einen Tag länger auf sein Haifischbecken warten.“

Man sollte sich auch mal einen Tag Erholung gönnen, wenn man sonst immer schnurrt wie eine Eins. Dennoch spürte er einen leichten Anflug von schlechtem Gewissen. Auf seinem Tisch stapelten sich die Anträge und er spazierte hier durch die Gegend. Aber hatte er heute Morgen nicht wirklich ein wenig Halsweh gehabt? Vielleicht bahnte sich eine Erkältung an? Da war ein Spaziergang an der frischen Luft und Sonne geradezu empfohlen zur schnellen Genesung. Er würde dadurch schnell wieder voll leistungsfähig sein und er würde darüber hinaus nicht unnötig nichtsahnende Kollegen anstecken. Denn war man nicht vor Ausbruch einer waschechten Grippe am meisten infektiös? Logisch folgte er den einzelnen Gliedern seiner gedanklichen Kette und ging damit unbewusst einem Trick des menschlichen Gehirns auf den Leim. Schutz des positiven Selbstbildes. Mit den richtigen Argumenten konnten unangenehme Sachverhalte stets bequem über die unsichtbare Trennlinie von der Negativseite auf die Positivseite des Kontos geschoben werden.

Über all diesen neuen Grübeleien war das Räderwerk in seinem Hinterkopf bezüglich der gestrigen Staumeldung leiser geworden. Im Hintergrund ratterte es noch, aber Martin empfand es nicht als störend. Seine Füße trugen ihn weiter und weiter und im Wissen, seiner angeschlagenen Gesundheit etwas Gutes zu tun, konzentrierte er sich auf die kraftvolle Beinarbeit und genoss es, wieder Energie in der Muskulatur zu spüren. Laufen tat gut. Selbst mit harten Lederschuhen. Sportlich bog er Richtung Park ab. Überall piepsten die Vögel. Für sie war diese grüne Oase in der Stadt ein Paradies. Sein Weg führte ihn unter idyllisch hängenden Weiden hindurch und wohl dosiert sog er die kühle Luft des Vormittags ein. Ein kräftiger Wind nahm immer wieder Anlauf und wehte munter über die Kieswege und den gepflegten Rasen. Frech griffen die Böen einem Mann im Anzug in die Haare und zerzausten seine sonst so akkurat gekämmte Frisur. Dazu im flotten Laufschritt zu gehen, belebte, weckte Martins Lebensgeister. Er sog die Frische ein und schloss für eine Weile die Augen. Als er sie wieder öffnete, verlangsamte er und ließ den Blick über den Park schweifen. Ein wenig Orientierung konnte nicht schaden. Den Park nutzten normalerweise andere.

Er selbst war seit ewigen Zeiten nicht mehr hier entlanggelaufen, aber er erkannte die Buxhecke, hinter der die Springbrunnenanlage mit ihren pseudobarocken Becken lag. Auf alt gemacht, aber hübsch. Wenn er sich nicht täuschte, führte der Kiesweg, auf dem er sich befand, direkt darauf zu.

Plötzlich merkte Martin, dass er nicht alleine war. Nicht dass er das erwartet hatte, aber die Ruhe, hatte den Eindruck verliehen, niemand sonst wäre hier. In einiger Entfernung sah er ein junges Mädchen und hatte den Eindruck, dass es genauso zielstrebig auf diese Anlage zu ging, wie er. Sie hielt ein weißes Baumwollshirt in den Händen und schien eine bestimmte Stelle im Stoff genauer zu inspizieren, indem sie das Gewebe zwischen ihren beiden Daumen aufspannte, um es zu glätten. Irgendwie magisch blieb sein Blick an ihr haften und er bemerkte gar nicht, dass er begonnen hatte, sie heimlich zu studieren. Jung war sie, vielleicht siebzehn, schlank und sportlich. Ihre festen Schritte und ihre aufrechte, aber nicht überhebliche Körperhaltung verrieten ein hohes Maß an innerer Sprungkraft, genauso wie ihre Augen, als sie für einen Moment aufsah und nachdenklich in die Ferne blickte. Ein faszinierendes junges Mädchen. Selbst auf die Entfernung spürte er, dass sie etwas Besonderes ausstrahlte. Er versuchte zu überlegen, was es war. Energie! Gebündelte Energie, die sich zwischen der Mädchenwelt und gesetzten Frauenjahren ihren Weg ins Freie bahnen würde, sobald die richtigen Konstellationen ihren Platz einnahmen.

