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ОглавлениеKapitel 9 Ein netter Reisegefährte
Alwin blickte über die große Stadt. Eine Haarsträhne wehte ihm fast in die Augen. Aus der Ferne klang der Ruf einer Möwe, weiter unten auf einer Bank begann jemand Gitarre zu spielen. Ein Fünfjähriger heulte, während ein Geier etwas außerhalb der Stadt nicht mehr daran glaubte, einen Auftrag zu haben und sich ausgehungert auf einen toten Maulwurf stürzte. Ein Südseemädchen wurde von einer Robbe gerettet, als sie von Haien umgeben alleine in einem Boot saß. Dies ist aber nun wirklich eine andere Erzählung. Dass ein wirklicher Schotte jedoch einer österreichischen, anglophilen Touristin freundlicherweise den Weg zur Saussagehallstreet erklärte, in welcher über einer schwarzgelben Tür die Vorderfront eines kleinen Vehikels montiert ist, ist aber Wahrheit und nichts als Wahrheit, über die der Wind seine tausend Geschichten bläst und sich in einem Kuss verliert.
„Komm, es ist Zeit, wir müssen zum Bahnhof!“
Alwin und Lisa gingen die Treppe hinab, durchquerten die Straßen Glasgows und erreichten zu Fuß den zentrumsnahe gelegenen Bahnhof, von dem aus die Züge Richtung Norden abfuhren.
Lisa wäre gerne länger in Glasgow geblieben, da zwischen den Pflastersteinen und jenseits der Sprache merkantiler Geschäftigkeit auch noch die Sprache der Tiere, der Fabelwesen, der Pflanzen und der Hausgeister aus dem Boden wuchs, wenn man genau hinhörte – zumindest für ihre Ohren. Sie meinte, auch die Figur eines steinernen Gelehrten aus dem fünfzehnten Jahrhundert hätte ihr etwas zugeflüstert, aber für einen poetischen Hinweis, das Nichtige Reich betreffend, reichte diese Ahnung nicht aus. Sie verabschiedete sich leise von der Stadt, vor allem von all jenen ihrer Bewohner, die nicht zur Gattung der Menschen gehörten. Dann betrat sie mit Alwin die Bahnhofshalle.
Bald darauf hatten sie den richtigen Zug gefunden und setzten sich in ein leeres Abteil. Lisa beobachtete die vielen Menschen am Bahnsteig und sah dem geschäftigen Treiben nachdenklich zu. Als der Zug langsam aus der überdachten Vorhalle ratterte, waren sie noch immer alleine im Abteil. Vorstadtsiedlungen zogen an ihnen vorbei, bald schon sahen sie das Meer. Die Stadt wurde kleiner, je weiter sie nach Norden fuhren, die Besiedelung spärlicher. Zwischen ungezähmten Heidelandschaften tauchten vereinzelt Tümpel auf sowie kleine Hügel, während sich auf der anderen Seite das Meer mit seinen Armen in die Landschaft streckte. Lisa lehnte sich zurück und begann mit offenen Augen zu träumen. Auch Alwin sah schweigend aus dem Fenster. Wolken rissen auf, Sonnenstrahlen erhellten die Wiesen, und das Spiel von Licht und Schatten zeichnete große Flecken in sich verändernden Mustern auf die Graslandschaft. Der starke Küstenwind schuf immer wieder neue Farbformationen, während die Umrisse im Zugabteil länger wurden. Wenn die Hügelketten den Blick zum Meer abschnitten, verschwand der Horizont öfters aus ihrer Sicht.
Alwin knipste schließlich das Licht an und zog eine Zeitung aus seiner Gepäckstasche. Der Zug wurde plötzlich langsamer und hielt. „Fort William“ stand mit großen Buchstaben auf der Tafel neben den Gleisen.
„Das ist übrigens der nächste Halt für den Aufstieg auf den Ben Nevis, hast du Lust?“ Da Lisa wusste, dass Alwin nur äußerst widerwärtig etwas erklomm, das höher war als er selbst, egal ob es sich dabei um einen Fenstersims oder einen Berg handelte, grinste sie ihren Mann an. Alwin hatte nämlich schreckliche Höhenangst.
„Ich sagte, ich geh mit dir wandern, wenn die Steigung nicht mehr als drei Prozent beträgt.“ Er hob den Blick nicht von der Zeitung.
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Lisa griff in ihre Handtasche und holte ein Buch hervor. Dabei fiel ihr Blick auf den Mann, der an ihrer Abteiltür stand. Er starrte sie einen Moment lang durch das Fensterglas an, lächelte jedoch sofort und zog die Tür auf.