Nicht ungewöhnlich, dass sich Martin wieder einmal der Physik bediente. Für ihn war sie ein verlässlicher Partner beim Beleuchten von unerklärlichen Phänomenen, denn sie vermochte es, selbst die abwegigsten Erscheinungen im Kopf zurechtzurücken. Physisch glich sie einem fragilen Gebilde aus schwingenden Atomen, die um den Kern einer starken Persönlichkeit kreisten. Dieses zarte jugendliche Wesen stand erst an der Schwelle zum Erwachsenenleben und strahlte dennoch eine fast greifbare Entschlossenheit aus. Entschlossenheit? Oder war es charismatischer Trotz? Gab es so etwas überhaupt? Ganz im Gegensatz zu ihrer starken Präsenz entsprach ihr rein äußerliches Erscheinungsbild dem eines klassischen Durchschnittsteenagers. Turnschuhe, enge schwarze Jeans, mittellange dunkelbraune Haare, schlanke Statur. Martin staunte über diese junge Frau und schlagartig wurde ihm bewusst, dass er sich in genau diesem Moment selbst dabei ertappte, eine fremde Frau gedanklich zu stalken. Wie unangebracht von ihm, die persönliche Intimsphäre einer Unbekannten ausgespäht zu haben.

Betont gleichgültig lenkte er seine Schritte in Richtung Brunnen und Mädchen. Um das Quäntchen Schuld von sich zu weisen, das sich ihm aufdrängte, schob er seine Analysen von gerade eben wie einen Aktenstapel beiseite und beschloss, ein wenig kühles Wasser am Brunnen zu schöpfen. Ganz beiläufig. So, als käme er gerade zufällig des Wegs. Gleich im Anschluss wollte er seinen Rückweg antreten. Schließlich lag im Büro eine Krankmeldung vor, eine Tatsache, die vorsah, dass man besser zu Hause bleiben sollte. Die Vorstellung, an einem Fehltag hier so entspannt öffentlich durch den Park zu schlendern und dabei womöglich auch noch von einem bekannten Kunden, oder schlimmer noch, von einem Bankmitarbeiter zufällig gesehen zu werden, löste in seinem Pflichtbewusstsein Unbehagen aus.

Martin beschleunigte. Den Hügel hinabzugehen, fiel ihm leicht.

Als hätte es der Zufall so vorgesehen, kamen beide gleichzeitig am Brunnen an. Das Mädchen tauchte das Kleidungsstück in ihren Händen in das Becken und begann den zuvor skeptisch betrachteten Fleck im Stoff kräftig zu reiben, während er seine Hände ein Bassin höher in das kühlende Nass gleiten ließ. Ihn fesselte diese junge Frau immer noch. Es gelang ihm kaum, seinen Blick von ihr abzuwenden. Beide standen eine Weile schweigend nebeneinander am Wasser. Ein paar Tauben, die gebadet hatten, gurrten und schickten einen geräuschvollen Schauer durch ihr Gefieder, um Staub und Parasiten abzuschütteln. Dann hörte man wieder nur das sanfte Plätschern der urinierenden Engel über den Becken und der vier Hände, die darin schöpften. Der Szenerie hatte etwas Zeremonielles, sie erinnerte an eine rituelle Waschung wie sie in entfernten Kulturkreisen praktiziert wird.

Das Mädchen durchbrach die Stille, indem sie leise in sich versunken vor sich hin fluchte. Plötzlich stutzte sie und ihn traf ohne Vorwarnung der wohl vorwurfsvollste Blick, der ihn je gestraft hatte. Ihm war klar, was sie ihm ankreidete. Er hatte sie schließlich mehr als eindringlich eine ganze Weile beobachtet. Auch ohne Worte dürfte klar sein, was sie meinte. Typisch frustrierter Mitvierziger gafft sich die Augen aus dem Kopf. Spanner, elender! Dass all seine Gedankengänge im Zusammenhang mit ihr rein analytisch und bezüglich des Inhalts absolut salonfähig waren, konnte sie schließlich nicht erahnen. Ihr Kommentar kam überraschend forsch.

„Laufen Sie immer als Banker verkleidet durch Parkanlagen oder haben Sie eine Sonnenallergie?“, fragte sie.

Mit so einem geschickt formulierten Frontalangriff auf seine Person hatte er nicht gerechnet. Etwas irritierend wirkte das schon, zum einen, weil dieses surreale weibliche Geschöpf eine Stimme hatte und aus Fleisch und Blut bestand, zum anderen, weil ihn sonst normalerweise nur beruflich bedingt Fremde ansprachen. Jedoch taten sie dies dann mit dem nötigen Respekt, und in höflichem Ton, nicht so bissig, wie die junge Dame vor ihm. Darüber hinaus, woher wusste sie eigentlich, dass er in einer Bank arbeitete? Er brauchte eine Weile, um sich wieder einigermaßen zu fangen. Zu seinem Erstaunen, hatte er eine passende Antwort parat:

„Und Sie, ich meine, gehen Sie immer zum Waschtag in den Park?“ Die Kleine verzog die Mundwinkel zu einem amüsierten, aber durchaus noch skeptischem Grinsen, während sie immer noch mit beiden Händen ihr T-Shirt im Wasser bearbeitete. Martin merkte, wie seltsam die Höflichkeit des Siezens wirkte, wenn man jemanden vor sich hatte, der in einem öffentlichen Brunnen Klamotten säuberte. Ihr war dies anscheinend auch aufgefallen.

„Bevor Sie sich am „Sie“ ernsthaft verletzten. By the way, ich bin Marie-Elise. Vergiss es. Ich heiße Lizzy.“

Sie schmunzelte und streckte Martin ihre Hand entgegen. Martin versuchte aus Anstand die Mischung aus Wasser und undefinierbarer gräulicher Substanz an ihrer Rechten zu ignorieren, so gut er konnte. Zögerlich griff er zu.

„Martin. Martin Steiner“.

Er zog es vor, den Nachnamen ebenfalls zu erwähnen. Wieso hatte sie eigentlich als Jüngere das „Du“ angeboten und nur den Vornamen benutzt? Lizzy nahm die kurze Pause als Einladung weiterzusprechen.

„Wegen dem da.“

Sie nickte abfällig und deutete auf die bräunliche Stelle zwischen ihren Fingern, „Wegen dem da bin ich stinksauer. Es hätte nicht passieren dürfen! Dieser Fleck hier ist so eklig und will sich einfach nicht entfernen lassen. Zu dumm aber auch! Ich brauche doch das Shirt!“ Mit jedem Satz, den sie sprach, schien sie wütender zu werden.

„So ein Mist!“, schimpfte sie weiter.

Sie rubbelte energisch am Stoff. An ihrer Stirn klebte verschwitzt eine dünne Haarsträhne. Mit dem Handrücken schob sie diese zur Seite, während sie unterstützend einen kräftigen Luftstrom über den rechten unteren Mundwinkel nach oben blies. Trotz ihrer Wut sah sie dadurch fast niedlich aus.

„Ich brauche das Teil echt dringend.“

Prüfend hielt sie das Kleidungsstück gegen das Licht. Martin stellte fest, dass seine gewagte Theorie über Energie von vorhin ihre Berechtigung hatte. Die Kleine war ein Pulverfass, zunehmend explosiv und wenn sie die Augen skeptisch zukniff, auch nicht mehr so mädchenhaft wie vorhin noch am Hügel.

„Es ist doch immer wieder dasselbe. Wenn man wenig hat, muss man noch um das Wenige fürchten. Andere suhlen sich in der Zwischenzeit im Champagnervollbad. Stößchen hier, Stößchen da…

So ist das doch bei der tollen Bussi-Bussi-Gesellschaft.“

Wie ein Wasserfall sprudelten die Sätze aus ihr heraus.

„Kapitalismus, Globalisierung, was für eine grandiose Errungenschaft unserer Zeit!“, fuhr sie fort. „Oder ein anderes Wort für Ausbeutung? Modernes Arbeitsleben! Wenn damit gemeint ist, T-Shirts irgendwo auf der Welt zu Cent-Löhnen unter unmenschlichen Bedingungen zu produzieren und dann ein Label aufzudrucken und Millionen zu scheffeln, dann werden die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher.“

Und schon wieder erstaunte sie ihn. Die Sätze waren strukturiert und inhaltlich ordentlich rebellisch. Hätte er nicht erwartet, dass ein junges Mädchen ein solches Gedankengut pflegte.