„Einen schönen Abend, ist hier vielleicht noch ein Platz frei?“ Der Mitreisende war vornehmen gekleidet, herbes Parfüm begann das Abteil zu durchströmen. Er setzte sich Alwin gegenüber und stellte seine Aktentasche auf den leeren Platz am Fenster. „Entschudigen Sie, Sir.“ Alwin stieß unbeabsichtigter Weise an den Schuh des jüngeren Mannes und ärgerte sich darüber, dass er kaum eine Möglichkeit hatte, nicht daran zu stoßen. Lisa und die Aktentasche hingegen hatten kein Platzproblem.
„Kein Problem, Sir!“, meinte der Fremde und lächelte. Er packte keinen Laptop aus und schlug auch nicht die „Financial Times“ auf, sondern blickte seine Mitreisenden ostentativ neugierig an. Lisa begann in ihrem Buch zu blättern, als suchte sie eine bestimmte Seite.
„Dorin Gray sieht in sein Spiegelbild“, schoss es Lisa durch den Kopf.
Doch bevor sie über diesen Satz nachdenken konnte, meinte der Fremde: „Sie machen eine kleine Urlaubsreise? Eine wunderbare Landschaft hier. Sehr erfreut, Sie kennen zulernen!“
„Ja, wir machen eine Reise“, antwortete Alwin ohne von der Zeitung aufzusehen. Um nicht zu unhöflich zu wirken, ließ er kurz darauf den „Guardian“ sinken und fügte eine kleine Spur freundlicher hinzu: „Und Sie sind vermutlich… geschäftlich unterwegs?“
„Geschäftlich? Ach, nein, da bin ich Zeit derzeit meist in Übersee. Ich bin hier geboren und habe ein Anwesen geerbt. Es war natürlich schwierig, meine Firma in den USA gerade in dieser Phase alleine zulassen. Wir sind nämlich gerade dabei, unsere Angebote enorm zu erweitern. Aber da wir ja in einem Zeitalter universaler Vernetzung leben, ist die Welt ein… enger Ort geworden. Finden Sie nicht, Sir?“
Alwins Mund zuckte, dann lächelte er ebenfalls und sah zum Fenster hinaus.
Plötzlich stoppte der Zug.
„Was ist los? Hier ist doch gar keine Haltestelle!“ Im Dämmerlicht versuchte Lisa draußen etwas zu erkennen.
„Nein, Miss, das ist eine Brücke. Und da unten ist das Glenfinnan Monument mit der Statue von Bonnie Prince Charlie. Er hisste im Jahr 1745 an dieser Stelle das Banner der Stuarts und damit begann das Sterben von vielen Männern, eine unglückselige Geschichte…“
„Das ist aber wohl nicht der Grund, warum der Zug stehenbleibt!“ Lisas Stimme klang seltsam gereizt. Sie konnte es einen Moment nicht verhindern, länger in die tiefblauen Augen des Fremden zu schauen. Inzwischen verkündete ein Lautsprecher, dass an dieser Stelle der Zugstrecke Außenaufnahmen für eine Hollywoodverfimung gedreht worden waren.
Lisa sah in ihr Buch und Alwin in die Zeitung.
„Haben Sie nichts davon gehört?!“
“Nein“, erwiderte Alwin, nahm umständlich seine Zeitung auseinander und legte sie genauso umständlich wieder zusammen.
„Eine wunderbare Geschäftsidee, diese Serie soll mittlerweile auch in der britischen Außenhandelsbilanz aufscheinen!“, fuhr ihr Gegenüber fort.
„Was bei der britischen Außenhandelsbilanz nicht allzu schwierig ist“, brummte Alwin genervt und versuchte sich wieder in den „Guardian“ zu vertiefen.
Lisa hingegen war zu angepannt, um den Wortwechsel witzig zu finden. Unwirsch meinte sie: „Natürlich! Es gibt für Schriftsteller nichts Wichtigeres als die nationale Wettbewerbsfähigkeit ihres Landes zu steigern…“
„Aber…, nein, so habe ich das gar nicht gemeint, Miss… Sehen Sie, ich habe Wirtschaft studiert und leite jetzt eines der erfolgreichsten Mobilfunkunternehmen in Massachusetts und betrachte die Welt somit… aus etwas anderen Augen… Mac Futuroy, wenn ich mich übrigens vorstellen darf.“
Lisa sah abrupt aus dem Fenster.
Während sich der Zug wieder in Bewegung setzte, hörte sie ihren Mann langsam sagen, „Ihr Name klingt asiatisch, Sie sehen aber nicht danach aus!“
Lisa biss sich auf die Lippen, doch das bemerkte niemand.
„Ja, ich…“ Abrupt brach der jüngere Mann seinen Satz ab, um nach einer kurzen Pause leise hinzuzufügen, „das ist reiner Zufall… Ich hoffe, Sie werden eine angenehme Zeit in Schottland verbringen!“
Lisa sah von Alwin auf den Fremden, dann meinte sie äußerst liebenswürdig: „Dasselbe wünschen wir Ihnen auch!“ Eine Zeit lang blieb es im Abteil still. Lisa konzentrierte sich auf den Text ihres Buches, während Alwin immer wieder aus dem Fenster zu sehen versuchte und nichts anderes sah als den Fremden, der sich im Fensterglas spiegelte.