„Auf welcher Seite man steht ist einzig und allein abhängig davon, wo man auf dieser riesengroßen blauen Murmel geboren wird. Gerechtigkeit, fair trade, Fehlanzeige!“

Sie verdrehte bei diesen Worten hollywoodreif die Augen bis ihr Blick schließlich an Martin haften blieb. Eindringlich musterte sie ihn, ob ihm auch wirklich die Tragweite bewusst wurde, die ihren Protest begleitete.

„Alle Systeme unserer Zeit funktionieren immer auf Kosten der Schwächsten! Die, die nichts haben, besitzen immer weniger und die, die viel haben, fliegen mit ihren Freimeilen samt Wohlstand über unseren Köpfe hinweg auf und davon und schauen aus ihren gepolsterten Boing-Sitzen auf dem Weg zu den Malediven mitleidig auf den Rest der Menschheit herab. In so einem System kann man nicht ernsthaft mitmachen wollen. Sonst ist man selbst nicht besser als all die da oben!“

Lizzys Zeigefinger fuhr kreisend durch die Luft.

„Paradebeispiel Vogelkot.“

Martins Sichtfeld wanderte zu dem grau-bräunlichen Fleck und ihm wurde sofort klar, was hier wild schrubbend entfernt wurde. Zumindest lief der Versuch, dies zu tun, auf Hochtouren. Angewidert sah er auf seine Handfläche, die vorhin Lizzys berührt hatte. Lizzy dagegen war nicht zu bremsen, weder in ihren Ausführungen noch im Traktieren des unschuldigen grau- weißen Stoffs.

„Jeder, dem schon mal eine Taube auf die Klamotten geschissen hat, kapiert das sofort.“

Lizzy tippte mit dem gerade noch mahnend erhobenen Finger ein paar Mal an die Stirn. Ihre Wangen röteten sich allmählich vor Aufregung.

„Die Scheiße, die da oben produziert wird“, fuhr sie in energischem Tonfall fort, „landet immer auf den Kleinen und bleibt auf den Schultern der Unschuldigen hängen.“

Es entstand eine kurze Pause, welche Lizzys kritischer Ansprache noch mehr Theatralik verlieh. Ihre Rede an die Nation ähnelte einem künstlerischen Auftritt. Martin war das Publikum und fast Adressat der Beschimpfungen. Jedenfalls fühlte er sich ein bisschen so. Das Ganze mit dem Fliegen war doch nicht seine Schuld. Er stieg schließlich schon seit Jahren nicht mehr in so ein Ding. Zwar nicht aus Umweltgründen oder, weil er Geld sparen wollte. Er hatte schlicht und ergreifend Panik, wenn er nur daran dachte. Früher ja. Heute nein. Hatte alles wohl seine Zeit. Abgesehen davon schwebte auch sein Gehalt nicht in anderen Sphären. Nachdem Martin seit Jahren die Summe der Verantwortungen klein hielt, tat logischerweise sein Gehaltszettel das Gleiche. Aber schimpfte Lizzy überhaupt über ihn? Oder meinte sie alle? Das Unglücksshirt lag ruhig in ihrer Hand und das Mädchen stand aufrecht mit geradem Blick, als wollte es der Welt in seiner gesamten Ungerechtigkeit die Stirn bieten. Martin konnte sich gut vorstellen, dass sie sich an dieser Stelle über einen kurzen Applaus gefreut hätte.

Inzwischen fühlte er sich von dieser jungen Frau gnadenlos überfordert und er sehnte sich derart nach seiner Wohnung, dass er am liebsten gleich losgelaufen wäre. Zurück in seine vier Wände, zu der unkomplizierten Stille, die dort herrschte. Leider befand sich seine heimelige unpolitische Küche unendlich weit weg.

„So ein Mist! Was ziehe ich nur morgen an?“

Lizzys Stimme war wieder etwas leiser. Der schlimmste Teil ihrer Schimpftirade schien überstanden und allein schon der sinkende Geräuschpegel wirkte sich bei Martin in einem entspannteren Gefühl aus. Sein Verstand arbeitete sich durch die wenigen Fakten. Morgen dieses T-Shirt anziehen? Hatte sie nicht wie alle Teenager mindestens einen Schrank voller Kleidung zu Hause? Sie brauchte doch nur in der Früh ein neues Shirt herauszunehmen. Wo lag das Problem? Aber dass sie derart in Rage geraten war? Vielleicht sollte er dieses Mädchen zumindest moralisch unterstützen, auch wenn sich ihm eher der Verdacht aufdrängte, es könnte sich um ein rein pubertär bedingtes Problem handeln. Mit solchen Dingen kannte er sich nur bedingt aus als kinderloser Single.

„Also nicht alle Erwachsenen sind schlecht“, sagte er. „ich fliege übrigens nicht.“

Lizzy sah ihn an. Ihre Augen versuchten das vorwurfsvolle Sätzchen „Und, ist das alles?“ formulieren zu wollen. Oh, oh! Das Thema Fliegen sollte er wohl eher lassen. Und auch sonst schien es besser, sich nicht zu verteidigen. Das würde zu nichts führen, höchstens zu einer neuen Steilvorlage für Standpauken an die Menschheit.

„Ich mache Ihnen, ähm dir, einen Vorschlag“, begann Martin und versuchte, einen ruhigen Ton anzuschlagen, um Lizzy zu besänftigen, „steck das Ding in die Maschine und nimm ein Frisches!“

Wie ein zufriedener Pfarrer breitete er die Arme an seiner Seite aus, um zu zeigen, dass die Lösung auf der Hand lag und der Weltfrieden gesichert.

„Problem beseitigt“, rief er. Es gab absolut keinen Grund, sich dermaßen zu echauffieren wegen eines unter tausend Kleidungsstücken eines Teenagers.

Lizzy setzte sich erschöpft auf den Beckenrand und sah Martin einen Moment lang abschätzend an. Eins zu null für mich. Na also, geht doch, dachte er. Kurz presste sie die Lippen aufeinander, sodass sie schmal und weiß wurden. Ihre Augen bekamen mit einem Mal einen glänzenden dunkelgrünen Schimmer. Um die beiden baute sich ein Gebilde aus hörbarer Stille auf. Martin spürte, dass er sich zu früh gefreut hatte. In ihrem Kopf braute sich, so wie es aussah, ein neues Unwetter zusammen, es musste die Ruhe vor dem Sturm sein. Ihm schien, als würde sie überlegen, ob und wie sie auf seine laienhafte wenig hilfreiche Allgemeinweisheit reagieren sollte. Martin machte sich gefasst auf Gezeter, Geschrei und wilde Beschimpfungen. Wortlos starrte sie auf den Brunnen und zupfte an dem Stoff herum.

Das plötzliche Schweigen kam ihm beinahe unheimlich vor. Und auch die Natur um ihn herum verhielt sich leise, als hielte sie den Atem an. Nur ein Lebewesen werkelte munter weiter. In dem nahen Wäldchen pickte ein Vogel eifrig gegen die Rinde einer knorrigen Eiche, deren dicker alter Haut der Störenfried sicherlich nicht im Geringsten etwas ausmachte. Vermutlich spürte sie es kaum und zog unbeirrt von all dem Treiben um sie herum Wasser und Nahrung aus dem saftigen Humus der würzig duftenden Parkerde. Kein einziges Blatt ihrer riesigen Krone interessierte sich für die Sorgen dieser Welt oder gar für Teenagerthemen. Es raschelte ein wenig. Eine Windböe spielte beiläufig mit dem dichten Laub. Nach einer Weile brach Lizzy die Stille und begann fast resigniert zu sprechen.

„Ich kann nicht nach Hause. Vor einer knappen Woche bin ich weg von daheim und meine Mutter denkt, ich bin in Wolkerstadt bei meiner Tante Astrid. Und wenn es dich interessiert, ich habe nur zwei T-Shirts dabei. Mehr hat nicht in den Sack gepasst.“

Jetzt ging Martin ein Licht auf. Eine Ausreißerin also! Das erklärte einiges und wenn er darüber nachdachte, passte es zu ihr wie die Faust aufs Auge. Rückblickend hätte er das sofort erkennen müssen. Es war zu offensichtlich. Leider machte ihn diese Erkenntnis von einer Sekunde auf die andere zum Mitwisser. Eigentlich hätte er jetzt die Pflicht, zur Polizei zu gehen und den Vorfall zu melden…

Sollte er? Der Klamottenengpass schien ihr wirklich nahe zu gehen. Betrübt stand sie mit dem ruinierten Stück Stoff vor ihm und ihre hängenden Schultern hätten jeden um sie herum aufgefordert, tröstend den Arm um sie zu legen. Martin tat es nicht, trotz der Schutzbedürftigkeit, die sie plötzlich umgab. Für ihn zählten im Moment nur die Tatsachen. Das war das Terrain, auf dem er sich sicher bewegte. Gedanklich ging er nochmal alles durch. Ausgerissen war sie, niemand hatte es bisher bemerkt und keiner wusste, wo sie ist. Außer ihm! Vorsichtig fühlte er vor:

„Vermisst dich niemand?“

Er musste sich dringend ein besseres Bild von der Situation verschaffen.