„Sie lesen gerne, Miss?“
„Genau, und das würde ich jetzt auch verdammt gerne tun!“, dachte Lisa. Sie wünschte sich, der Zug würde bald wieder halten und der Mitreisende aussteigen. Irritiert sah sie von ihrem Buch auf. Ihr Lächeln glich einem Hochseilkünstler, der registrierte, dass das Seil immer länger und dünner wurde, auf dem er tanzte. Der Fremde blickte zum Fenster, wo ihn Alwins Blick traf. Ein paar Minuten schwiegen alle, die Stimmung war angesapnnt, Lisa hätte am liebsten in ihr Buch gebissen.
„Wir kommen bald in Mallaig an“, sagte Alwin schließlich, bloß um irgendetwas zu sagen.
„Ja, und ich steige eine Station früher aus. Aber wenn es ihr Zeitplan zulässt, besuchen Sie mich doch einmal auf meinem Anwesen!“ Alwin hob die Augenbrauen und Lisa sah eine Spur zu schnell auf. Der Fremde genoss es sichtlich, seine Mitreisenden in Erstaunen zu versetzen und legte lächelnd seine Visitenkarte auf das Amaturenbrett des Wagonfensters.
„Ich hoffe, Sie haben sich durch meine Anwesenheit in keiner Weise belästigt gefühlt. Ich weiß, ich habe nichts mehr von der britischen Reserviertheit an mir, die man uns gemeinhin zuschreibt, dafür habe ich schon zulange in Amerika gelebt. Ich bitte Sie, meine Geste nicht als Höflichkeitsfloskel abzutun. Es würde mich wirklich freuen, Sie in meinem Haus als Gäste begrüßen zu dürfen! Wie ich heraushören konnte, darf ich Sie ja in gewissem Sinn als Landsleute betrachten. Danke für Ihre kurzweilige Präsenz, ich wünsche Ihnen noch eine angenehme Reise.“ Mit diesen Worten erhib sich der Fremde. „Ach, und, ich hätte es beinahe vergessen…“ Er öffnete seine Aktentasche und nahm ein Mobiltelefon heraus. „Zur Zeit entwickeln wir ein Gerät, das bereits 46 verschiedene audiovisionelle Zusatzfunktionen beinhaltet…! Tja, unser Mobiltelefon kann schon einiges… und noch viel mehr...!“ Beflissen legte er das Telefon neben seine Karte. „Ein kleines Werbegeschenk, sozusagen. Ich wünsche Ihnen noch alles Gute!“
Lisa versuchte abermals zu lächeln und es gelang ihr sogar etwas. Ein Hochseilkünstler erblickte das Ende der Seilstrecke. Als der Fremde die Abteiltür hinter sich geschlossen hatte, schüttelte sie den Kopf.
Alwin lachte laut auf und nahm die Karte in die Hand. „Mister Mac Futuroy, Director of ‚Mobiles Word Wide’, Frebur Elm, Massachusets, USA.“ Darunter stand eine Telefonnummer. Lächelnd steckte er die Karte ein, griff nach dem Telefon und schaltete es ein. „Na, wunderbar!“
„Alwin, bitte lass es da!“
„Wieso? So ein Handy kann man immer brauchen, sogar mit Internetzugang, nicht schlecht.“
„Du weißt doch, mir gehen diese Dinger schrecklich auf die Nerven und ich lege keinen Wert darauf, ein Andenken an diesen netten Zeitgenossen mit uns herumzutragen! Bitte!“
„Lisa, ich weiß, du bist…“
„Alwin, lass es liegen!“
„Und wenn Bruce Springsteen mit uns gefahren wäre? Hättest du es von ihm angenommen?“ Grinsend warf er das Telefon auf den Sitz gegenüber.
„Bruce Springsteen hat es nicht nötig, Mobiltelefone zu verschenken!“
Alwin lachte noch ziemlich oft an diesem Abend. Es dauerte nicht mehr lange, bis sie Mallaig erreichten, wo sie sich in einem Hotel ein Zimmer nahmen.
Noch am selben Abend fuhr der Zug nach Glasgow zurück, um am nächsten Tag pünktlich zur Generalüberholung bei Whisley und Co, zwischen Containerhallen, etwas außerhalb Glasgows, bereit zu sein. Doch es war seine letzte Fahrt. Er stand auf dem Abstellgleis, als ein Mobiltelefon klingelte. Es klingelte einmal. Es klingelte zweimal. Es klingelte dreimal…
Die Anrainer rundherum weckte eine ohrenbetäubende Detonation, dichte Rauchwolken erhoben sich über die Containerhallen.