„Nein, wie gesagt, offiziell bin ich bei meiner Tante zum Lernen.“ Lizzy machte keine Anstalten weitere Informationen nachzuschieben.

„Und deine Lehrer? Du fehlst also auch in der Schule?“

Lizzy zögerte: „Jein, es steht uns die nächsten eineinhalb Wochen lang frei, ob wir zum Unterricht kommen oder zum Lernen zu Hause bleiben, und dann ist Prüfungsphase. Abiturklasse, verstehst du? Da endet der offizielle Pflichtteil in der Schule und die Prüfungen beginnen erst später. Mich erwartet also die nächste Zeit niemand…“

Martin strich sich durch die Haare und runzelte die Stirn. Sein Herrenhemd klebte an seiner Brust. Für diese Jahreszeit war es verdammt warm. Oder brachte ihn die verzwickte Lage, in die ihn das Mädchen brachte, zum Schwitzen?

Sein Tag heute war eine einzige Ansammlung seltsamer Begebenheiten. Er hätte einfach in der Früh durch diesen saublöden Tunnel zur Arbeit fahren sollen. Dann säße er jetzt am Schreibtisch und würde das erste Mal auf die Uhr sehen, sich eine Tasse Kaffee machen und sich auf den Feierabend freuen. Aktenstapel waren vergleichsweise niedrig, wenn man sich überlegte welch großen Haufen Probleme diese junge Frau haben musste, dass sie weggelaufen war. Heute Morgen hatte es noch den Anschein gehabt, der Weg zur Bank stünde ihm als unüberwindliches Hindernis im Weg. Wie einfach es doch gewesen wäre, im Vergleich zu den Schwierigkeiten, die sich ihm durch einen unkontrollierbaren Ablauf der Dinge stellten. Zur Krönung fiel ihm gerade an so einem Tag auch noch ein flüchtiger Problemteenager quasi direkt vor die Füße. Und die Tatsache, dass sie ihn eingeweiht hatte, katapultierte diese Person ungewollt in seinen Zuständigkeitsbereich. Und genau das bescherte ihm ein nagendes Gefühl, das sich nicht mehr abschütteln ließ: Verantwortung, für jemand anderen als ihn. Wenn man Menschen auf Distanz hielt, passierte so etwas nicht. Wieso hatte er sich nur Lizzys Geschichte angehört? Wieso fragte er auch noch so idiotisch nach? Wo zum Geier war er hier hineingeschlittert? Das bequemste wäre, sich umzudrehen und einfach zu gehen. Aber Pflichterfüllung auszublenden, passte nicht zu ihm. Er sollte sich Lizzy und ihres Problem annehmen, auch wenn sie ein merkwürdiges Wesen war und garantiert noch mehr Chaos verursachen würde, als es die Reihe von Abweichungen heute Morgen bereits getan hatte. Nein, besser nicht!

Eigentlich waren sie Fremde und es gehörte nicht zu den Aufgaben von Martin, sich um dieses Mädchen zu kümmern. Mit der Jugend von heute hatte doch ein Herr Steiner nichts zu schaffen. Freundlich verabschieden, alles Gute wünschen und gehen. Das sollte er tun. Umdrehen und verschwinden.

Die junge Frau stand immer noch direkt vor ihm ohne Anstalten zu machen, sich von der Stelle zu bewegen. Im Gegenteil. Eindringlich blickte sie ihm smaragdgrün in die Augen.

Fragend, wissend?

Er konnte es nicht deuten. Ein bisschen zu tief sah sie in ihn hinein. Und es berührte ihn. Sie berührte ihn, irgendwo, an einer Stelle, die er vergessen hatte.

Er konnte doch nicht einfach so gehen?

Aber bleiben konnten sie hier auch nicht.

Er hörte sich selbst die Frage stellen und konnte es kaum fassen.

„Was hältst du von einer Tasse heißem Kakao im Café ZEITLOS? “ Lizzy strahlte über das ganze Gesicht:

„Eye, eye, Käpt`n! Ich hole meine Sachen! Gib mir zehn Minuten.“

heute wirst du gehenbleiben

Подняться наверх